Der Aufstand von Cauldron
Der große Festplatz füllte sich schon früh. Die Kettenbrecher verteilten sich und suchten sich jeweils einen Ort am Rande des Platzes, nur Dirim gesellte sich unter die Menge. Boras stand außen vor, Pecarri kroch in ein leeres Fass, und Thargad kletterte auf ein Dach. Der Festplatz war in etwa kreisförmig; an einem Rand lag das Stadthaus mit seinem großen Balkon, in der Mitte des Platzes erhob sich die große Statue von Surabar Zaubermeißel, dem Gründer Cauldrons.
Neben den Schaulistigen und Interessierten fanden sich auch einige Händler ein, die heiße oder kalte Ware anboten. Boras kaufte sich eine Wurst am Stock, lehnte aber bei Selams Kuchen dankend ab - Pfannkuchen mit Innereien waren einfach nicht sein Geschmack. Die Kettenbrecher hielten aber auch Ausschau nach etwaigen Verbündeten.
Boras war noch morgens an der Garnison gewesen und hatte einen gereizten Torwächter dazu gebracht, Terseon Skellerang zu rufen. Dieser war halb gerüstet erschienen, zwei Leibdiener im Schlepptau. Boras berichtete, was Helion gesehen hatte, und ließ auch nicht aus, dass zwei Torwachen die Flucht der Plakatierer ermöglicht hatten. Schließlich warnte er noch davor, dass jemand etwas gegen die Söldner unternehmen könnte.
»Danke«, hatte Terseon gesagt. »Ich werde mich darum kümmern.« Dann war er gegangen. Der Torwächter hatte Boras noch eine Drohung hinterhergerufen, aber ein Blick des Barbaren brachte ihn zum Verstummen.
Thargad hingegen war im Helmtempel gewesen und hatte Jenya gewarnt. Es bestand immerhin die Möglichkeit, dass die Kundgebung nur ein Täuschungsmanöver war und der Tempel das wahre Ziel. Jenya stimmte ihm zu und versprach, sich abzusichern.
»Dann kann ich allerdings nur ein paar Helfer zum Festplatz schicken«, schloss sie. »Das ist dann euer Revier.«
Dirim hingegen hatte Beregard und seinen Leuten vorgeschlagen, den Rest der Stadt im Auge zu behalten, und der heilige Krieger hatte zugestimmt. So kam es, dass außer der MGA, die ein kleines Kontingent auf dem Balkon stationierten, und ein paar gemischtrassigen Wachtrupps, die vor allem das Stadthaus schützten, nur die Kettenbrecher am Festplatz waren, als Maavu schließlich erschien. Auch die Sturmklingen waren nirgends zu sehen.
Der Platz war überfüllt; es herrschte ein großes Gedränge und eine ebenso große Unruhe. Diejenigen, die nahe am Stadthaus und der Statue standen, waren schon früh eingetroffen und besonders ungeduldig, kamen jetzt aber nicht mehr so einfach wieder raus. Wer musste, kam vielleicht noch in eine nahe Seitengasse, aber mindestens eine Rangelei entstand, weil jemand den Weg nicht mehr aushielt. Auch auf den Dächern fanden sich mehrere Schaulustige, vor allem Kinder ein. Und dann, als die Unruhe drohte, in Unzufriedenheit umzuschlagen, wehte eine Staubwolke über den Platz. Die Menschen wichen ihr aus, Murmeln und Raunen folgten im Schlepptau der Wolke, und dann gespannte Stille. Die Wolke wehte bis in die Mitte des Platzes und dann an der Statue hinauf. Erst dort, teilweise auf Schultern und Armen stehend, verfestigte sie sich in die Gestalt des Händlers Maavu: ein braun gebrannter Mann mit weißem, sauber gestutztem Bart. Es wurde laut, aber als er die Hand hob, sogleich wieder leise - sogar noch leiser als vorher. Alle warteten, was jetzt geschehen würde.
»Bürger Cauldrons!«, begann Maavu, und seine Stimme hallte über den Platz. In den hinteren Reihen nahmen Hellhörige das Gesagte auf und gaben es weiter, bis auch der Letzte gehört hatte, was gesprochen ward. »Man presst Euch aus!« Zustimmender Applaus. »Nein, nicht irgendwer - der Stadtherr presst euch aus! Von heute an wurden die Steuern wieder erhöht. Sie wurden verdoppelt! Und wofür?«
»Für die verdammten Halborks«, rief einer.
»Für die Bengels des Stadtherren«, jemand anderes.
»Die verdammten Adeligen!«, ein Dritter. Aber immer wieder der Fluch auf die Söldner. Die halborkischen Stadtwachen am Platz sahen sich unsicher um. Dann begannen sie, sich unauffällig zurück zu ziehen. Maavu hob erneut die Hand.
»Diese Stadt ist der Korruption verfallen!« Applaus und Beifallsrufe. »Wisst ihr, wie verkommen die Führung der Stadt bereits ist?«
»Sags uns!«, rief jemand, gefolgt von »Schnauze, Dummkopf!« aus einer anderen Kehle.
»Das werde ich«, ging Maavu auf die Unterbrechung ein. »Laut der Gesetze Cauldrons kann ein Mitglied der fünf ehrbarsten Adelsfamilien der Stadt jederzeit den Kommandanten der Stadtwache zu einem Duell fordern, um seinen Posten einzunehmen. Der tapfere und ehrliche Alek Tercival – viele von euch kennen ihn – hat vor einem Monat bereits Terseon Skellerang herausgefordert. Und was ist passiert? Nichts! Man hat nicht einmal die Herausforderung öffentlich gemacht, wie es eigentlich Gesetz ist.«
Eine große Unruhe breitete sich aus. Viele Stimmen äußerten ihren Unmut. Die Kettenbrecher spannten ihre Nerven an - hier würde gleich etwas passieren, das lag einfach in der Luft.
»Wo ist Alek?«, rief jemand. »Warum ist er nicht hier?«
Maavu schwieg für einen Moment. Dann sagte er: »Er ist verschwunden.«
Jetzt rief mehr als eine Stimme nach Vergeltung, und fast jeder machte Severen Nalavant und Terseon Skellerang zum Ziel seines Zorns. Und dann machte die Stadtwache einen großen Fehler. Die Türen zum Stadthaus öffneten sich, und heraus kamen fünf Halborks, angeführt von dem Sergeanten Skylar Krewis. Dieser zeigte mit seinem Schwert auf die Statue:
»Maavu, im Namen Cauldrons seid ihr verhaftet!« Dann bahnte er sich einen Weg durch die Massen. Die Halborks umringten ihn. Plötzlich sprang ein Junge vor, die Hand erhoben, in der ein Messer steckte.
»Tod den Halborkschweinen!«, schrie der Junge und stieß einer Wache das Messer in die Brust.
Und dann brach die Hölle aus.
-
Der Halbork ging gurgelnd zu Boden. In einem seltenen Akt der Telepathie hatten Skylar Krewis, Maavu, Pecarri, Dirim, Boras und Thargad alle den selben Gedanken, und sie alle sprachen ihn aus:
»Scheiße!«
Um die Wachen herum griffen die Menschen nach allem, was ihnen nahe stand. Plötzlich hielten sie Knüppel, Stöcke, Pflastersteine in der Hand. Der ein oder andere hatte sogar eine Waffe mitgebracht.
»Kein Angriff!«, rief Skylar Krewis. Es war nicht klar, ob seine Männer ihn hören konnten. Oder auf ihn hören würden.
Thargad überlegte kurz, dann begann er, über die Dächer zu laufen. So war er schneller als durch die Menge. Pecarri wollte Überblick gewinnen und schwebte ebenfalls auf ein nahes Dach - die Umstehenden achteten nicht auf ihn. Boras reckte seinen Hals, dann brüllte er.
»Aus dem Weg, Mensch! Macht Platz!« Um ihn herum wichen Leute aus, wurden aber gleich wieder zurück geschubst. Er war zu weit weg, um etwas zu tun.
Dirim riss sein heiliges Symbol hervor. Jemand rempelte ihn an, und er ließ es beinahe fallen. »Tyr, kühle ihre Gemüter«, bat er und konzentrierte sich auf die Menge um die Stadtwachen. Sogleich ließen einige ihre Waffen sinken. Dann wurden sie von hinten Stehenden gepackt und zurück gezogen. Andere Hitzköpfe nahmen ihren Platz ein.
Thargad war so nahe gekommen, wie über die Dächer möglich, als die zweite Welle gegen die Wachen prallte. Die Halborks versuchten, sich zu schützen - mehr als ein Gesicht wurde von einer gepanzerten Faust blutig geschlagen - aber sie standen auf verlorenen Posten. Skylar Krewis fischte eine Phiole aus dem Gürtel und - kurzzeitig geschützt von Dirims Zauber - trank sie, ohne dass sich eine Wirkung einstellte. Boras brüllte wieder, und wieder kam er ein paar Schritte vorwärts. Kleine Menschengruppen lösten sich von der Menge und zogen in die Straßen hinaus, um ›ein paar Schweinenasen dieselben einzuschlagen‹. Die MGA sahen sich hilflos an und zogen sich zurück. Dirim begann ebenfalls, sich durch die Menge zu schlagen. Thargad sprang vom Dach.
Am Stadthaus ging die Tür zum Balkon auf, und ein Wirbelwind kam heraus geflogen, schoss auf Maavu zu und blieb direkt vor ihm stehen. Dann zerfaserte der Wind und enthüllte die Gestalt eines blauhäutigen Humanoiden mit zwei windumwogten Krummsäbeln. Die Figur schlug nach Maavu, der gerade noch ausweichen konnte. Die Menge prügelte weiter auf die Halborks ein; mehr als einer war inzwischen zu Boden gegangen. Thargad quetschte sich an Menschen vorbei und hoffte, immer noch in die richtige Richtung zu gehen. Skylar Krewis schlug schützend die Hände über den Kopf, und Schläge prasselten auf ihn ein. Boras war kurz davor, die Menge um ihn herum mit seiner Axt zu teilen. Maavu nahm eine Phiole in die Hand und entkorkte sie. Pecarri identifizierte den Humanoiden als einen “Windfürsten”, ein auf der Luftebene lebendes Geschöpf, wahrscheinlich beschworen. Der Windfürst schlug Maavu den Trank aus der Hand, bevor der ihn trinken konnte. Ein grüner Strahl traf ihn und wurde zu einem grünen Leuchten, als Pecarris Zauber ihn traf und jegliche magische Fluchtmöglichkeit zunichte machte. Dirim hielt inne, um sich zwischen Maavu und Skylar Krewis zu entscheiden. Der Sergeant stolperte zwei Schritte auf das Stadthaus zu.
»Dispensat!«
Pecarris Zauber zerrte an den Fasern, die den Windfürsten gerufen hatte, aber bannten ihn nicht. Maavu wich zurück, balancierte jetzt auf dem Arm der Statue, zehn Schritt über dem Boden. Skylar Krewis war wieder etwas näher am Stadthaus, als ihn jemand packte und zu Boden reißen wollte. Thargad sah nur Rücken vor sich. Wo waren die Wachen? Der letzte Halbork ging zu Boden, und gleich waren mehrere Menschen über ihm und stampften und schlugen. Boras stieß die Leute wild aus dem Weg. Der Windfürst folgte Maavu. Dirim nahm sein heiliges Symbol und konzentrierte sich.
»Tyr, lasse deine Macht wie einen Adler hernieder kommen!«
»Dispensat!«
Wieder konnte Pecarri den Zauber nicht bannen. Verzweifelt nahm er eine Schriftrolle aus seinem Rucksack. Einen Versuch hatte er noch. Skylar Krewis hielt sich kaum noch auf den Beinen, aber immer noch versuchte er, zum Stadthaus zu kommen. Boras schlug einen Mann nieder, der nach seiner Axt gegriffen hatte. Jetzt hatte er etwas Platz. Maavu sah sich hilfesuchend um und bemerkte den Beschwörungskreis, der in der Luft hing. Er wandte sich dem Windfürsten zu und spannte seine Muskeln. Pecarri rollte die Schriftrolle auseinander. Thargad schob sich zwischen zwei Männern durch und stand plötzlich neben Skylar Krewis. Der Windfürst hob beide Schwerter und ließ sie niedersausen. Maavu sprang nach hinten. Dirim brach der Schweiß aus, als er den Zauber verschob. In der Luft über Maavu erschien ein Riesenadler. Gerade, als der Händler zu fallen begann, packte das Geschöpf zu. Der Adler flog über den Platz in Richtung des Daches, auf dem Pecarri gerade stand. Boras blieb stehen, dann fluchte er und änderte die Richtung. Der Windfürst nahm Wirbelwindgestalt an und flog hinter dem Adler her. Dirim erkannte, dass der Windfürst schneller war. Thargad stellte sich zwischen Skylar Krewis und die Massen. Skylar Krewis stolperte zur Tür des Stadthauses und quetschte sich hinein. Nun stand Thargad vor der Tür, hinter ihm die aufgebrachte Menge. Der Adler flog direkt über Pecarri, als der Windfürst ihn einholte.
»Dispensat, du verdammtes Vieh!«
Wieder nichts. Thargad fummelte mit seinen Dietrichen und versuchte, die Tür des Stadthauses abzusperren. Er hörte, wie sich hinter der Türe Wachen formierten, und in seinem Rücken die Bürger dasselbe taten. Dirim lenkte den Adler wieder zurück in die Mitte des Platzes und ließ Maavu direkt bei ihm fallen. Boras fluchte und änderte die Richtung erneut. Der Windfürst folgte dem Adler und nahm noch in der Landung Gestalt an. Thargads Dietriche verrutschten schon wieder. Hinter der Tür gab der Kommandant den Befehl, den Platz zu stürmen. Thargad wandte sich zur Menge um.
»Rennen wir diese Scheißtür einfach ein!« Die Massen johlten und rammten vor die Tür, während von innen die Wachen versuchten, sie aufzustoßen. Es war ein Patt. Pecarri hatte genug von Bannzaubern. Er schoss vier magische Geschosse über den Platz, die silberweißen Kugeln gleich gegen den Windfürsten prallten. Dirim drängte sich zwischen Maavu und den Windfürsten. Die Menge um sie herum ergriff die Flucht, und Boras richtete einen kurzen Dank an Uthgar, dass er endlich voran kam. Im Laufen zog er die Axt. Thargad schob sich die Wand neben der Türe hoch und kletterte auf den Balkon des Stadthauses. Unter ihm flog die Türe auf, und die vordersten Bürger gingen zu Boden. Aus dem Inneren sah man Waffen und gerüstete Wachen drängen. Der Windfürst formte seine Hände zu einem Trichter; es knisterte, und dann schoss ein Blitzstrahl daraus hervor und trieb Dirim und Maavu die Tränen in die Augen und die Haare zum Himmel. Thargad konzentrierte sich auf Severen Nalavant und flüsterte arkanen Singsang, bis sich seine Gestalt der des Stadtherren anpasste. Dann trat er an das Balkongeländer.
»Hört sofort auf euch zu schlagen!«, rief er mit verstellter Stimme. »Ihr macht euch doch nur schmutzig!«
Die Wachen hielten inne. Die Bürger sahen verdutzt nach oben. Für einen Moment kam das Gefecht am Stadthaus zur Ruhe. Anderswo prallten wieder magische Geschosse gegen den Windfürsten, und Maavu beugte sich zu Dirim vor.
»Danke für die Hilfe. Ich bin unschuldig. Trefft mich in den nächsten zwei Tagen im Roten Kumpel in Redgorge.« Dann versuchte er, sich unter die Menge zu mischen, grün leuchtend wie er war. Der Windfürst feuerte einen weiteren Blitzstrahl ab. Dirim sah Maavu nach, dann zog er sein Schwert und stellte sich dem Windfürsten. Endlich war Boras heran und stellte sich hinter den Gegner.
»Hört gefälligst darauf, was ich sage!«, rief Thargad/Severen Nalavant. »Zieht euch zurück!«
»Das ist der Stadtherr!«, riefen einige Bürger und begannen, Thargad mit Steinen zu bewerfen.
»Hilfe!«, rief Thargad.»Flieht!«
»Was machen wir, Kommandant?«, fragte eine Wache.
»Seid ihr Feiglinge?«, bellte der zurück. »Wollt ihr auf Lord Röckchen hören? Raus mit euch!«
Der Windfürst schlug nach Dirim. Ein Schwert prallte auf Dirims Schild, das andere ging knapp fehl. Dirim schwitzte inzwischen stark. Boras drang auf den Windfürsten ein und machte dem seinerseits zu schaffen. Die Stadtwachen drangen mit erhobenen Waffen auf den Festplatz. Thargad sprang vom Balkon und ließ an seinem Landeplatz einen Rauchstab hochgehen, in dessen Schutz er den Zauber beendete. Die Wachen und Bürger prügelten aufeinander ein. Pecarri wandte sich vom Kampf gegen den Windfürsten ab.
»Arachnidia!« Aus dem Boden und den Wänden schossen klebrige Fäden, die Stadtwachen und Bürger in einem Netz fesselten. Thargad wich den Fäden knapp aus und machte sich davon. Der Windfürst sah Maavu entschwinden und trat an Dirim vorbei, doch dieser nutzte die Unaufmerksamkeit, um ihn zu Fall zu bringen, und Boras tat den Rest.
Für einen Moment hielten die Kettenbrecher inne. Der Festplatz hatte sich geleert; nahe der Statue verschwand gerade die beschworene Gestalt des Windfürsten, am Stadthaus klebten einige gerade noch Kämpfende in Pecarris Netz, vielerorts lagen Verwundete. Dort, wo die Halborks gefallen waren, lagen kaum zu entziffernde Fleischhaufen. Überall in der Stadt hörte man die Geräusche von splitterndem Glas, Schreien, und den schweren Schritten der Stadtwache, die jetzt in voller Stärke ausrückte. Maavu war weg.
Dirim blies sich eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht. »Wars das?«, fragte er keuchend, obschon er selbst ahnte, dass der Tag gerade erst begonnen hatte.