Umweg über RedgorgeEs war erst ein paar Tage her, dass Maavu Dirim aufgesucht hatte. Dirim hatte den Händler von der Feier beim Stadtherren erkannt; Maavu hatte den Eindruck gemacht, die Parade von Eitelkeiten amüsiert und als Außenstehender zu beobachten.
»Ich habe gehört, ihr sucht nach einem Jungen?«
»Sein Name ist Pellir.«
»Was wollt ihr von ihm?«
»Ich will nur sichergehen, dass es ihm gut geht.« Dirim berichtete, wie sie die Leiche des kleinen Mädchens gefunden hatten. Maavu hörte ruhig zu.
»Ich verstehe. Was wollt ihr tun, wenn ihr den Jungen – Pellir – gefunden habt?«
»Ich werde ihn zu mir nehmen und ausbilden.«
»Und wenn er das nicht will?«
»Ich verstehe nicht.«
»Was, wenn er sein Glück woanders sucht? Wenn er es bereits gefunden hat? Wenn er zum Beispiel bei Adeligen lebt, oder von einem Händler aufgenommen wurde, der ihn nun wie einen Sohn aufzieht?«
Dirim betrachtete Maavu mit neuem Misstrauen. »Habt ihr Pellir bei euch aufge-nommen?«
Maavu lächelte. »Nein. Aber ich habe vielleicht gehört, wo er sein könnte.«
Dirim spitzte die Lippen und strich sich über den Bart. Er nahm einen Schluck selbstgebrautes Bier. Wie immer half ihm der bitter-faulige Geschmack, einen klaren Kopf zu bekommen. »Wenn ich sicher wäre, dass es ihm gut geht, wäre ich zufrieden.«
Maavu betrachtete ihn und versuchte einzuschätzen, ob er die Wahrheit gesagt hatte. Dann nickte er. »Gut. Er ist bei Minimax, dem Wirt des Roten Kumpels, untergekommen. Das ist eine Kneipe – die Kneipe in Redgorge. Es geht ihm dort gut, und er ist sicher.«
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Wir spielen mit der Hausregel, dass man bei einer Wiederbelebung nur eine negative Stufe bekommt, und keine Stufe verliert. Dirims Queste, um diese Stufe loszuwerden, war es, Pellir zu finden und ihn entweder in Sicherheit zu bringen oder zu begraben
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»Ich habe ihm geglaubt, und mir fiel ein Stein vom Herzen. Aber jetzt ist Maavu verschwunden, und angeblich verantwortlich für große Zerstörung. Ich sehe doch lieber selbst nach dem Rechten. Nicht, dass Pellir Triel entkam, nur um den nächsten Kultisten in die Hände zu fallen.«
Die Kettenbrecher hatten der Geschichte des Zwerges schweigend zugehört. Der Umweg nach Redgorge schien nun gar keiner mehr zu sein – jeder gab Dirim recht, die Gelegenheit nicht verstreichen zu lassen.
Das Erste, was man von Redgorge sah, waren die Basaltbollwerke. Surabar Zaubermeißel, der Erbauer Redgorge sowie Cauldrons (und Kingfisher Hollows) hatte diese riesigen Mauern aus dem Boden heraus beschworen und speziell verzaubert, um die Bewohner vor den angreifenden Scheusalen des nahe gelegenen Dämonenschlundes zu schützen. Im Osten der Stadt lag eine Felsklippe, gleichfalls bezaubert; außerdem lag Redgorge auf einer Halbinsel und war zu acht Zehnteln vom Schwimmsternquell umgeben, einem der Quellflüsse des Ith.
Einst hatte Redgorge beinahe zweitausend Seelen beherbergt, doch vor beinahe hundert Jahren hatte es der Glabrezu Nabthatoron endlich geschafft, eine Bresche in die Basaltbollwerke zu schlagen. Ein Teil seiner Streitkräfte war in die Stadt vorgedrungen, bevor die Mauern sich wieder schließen konnten. Die folgende Schlacht war mehr ein Schlachten gewesen. Von den Überlebenden waren die meisten nach Cauldron gezogen oder hatten ihr Glück in der verlassenen Zwergenstadt gesucht, nur um bald darauf die Reihen der dort herumstreunenden Geister zu bereichern. Jetzt lebten in Redgorge noch vielleicht dreihundert Seelen, die zu gleichen Teilen von Landwirtschaft in den umliegenden Gebieten und Minenarbeiten im Steinbruch der Stadt lebten.
Die Kettenbrecher ritten unbehelligt durch die verlassenen Straßen. Inmitten von ruinösen Gebäuden sah man in unregelmäßigen Abständen offenbar bewohnte Häuser; die meisten Bewohner konzentrierten sich im Zentrum. Dort stand auch der Rote Kumpel, dessen Schild einen rußgeschwärzten Minenarbeiter mit flammend rotem Haar, ebensolchen Backen und Nase und einem Humpen in der Hand zeigte.
Das Innere des Kumpels entpuppte sich als geräumiger Schankraum mit gemütlichen Tischen. Der Raum war warm und hell. Gegenüber dem Eingang war eine kleine Bühne, auf der ein Halbelf Laute spielte. An einer Seite war eine lange Theke, dahinter ein großer Mann, dessen rote Haare in einen Pferdeschweif gebunden waren. Der Theke gegenüber gab es einen abgetrennten Bereich, in dem Waffen und andere Ausrüstungsgegenstände feilgeboten wurden.
»Willkommen, Reisende!«, rief der Wirt. »Ich bin Minimax, und ihr seid nicht mehr lange hungrig! He, Junge«, rief er in Richtung Küche, »wir haben Gäste!«
Während die Kettenbrecher sich einen Tisch suchten, öffnete sich die Tür zur Küche und ein Junge von knapp zehn Jahren kam heraus. Er war sauber und ebenso gekleidet, deshalb erkannte Dirim ihn erst, als dieser hinter der Theke verharrte und mit großen Augen zu ihnen herüber starrte.
»Was ist denn, Junge!«, rief Minimax. Dann sah er zu Pellir herüber, und wieder zu den Kettenbrechern zurück. Der Halbelf spielte weiter auf der Laute, beobachtete das Geschehen aber sehr aufmerksam. Minimax ging an dem Jungen vorbei und trat an ihren Tisch. »Was wollt ihr?«
»Ich wollte nach Pellir sehen«, sagte Dirim.
»Jetzt habt ihr ihn gesehen. Und nun?«
»Ich will mit ihm sprechen.«
Minimax musterte die Kettenbrecher genau. Schließlich deutete er auf Dirims heiliges Symbol. »Pellir hat mir von euch erzählt. Wenn er mit euch reden will, bitte. Aber ihr nehmt ihn nicht gegen seinen Willen mit. Dafür sorge ich.«
»Das verstehe ich.«
Minimax ging zurück zur Theke und kniete vor Pellir nieder, musste aber immer noch auf ihn herunterschauen. »Er will nur reden. Keine Angst, ich passe auf dich auf. Wenn du nicht willst, ist es auch in Ordnung.« Pellir schüttelte den Kopf.
»Ist schon gut.« Er kam zu ihnen an den Tisch. »Hallo.«
»Hallo, Pellir«, sagte Helion.
Thargad schwieg ihn mürrisch an.
»Alles klar?«, fragte Boras bemüht freundlich. Es klang aber eher wie eine Drohung: Wehe nicht!
Thamior hob kurz die linke Augenbraue.
»Wie geht es dir?«, erkundigte sich Dirim.
Pellir war etwas verwirrt, da die obigen Begrüßungen allesamt gleichzeitig stattgefunden hatten, dann lächelte er unsicher. »Ganz gut, Herr.« Nach kurzem Zögern fügte er hinzu: »Ich habe fleißig gebetet«, obwohl das augenscheinlich gelogen war.
Dirim lächelte, während der Rest der Kettenbrecher mühsam ein Grinsen unter-drückten - außer Thargad, der immer noch unbewegt blieb. »Ist schon gut. Darum bin ich nicht hier. Wirklich nicht«, bekräftigte er in Richtung Helion, der gerade Gegenteiliges behaupten wollte. »Wir haben Tamara gefunden.«
Pellir schrak zurück, dann sah er zu Boden. »Die Frau hat sie gestoßen«, sagte er. »Dann bin ich weggelaufen.«
»Das hast du gut gemacht.«
»Und dann hat mich ein Mann gefunden, wie ich auf der Straße war, und mich zum Minimax gebracht.«
»Gefällt es dir hier?«
»Mh-hm«, machte Pellir und nickte.
Dirim runzelte die Brauen. »Können wir irgendwo alleine reden?«
»Wir könnten auf mein Zimmer gehen«, sagte Pellir. Plötzlich hellte sich seine Miene auf. «Ich habe nämlich ein eigenes Zimmer, ganz für mich selbst alleine!«
»Zeigst du es mir?«
Pellir stand auf und zog Dirim an der Hand. »Komm!« Die Beiden verschwanden über die Treppe neben der Bühne – nicht ohne einen warnenden Blick Minimaxens in Richtung Dirim. Dann kam der Wirt an den Tisch der restlichen Kettenbrecher.
»Das dauert, schätze ich. Was zu trinken? Geht aufs Haus.«
Boras wollte Bier, Helion Wein, Thamior und Thargad Wasser.
»Wasser? Wollt ihr trinken oder baden? So erlesene Getränke habe ich nicht. A-ber vielleicht habt ihr Glück, und es regnet gerade.«
Thamior und Thargad verzichteten beide eher schroff auf andere Getränke. Kopfschüttelnd zog Minimax von dannen. »Haben doch mehr von denen aus Kingfisher Hollow als ich dachte«, murmelte er.
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Nach einem längeren Gespräch hatte sich Dirim überzeugt, dass es Pellir gut ging. Bevor sie auseinander gingen, schärfte er ihm noch ein, dass er sich mit allen Sorgen an den Zwerg wenden könne – wenn er Hilfe bräuchte, müsse er nur schreiben.
»Du kannst doch schreiben?«
Pellir nickte.
»Gut. Sag mal«, fragte er dann, einer Eingebung folgend, »kennst du Maavu?«
»Der ist ein Händler. Maavu ist nett.«
»War Maavu vor kurzem hier?«
»Minimax sagt, ich darf nicht drüber sprechen.«
»Ach so. Verstehe.«
Beim Hinausgehen stellte er Minimax dieselbe Frage.
»Maavu? Der ist öfter hier. Ist ein guter Freund von mir.«
»Wisst ihr, wo er sich aufhält?«
»Nee, keine Ahnung. Der war zuletzt kurz nach dem Flutfest hier. Wieso?«
»Nur so.«
Es war bereits dunkel geworden, aber auf Minimax’ Rat hin suchten die Kettenbrecher sich einfach ein leer stehendes Haus, um darin zu übernachten.
»Die wissen, wo Maavu ist«, sagte Dirim.
»Glaube ich auch«, stimmte Helion zu.
»Wir könnten uns noch mal mit ihm ›unterhalten‹«, schlug Boras vor.
»Reden wir zuerst mit den Leuten«, sagte Helion. »Minimax ist eine harte Nuss.«
»Und er passt auf Pellir auf«, fügte Dirim hinzu.
»Ich kann ja mal nach Spuren suchen«, schlug Thamior vor. »Ein Pferd mit Flammenhufen sollte auffällig sein.«
»Wie viel Zeit wollen wir darauf verwenden, Maavu zu finden?«, fragte Helion.
»Nicht zu lange«, sagte Dirim. »Den Vormittag vielleicht, dann sehen wir weiter. Wenn es geht, sollten wir morgen nach Cauldron zurück, und das dauert mindestens einen halben Tag.«
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Am nächsten Morgen suchte Thamior nach Spuren, konnte aber nur viele ver-schiedene Hufabdrücke ausmachen, die allesamt wenig feurig den Weg entlang geritten waren. Ebenso erfolglos waren Helion und Dirim dabei, die Bevölkerung auszuhorchen – Thargad hielt sich immer noch geschlossen. Es lag wohl auch an ihrem eher rauen Charme, aber alle Anwohner verwiesen früher oder später auf Minimax und den Roten Kumpel, wenn man Gerüchte hören wollte. Schließlich verabschiedeten sich Dirim und die Anderen von Pellir und ritten zurück nach Cauldron, ohne ihr Gefühl, Maavu nahe gekommen zu sein, abschütteln zu können.
Es war später Nachmittag, als sie endlich wieder in den Tempel zurückkamen. Kilian, den Dirim als ›Hausmeister‹ angestellt hatte, führte die Pferde in den Stall. Sie waren kaum zur Ruhe gekommen, als Kilian schon Besuch ankündigte. Die Kettenbrecher saßen unten im Versammlungsraum, als Celeste hereinkam, die Wangen gerötet und in einem reizenden Kontrast zu ihrem dunkelgrünen Kleid. Jedem der Kettenbrecher ging gleichzeitig durch den Kopf, dass sie zornig noch reizvoller war – allerdings auch gereizter.
»Was erlaubt ihr Euch eigentlich?«, platzte sie gleich heraus.
»Wie bitte?«, fragte Helion, aber Celeste hörte nicht.
»Da verschaffe ich Euch einen Auftrag, und ihr kommt nicht zum Treffen.«
»Der Kerl an der Tür hat uns nicht reingelassen.«
»Und aus gutem Grund, wie er mir sagte. Ich hatte euch gebeten, euch entspre-chend zu kleiden.« Celeste machte eine Bewegung, als würde sie eine Fliege verscheuchen. Es war eine herzerwärmende Geste. »Wie dem auch sei. Jedenfalls versichere ich dem Auftraggeber, dass es sich um ein Versehen handelt und ihr sicher erscheinen werdet. Und was macht ihr? Verschwindet aus der Stadt!«
»Wir hatten guten Grund«, sagte Thamior. Celeste sah ihn an, dann blies sie mit spitzen Lippen eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht und erhöhte die Zimmertemperatur schlagartig um ein paar Grad.
»Sehr tröstlich. Ich habe also die letzten Tage damit verbracht, dem Auftragge-ber Honig ums Maul zu schmieren. Er wollte gleich zu Beginn die Sturmklingen beauftragen, aber nein! Ich habe mich für euch eingesetzt. Ich sage euch, Engelszungen hätten ihn nicht überzeugen können, auf euch zu warten, aber ich habe zwei Tage herausgeholt. Also, was ist? Kommt ihr heute abend, oder soll ich den Auftrag an die Sturmklingen geben?«
»Warum setzt ihr euch für uns ein?«, fragte Helion.
»Sagen wir, ich mag euch, und die Sturmklingen nicht so sehr.«
»Wir brauchen Schmuck, um vorgelassen zu werden«, sagte Dirim.
»Ich kenne einen guten Juwelier.«
»Und wenn wir keinen Schmuck kaufen wollen?«, fragte Thargad und beteiligte sich zum ersten Mal seit Tagen wieder an einem Gespräch. »Leiht ihr uns welhen?«
»So wichtig seid ihr mir auch nicht. Ihr müsst schon etwas investieren.« Celeste legte die Stirn in überaus süße Falten. »Es sei denn... ich wäre bereit, einen Teil der sechstausend Goldmünzen für eure Silberaxt in Juwelen zu bezahlen. Bringt die Axt mit, und ich statte euch aus.«
Boras schüttelte nur den Kopf.
»Nun, es ist eure Sache. Bis heute abend, hoffe ich.« Sie machte kehrt und schritt aus dem Raum. Boras lies einen bewundernden Pfiff ertönen, und die anderen Kettenbrecher nickten in stiller Zustimmung.
Helion zog die Truhe heran, in dem sich die Schätze befanden, die sie bislang erbeutet hatten. Mit Boras Hilfe kippte er ihren Inhalt auf den großen Tisch.
»Also«, sagte er, während er den Haufen aus Münzen und Edelsteinen ausbreitete, »das wäre doch gelacht, wenn wir nicht etwas Schmuck finden würden.«