Das Torm-Zimmer
Der Tempel der Dreifaltigkeit war von einer efeubewachsenen Mauer umgeben. Durch die schwere Doppeltür, an den Kriegerstatuen vorbei, gelangte man in einen kleinen Park mit Bäumen und Kräutern, in dem sich drei Gebäude erhoben: ein Pferdestall, eine kleine Kirche mit einem Schlafsaal für nicht vorhandenes Personal, und ein Wohngebäude, deren Zimmer unterirdisch angelegt waren. Dirim hatte sein Lager im Quartier des ehemaligen Priesters aufgeschlagen, während die übrigen Kettenbrecher die Wohnräume unter der Erde bewohnten. Thargad schlief im Ilmater-Zimmer, Helion hatte das arkane Zimmer beansprucht, Boras das Tyrzimmer und für Thamior war das Tormzimmer übrig geblieben. In Abwesenheit des Elfen – er war außerhalb der Stadt – brachte man den Gefangenen dorthin.
Das Tormzimmer war einfach, aber nicht so schmucklos wie die Ilmaterkammer. Ein massiver Obelisk aus Malachit stand im Raum, voller Schwertkerben, und dort band man den Assassinen an. Dann holte Thargad aus der Schwefelquelle nahe des Eingangs heißes Wasser und wusch ihm die Schminke vom Gesicht. Darunter verbarg sich ein junger Mann mit rotem Haar und Sommersprossen.
»Dann mal raus mit der Sprache«, sagte Helion. »Wer bist du, und warum wolltest du Thargad töten?«
»Mein Name ist Kellen, und ich bin Assassine im Dienste des Letzten Lachens. Ich frage nicht nach den Gründen für meinen Auftrag. Ich weiß nur, dass der Hofnarr mich schickte, ihn«, er deutete mit dem Kinn zu Thargad, «umzubringen.«
»Und warum schickt der Hofnarr keinen richtigen Assassinen, der weiß, was er tut?« Kellen starrte ihn nur böse an.
»Sag uns alles, was du weißt, dann lassen wir dich vielleicht gehen«, sagte Boras. »Ansonsten tuts weh.«
Kellen schüttelte den Kopf. »Ihr habt nicht den Ruf, euer Wort zu halten. Ihr tötet mich so oder so.«
»Aber die Art des Todes ist unsicher«, gab Helion zurück.
Thargad nahm den Brief hervor, der von Arlynns Verrat sprach. »Kennst du diese Schrift?«
Ein Moment des Erkennens flackerte durch Kellens Gesicht. »Vielleicht.«
»Wem gehört sie?«
»Lasst mich gehen, und ich sage es euch.«
»Sag es uns, und wir lassen dich gehen«, stieg Helion auf den Handel ein. Er nahm den Rapier, den sie Kellen abgenommen hatten, in die Hand. Wie seine Bolzen war die Klinge mit einer trägen Flüssigkeit bestrichen – eine Flüssigkeit, die Kellen in einer Phiole bei sich gehabt hatte. »Oder wir schauen mal, was dieses Gift bei dir verursacht.« Kellens Augen weiteten sich, aber er presste die Lippen fest zusammen.
»Was weißt du über Jil?«, fragte Thargad. Wieder keine Antwort.
»Also gut«, sagte Helion schließlich. Wir lassen dir etwas Zeit zu überlegen. Wenn wir wiederkommen, wirst du reden - oder sterben.«
Draußen reckte sich Helion. »Ich gehe mal hoch und rede mit Dirim. Vielleicht kann ich ihn überreden, den Kerl nicht umzubringen.«
Kaum war er fort, sahen sich Thargad und Boras an. Dann gingen sie zurück.
»Schon wieder da?«, fragte Kellen. »Ich hatte noch keine Zeit zum Nachdenken.«
»Kein Problem«, sagte Thargad. »Ich habe dir eine Denkhilfe mitgebracht.« Er nahm eine Fackel aus seiner Halterung und hielt sie dicht vor Kellens Gesicht. »Wem gehört die Handschrift?«
»Das wagst du nicht«, sagte Kellen. Thargad ging um ihn herum, auf die Rückseite des Obelisken, wo die Hände des Assassinen zusammengebunden waren. Dann presste er das brennende Ende der Fackeln auf die Handflächen. Kellen schrie, kreischte fast. Thargad nahm die Fackeln weg.
»Es ist die Handschrift des Hofnarren!«, rief er. »Velior Thazo hat den Brief geschrieben!«
Thargad schluckte kurz. Dann fragte er: »Was weißt du über Jil?«
In diesem Moment kam Helion zurück.
»Helion!«, rief Kellen. »Ilmater sei dank! Sie haben mich gefoltert!«
»Es hat gewirkt«, sagte Boras nüchtern.
»Tu die Fackel weg«, sagte Helion zu Thargad. Dieser gehorchte zögernd. Dann wandte sich Helion an Kellen. Sein Mund hatte sich zu einer düsteren Karikatur eines Lächelns verzogen. »Magisches Feuer ist so viel heißer.«
»Aber-«
»Glaub ja nicht, dass ich dich beschützen werde. Du bist ein Mörder, und auch wenn du ein unfähiger Mörder bist, wolltest du doch meinen Freund umbringen. Du verdienst keine Gnade. Wie viele hast du schon umgebracht?«
»Einen«, antwortete Kellen sofort.
»Das stimmt vielleicht sogar, unfähig wie du bist. Also beantworte unsere Fragen, und vielleicht verschone ich dich.«
»Ist das guter Wachmann, böser Wachmann?«, erkundigte Boras sich bei Thargad. »Irgendwie dachte ich, das geht anders.«
»Also«, sagte Helion. »Was war die letzte Frage?«
»Was weißt du über Jil?«, kam Thargad ihm zu Hilfe.
»Jil ist unsere beste Assassinin«, sagte Kellen schnell. »Fast so gut wie der Hofnarr selbst. Aber er kann sie nicht leiden, weil sie nicht aus Bosheit oder Gier handelt, sondern nur des Nervenkitzels wegen. Sie ist keine von uns.«
»Geht doch. Wo finden wir den Hofnarren?«
»Im sicheren Haus.«
»Wo ist das?«
»Das... kann ich euch nicht sagen. Das wäre mein Tod.«
»Soll ich dir mal was lustiges erzählen?«, fragte Boras. »Das ist es auch, wenn du die Klappe hältst. Also sing, Vögelchen.«
Kellen schluckte. »Nein. Aber ich schlage euch ein Geschäft vor.«
»Was denn nun?«
»Gebt mir die Möglichkeit, aus der Stadt raus zu kommen. Gebt mir eine Waffe, um lebend die nächste Siedlung zu erreichen. Ich verschwinde aus Tethyr.«
»Und das Letzte Lachen?«
»Ich gehörte ursprünglich ohnehin den Rotaugen an, bis das Letzte Lachen uns ausgerottet hat. Soll der Hofnarr sich doch die Krätze holen. Ich will leben.«
»Also gut«, sagte Helion. »Dann erzähl mal.«
»So nicht. Holt euren Tyrpriester. Er soll bei Tyr schwören, dass er mich laufen lässt.«
»Das schwört der nicht«, sagte Helion. Wir müssen dich sowieso an ihm vorbeischleusen.«
»Du willst auf sein Geschäft eingehen?«, fragte Thargad fassungslos.
»Warum nicht? Was nützt uns sein Tod? Nichts. Aber seine Informationen können uns helfen. Und so unfähig wie der sich angestellt hat, wird er keinen mehr umbringen, der nicht ohnehin in ein paar Tagen an Altersschwäche gestorben wäre.«
»Ohne mich.« Thargad drehte sich um und verließ das Zimmer.
»Dann ohne ihn«, sagte Helion. »Und ohne Dirim. Also, was willst du dann?«
Kellen überlegte kurz. »Holt mir einen anderen Priester, dem ich glauben kann. Helm, oder Lathander. Oder meinetwegen Azuth.«
Jenya würde den Assassinen in der Pfeife rauchen. Kristof Jurgensen würde alles ausplappern. In der Azuthkirche kannte man niemanden. »Würde es auch Terseon Skellerang tun?«, fragte Boras.
»Der Hauptmann der Stadtwache?« Kellen dachte nach. »Ich denke schon.«
»Kriegen wir ihn dazu, mitzuspielen?«, fragte Helion. Boras wusste es nicht. »Pass auf«, sagte der Magier schließlich. »Wir schaffen dich zum Nordtor, geben dir eine Waffe, und du sagst uns, was du weißt.«
Kellens Augen leuchteten. »Oder?«
»Oder wir lassen dich so frei und erzählen überall, wie sehr du uns geholfen hast.«
»Alles klar. Ich bin dabei.«
»Braver Junge.« Boras tätschelte ihm den Kopf. Danach klebten seine Finger ein wenig – Traubensaft.
-
Die Stadt war trotz der späten Stunde noch sehr lebendig. Aus den meisten Kneipen drang Musik und Gelächter, und Betrunkene wankten an Boras, Helion und Kellen vorbei auf dem Weg nach Hause oder an den Straßenrand, um sich zu übergeben. Kellen war noch gefesselt und unbewaffnet, was aber unter seinem langen Mantel nicht zu sehen war. Das Nordtor war schon geschlossen, als sie dort ankamen. Ein Wachmann kam aus seiner Stube hervor, ein zweiter blieb drin.
»Kann ich euch helfen? Oh, guten Abend! Ihr seid doch die Kettenbrecher, oder?«
»Das stimmt«, sagte Helion. »Unser Freund wollte heute noch nach Hause, hat aber die Zeit vertrödelt. Könnt ihr das Tor noch einmal öffnen?«
Der Wachmann sah Kellen an, wie er dort ohne Waffen und Gepäck stand. Wer wusste schon, was Abenteurer planten. Und die Kettenbrecher waren heute erst vom Stadtherren gelobt worden und es hieß, der Hauptmann sei mit einem dieser Kerle gut befreundet. Er entschloss sich also, nichts zu sagen, und am Besten hatte er auch gar nichts gesehen. Stattdessen ging er in das Windenhaus und betätigte den Hebel, der das Tor im Boden versinken ließ.
»Wir würden uns gerne von unserem Freund verabschieden«, sagte Helion, und der Wachmann nickte verständnisvoll und zog sich zu seinem Kollegen zurück.
»Also?«, wandte sich Helion an Kellen und durchschnitt die Fesseln. Mit schmerzverzerrtem Gesicht rieb sich der Assassine die Handgelenke, wobei ihm die verbrannten Handflächen wohl mehr Probleme bereiteten. Boras steckte ihm den Rapier in den Gürtel – von Gift gereinigt.
»Das sichere Haus ist in den Ruinen der Messingtrompete«, sagte Kellen. »Aber geht dort nur hin, wenn ihr vorbereitet seid. Oder sterbt – ist mir eigentlich egal.«
»Gute Reise«, sagte Helion, und klopfte ihm auf die Schultern.
»Ihr seht mich niemals wieder«, versprach der Attentäter. Dann ging er zum Tor hinaus, dass sich kurz danach wieder schloss. Helion und Boras wandten sich in Richtung Tempel, und der Wachmann wieder seinem Kaffee zu. Niemand hatte den Schatten gesehen, der ebenfalls die Stadt verlassen hatte.