Auf dem Gesicht des alten Mannes breitete sich ein Lächeln aus, als er bemerkte, dass die Greifenbrut erwachte.
„Macht langsam, ihr seid noch benommen und schwach von den Nachwirkungen.“, sprach er sie mit einer volltönenden Stimm an, in welcher ein starker südlicher Akzent mitschwang.
Evendur und Galmor sahen sehr blass und mitgenommen aus. Alexander versuchte sofort aufzustehen und sein Blick suchte panisch nach seinem Schwert. Doch Schwindel übermannte ihn und der große Barbar fiel kraftlos auf sein Lager zurück.
Lily beobachtete alles in Ruhe und versuchte sich einen Reim auf die Szenerie zu machen.
Mitfühlend ging der alte Mann, welcher in fremdländische, martialische Gewänder gekleidet war, zu Alexander herüber. „Ich sagte doch, mach langsam. Die Übelkeit und den Schwindel sollte auch ein starker Mann wie Ihr es seid, Sir Alexander, nicht unterschätzen.“
Ungläubig und unfähig sich zu äußern, starrte der Barbar den Mann, der in seiner rechten Hand einen großen Diamanten trug und auf dessen Rücken ein prächtiges Schwert geschnürt war, mit rollenden Augen und wildem Blick misstrauisch an.
Garon ergriff schließlich das Wort: „Wer seid Ihr, der uns offenbar namentlich kennt und der einen magischen Diamanten besitzt wie ihn vor uns nur unsere Eltern besaßen?“
„Ich bin Sir Kavalorn Sagremor D´Lyrandar.“
„Müssten wir Euch kennen?“, fragte Evendur mit matter Stimme.
„Nein.“, erwiderte Sir Sagremor knapp.
„Ihr seid recht einsilbig, alter Mann.“, stellte Alexander fest.
„Dem stimme ich zu“, sagte Lily, „es wäre höflich ein wenig Licht ins Dunkel unserer verwirrten Gedanken zu bringen. Ich denke, ich bin nicht die einzige hier, die eine Menge Fragen auf der Zunge hat.“
Der Rest der Greifenbrut nickte.
„Meinen Namen kennt Ihr nun, so will ich euch nun erzählen, wer ich bin und was ich hier tue.“, begann Sir Sagremor geheimnisvoll, „Ich war – oder bin – ein Freund eurer Eltern. Wir lernten uns im Jahre 1349 Thalisischer Zeitrechnung in Mulhoran, meinem Heimatland, kennen. Heute bin ich hier, um euch ein Geschenk von euren Eltern zu überbringen. Leider wart ihr, als ich vor zwei Tagen hier ankam, in einem Fäulnistraum gefangen, welchen ich glücklicherweise mit diesem Diamanten und den mir durch meinen Berufsstand anerkannten Fähigkeiten, zu bannen vermochte. Ich hoffte und bangte zwei volle Tage und zwei Nächte, dass es mir gelingen möge, euch rechtzeitig zu erwecken.“
„Moment, macht langsam, Sir Sagremor!“, unterbrach Evendur die Ausführungen des alten Mannes, „Fäulnistraum? Im Traum gefangen seit zwei Tagen und zwei Nächten? Was redet Ihr, Mann?“
Kavalorn Sagremor D´Lyrandar seufzte: „Es ist ein wenig kompliziert. Je geduldiger ihr zuhört, desto schneller werdet ihr die Zusammenhänge verstehen.“
„Scheiß auf die Geduld!“, donnerte Alexander, „Wo ist Graf Strahd? Wo ist das Haus auf dem Greifenhügel? Was macht Lily auf einmal hier? Wo ist Brocdar hin? Und was zum Abyss ist ein verdammter Fäulnistraum?“
Ärgerlich blickte Garon den Barbaren an: „Lass ihn sprechen, Alexander! Deine Fragen stellen wir uns auch, aber es bringt nichts, wenn alle durcheinander reden.“
„Wir reden doch gar nicht durcheinander“, entgegnete Alexander trotzig, „Durcheinander ist ja wohl, wenn alle gleichzeitig reden, oder?“
Als Erwiderung verdrehte Garon lediglich die Augen.
Sir Kavalorn Sagremor wartete diszipliniert, bis die beiden jungen Männer ihren Disput beigelegt hatten, ehe er fortfuhr: „Brocdar Ruhnhain ist zu Hause und ich bezweifele, dass er euch kennt. Es wundert mich, dass ihr ihn kennt. Lily war die ganze Zeit hier, daher vermag ich nicht zu beantworten, was sie auf einmal – um mit Eurem worten Sir Alexander zu sprechen – hier macht.“
Hilfesuchend und mit wildem Blick starrte Alexander seine Freundin Lily an, doch die wehrte nur knapp ab und gab ihm mit einer raschen Handbewegung zu verstehen, dass sie jetzt lieber dem alten Mann zuhören wollte. Wut stieg in dem Barbaren auf, aber er versuchte, sich zusammenzureißen.
Sir Alexander hörte sich nicht schlecht an, dachte er bei sich und lächelte gefällig in sich hinein.
„Wo liegt eigentlich dieses Mulhoran?“, wollte Evendur wissen.
„Darüber können wir zu späterer Stunde sprechen. Ich erzähle euch gern mehr über mein fernes Heimatland, doch nun liegen dringlichere Themen vor uns.“, entgegnete der Inquisitor.
„Fahrt fort mit Eurer Erzählung, Sir Sagremor“, forderte ihn Lily auf.
„Wie ich bereits erwähnte, kannte oder kenne ich eure Eltern. Wir waren sozusagen Geschäftspartner. Die Greifen der Dämmerung, allen voran Eure hinreißende Mutter“, sagte D´Lyrandar mit einem Blick zu Lily, „beauftragte meine Familie mit dem Bau eines Schiffes.“
„Ein Schiff?“, warf Evendur skeptisch ein.
„Kein normales Schiff, Sir Taurendil, sondern ein Luftschiff.“ , erklärte Kavalorn der verblüfften Greifenbrut.
Die Überraschung stand allen fünfen allzu offensichtlich ins Gesicht geschrieben, so dass der ansonsten eher ernsthafte Inquisitor sich eines Schmunzelns nicht erwehren konnte.
Garon fasste sich als erster wieder: „Was sollen wir mit einem Luftschiff? Und warum kommen Sie erst heute zu uns? Was wissen Sie über den Verbleib unserer Eltern?“
Lily stieß dem Magister ihren linken Ellenbogen unsanft in die Seite und unterbrach auf diese Weise seinen Redeschwall. „Nun lass ihn doch einfach erzählen!“, fuhr sie den Magier an, der ihr einen ärgerlichen Blick zuwarf. Lächelnd wandte sie sich Sir Sagremor zu und bedeutete ihm weiter zu erzählen, was selbiger dann auch dankbar tat.
„Meine Familie, deren einziger Überlebender ich inzwischen bin, begann mit dem Bau des Schiffes. Doch kurz darauf verschwanden eure Eltern. Das Schiff stellten wir trotzdem fertig und ich bin seitdem der Hüter dieses einzigartigen Bauwerks. Mein Schicksal ist es, euch das Schiff zu übergeben und es für euch zu führen. Denn wisset, dass nur die Familie D´Lyrandar dies kann.“
„Warum das denn?“, unterbrach Alexander den alten Mann unwirsch, „Was ist so besonders daran, ein Schiff zu fahren?“
„Die Golden Dragon ist kein gewöhnliches Schiff, Sir Alexander!“, entgegnete Kavalorn energisch, „Sie wurde aus Drachenknochen gefertigt und ihr Herzstück ist ein unterworfener Feuerelementar, den eure Eltern einst besiegten, jedoch vom Tode verschonten. Wir Mulhorani sind die Herren des Feuers und daher in der Lage, den Feuerelementar zu kontrollieren und dienstbar zu machen.“
Abermals starrten ihn die Mitglieder der Greifenbrut mit offenen Mündern und staunenden Augen an. Und abermals lächelte Sir Sagremor; diese jungen Leute waren wahrlich noch ungeduldig und voller Tatendrang.
„Meine Familie zählt zu den wenigen Menschen, welche befähigt sind, Kapitäne hervorzubringen, die ein Luftschiff fliegen können.“, fuhr er fort, „Das Schiff sollte ursprünglich den Greifen der Dämmerung als Basis für geheime Operationen dienen. Nun, da die Gruppe eurer Eltern verschollen ist, nehme ich an, seid ihr die rechtmäßigen Erben der Golden Dragon und sie und ich werden fortan euch als Stützpunkt dienen. Wie ich hörte, habt ihr euch bisher mehr als würdig erwiesen, aus dem Schatten eurer berühmten Eltern heraus zu treten und das Erbe anzunehmen.“
Der Kapitän der Golden Dragon ließ seine Worte noch ein wenig nachwirken, doch auch nach vielen Augenblicken starrten ihn die Gesichter der fünf Nachkommen der Greifen der Dämmerung ungläubig und staunend an, so dass der alte Mann schließlich wieder das Wort ergriff und schmunzelnd meinte: „Ihr hattet vorhin eine Menge Fragen. Nun wäre es vielleicht an der Zeit, sie zu stellen.“
„Wo ist das Schiff?“, fragte Lily, die sich als erste fing.
Sir Sagremors Brust schien vor Stolz anzuschwellen, als er der Bardin antwortete: „Sie liegt in den Minen des Clan Ruhnhain. Dort wurde sie in einem Hangar gebaut.“
„Wann können wir sie sehen?“, fragte die junge Frau weiter.
„Es müssen, sofern ihr euch wohlauf und reisefähig fühlt, lediglich zwei Vorbereitungen getroffen werden“, erklärte D´Lyrandar.
„Was wäre das?“, wollte Evendur wissen.
„Mit diesem Kristall hier, werde ich zunächst ein Ritual initiieren, durch welches eure Verbindungen untereinander gefestigt werden und die euch durch die Geburtsmale innewohnenden Kräfte erweitert werden. Danach werden wir mit eurer neuen gemeinsamen Kraft unter Mithilfe des Steins zunächst einen Turm hier in der Villa entstehen lassen, an welchem die Golden Dragon andocken kann. Sobald dies vollbracht ist, werden wir nach Suzail reiten, wo ihr euch mit Vorräten eindecken könnt, bevor wir weiter zu den Minen des Clan Ruhnhain reisen.“