Kapitel VI: Für das größere Wohl
Grimwardt
Schwerterteich bei Rabenklippe, drei Tage später.
„Wusstest du hiervon?“, murmelte Winter an Faust gewandt, während die Freunde durch das Labyrinth der Katakomben irrten, das sich unter dem Anwesen der Neun Schwerter erstreckte. Sie waren nur zu dritt. Miu war seit ein paar Tagen nur noch zum Schlafen in Fausts und Winters gemeinsamer Wohnung in Silbrigmond aufgetaucht und Drake hatte es wohl für das Beste gehalten, nach seinem unliebsamen Wiedersehen mit seinem alten Mentor vorerst unterzutauchen.
„Naja, die Schwerter führt es auf ihren Missionen zu den unterschiedlichsten Orten in ganz Toril“, hallte Fausts Stimme von den Wänden wider. „Ich dachte mir schon, dass das Portal zum Tempel der Vier Winde in Shou-Lung nicht das einzige ist. Aber ich hatte keine Ahnung, dass Omega einen ganzen Unterreich-Bezirk gepachtet hat … Hey, Pranke, hiergeblieben!“
Doch der sonst so folgsame Tigergefährte ihres Freundes Nimoroth schien irgendetwas zu wittern. Fluchend rannten die drei ihm nach, als er davon preschte. Nach drei Wegkreuzungen erreichten sie einen Gefängnistrakt. Die Zellen waren leer – alle bis auf eine. Nimoroths Säbel und sein Bündel lagen ordentlich verstaut in einer Ecke. Auf einer Pritsche saß eine steinerne Elfenstatue. Mit aufgerissenen Steinaugen starrte der Druide seinen Freunden entgegen.
„Bei Veiros‘ Ungestüm, der Tiger hatte Recht“, murmelte Grimwardt. „Nerûl, Pranke weg, du brichst ihm noch irgendwas.“
Winter hatte schon zu einer Zauberformel angesetzt und kurz darauf erwachte die Statue keuchend zum Leben. Nun, da er wieder aus Fleisch und Blut war, tränkte sich Nimoroths Hemd mit Blut.
„Junge, wer hat dich denn so zugerichtet“, grummelte Grimwardt, während er den Freund heilte.
„Das war dieser Avariel …“ Der Waldelf blinzelte dankbar von einem zum anderen. „Ich bin wohl ziemlich aus der Übung gekommen“, bemerkte er zerknirscht. „Hat Nerûl euch gerufen?“
„Kalith hat uns gebeten, nach dir zu suchen“, erwiderte Winter. „Du warst seit ein paar Tagen verschwunden und der Tiger begann, sich Sorgen zu machen. Ein Druide, der ihn befragte, fand heraus, dass du zu den Neun Schwertern aufgebrochen warst.“
Nimoroth nickte.
„Ich hatte Nerûl gebeten, Alarm zu schlagen, wenn ich länger verschwunden bleibe.“ Er tätschelte seinem treuen Gefährten den Kopf.
„Klingt, als hättest du schon mit Ärger gerechnet“, bemerkte Grimwardt. „Was war los?“
„Ich weiß, ihr vertraut diesem Avariel, aber ich habe nicht vergessen, was er in Immerschwinge angerichtet hat; eine Vorsichtsmaßnahme schien mir nur sinnvoll. Er bat mich in einem Brief um ein Treffen; meinte, es ginge um Winter …“
Er suchte Winters Blick, offenbar unschlüssig, wie viel er preisgeben durfte.
„Um ihre Seelensucht“, brummte der Priester unverblümt.
Nimoroth nickte, doch seine dunklen Augen verrieten nicht, was er dachte.
„Ich habe in der Vergangenheit immer wieder Veränderungen beobachtet, die mir Anlass zur Sorge gegeben haben. Also willigte ich ein. Da es Elijas nicht gestattet ist, Myth Drannor zu betreten, kam ich hierher. Er erzählte mir von dem Ritual des Kelemvor-Priesters.“
Winter hatte schuldbewusst den Blick gesenkt und puhle sich die Hornhaut von den Fingern.
„Ich verurteile dich nicht“, sagte der Elf leise.
Sie hob scheu den Blick.
„Damals nach der Sache mit den seelenlosen Geburten in den Vampirkrypten, als wir gegen Orlak versagt hatten und ich Kalith tot glaubte … Ich glaube, wenn mir damals jemand einen Ausweg angeboten hätte, mir wäre der Preis egal gewesen“, erklärte Nimoroth mit beklemmender Ehrlichkeit. „Du hast etwas Unverzeihliches getan, aber ich glaube, dass es noch nicht zu spät für dich ist, umzukehren. Und wenn du irgendwann dazu bereit bist, dann kann ich dir helfen, Winter. Ich hoffe, das weißt du.“
Tränen glitzerten in Winters Augen und zum ersten Mal hatte Grimwardt die vage Hoffnung, dass sie tatsächlich den Willen zur Umkehr aufbringen könnte. Aber vielleicht war das auch nur die Erinnerung an die alte Winter, die Nimoroth in ihm weckte.
Faust räusperte sich.
„Wann hat die Begegnung mit Elijas denn eine so blutige Wendung genommen?“
„Er wollte von mir wissen, wo Scarlet ist.“
„Was?“ Winter erstarrte. „Warum?“
„Das wollte er mir nicht sagen.“
„Du hast doch nicht …?“
„Natürlich nicht. Aber nachdem er mich niedergeschlagen hatte, hat er sich alles, was er wissen wollte, aus meinem Hirn gezogen“, murmelte Nimoroth bitter. „Keine Sorge, er wird nicht viel damit anfangen können. Laguna ist sehr vorsichtig geworden und gibt mir nur noch sehr vage Informationen. Ich weiß nur, dass das nächste Angriffsziel der Elah’ni eine Stadt in der südlichen Anauroch ist: Rasilith.“
„Wer sind die Elah’ni?“
„Das ist der Name, den die Sandfürsten ihrer neuen Anführerin gegeben haben. Sie ist eine Gesegnete der Elah, eines altnetherischen Aspektes der Mondgöttin Selûne, der von den Wüstenstämmen verehrt wird. Die Elah’ni ist zum Symbol des Widerstands gegen Netheril geworden. Sie hat die Bedinen geeint und sammelt eine Armee um sich.“
Winter sprang auf.
„Wir brechen noch heute auf“, entschied sie.
„Nicht so hastig“, knurrte Grimwardt.
„Dein Bruder hat Recht“, pflichtete Faust ihm bei. „Falls die Umbranten dort mit einem Angriff rechnen, sind sie womöglich bis an die Zähne bewaffnet – und du bist die einzige von uns, die in der Anauroch Magie wirken kann. Außerdem hängen vermutlich unsere Visagen da nach unserem Ausflug nach Eileanar und dem Tod des Zwillings an jeder Häuserwand. Ich bin zwar ein großer Freund der Draufhauen-und-später-fragen-Methode, aber in dem Fall ist das vielleicht nicht die beste Idee.“
Winter
Rasilith, Netheril, einen Tag darauf.
Demütig hielt Winter den Kopf gesenkt, während Grimwardt mit den Wachen am Stadttor sprach, doch in ihr brodelte es. Sie kannte die Sprache nicht, doch das Alt-Illuskisch der Netherim klang anders. Vermutlich irgendein Wüstendialekt. Mit dem schwarz gefärbten Bart und der dunklen Gesichtscreme sah Grim tatsächlich aus wie ein hartgesottener Bedine, wie Winter, der die kosmetische Leitung ihrer Mission oblag, befriedigt feststellte. Dennoch ging ihr das alles zu langsam. Am liebsten hätte sie dieses elende Wüstenloch sofort dem Erdboden gleichgemacht, wenn sie nicht hätte befürchten müssen, auch Scarlet dabei zu begraben.
Plötzlich trat eine der Wachen vor und rief Faust etwas zu.
- Er will unsere Waffen, übersetzte Grimwardt. Ich habe gesagt, wir seien Reisende auf dem Weg nach Lundeth und wollten unseren Wasservorrat auffrischen.
- Unsere Waffen? Äh … schlechte Idee, bemerkte Faust mit einem Blick nach oben. Die aufgespießten Köpfe von zehn Männern, denen Geier die Augen ausgepickt hatten, starrten von ihren Pfählen blicklos auf sie herab. Was auch immer hier vorgefallen war, ihrer Magie und Waffen beraubt, wären ihre drei Begleiter Winter keine große Hilfe. Also setzte eilig zu einer Bezauberung an.
Kurz darauf betraten die Gefährten ungehindert die Stadt, während sich die beiden Soldaten verwirrt die pochenden Schädel rieben. Der Anblick der tristen Lehmbaracken, die rechts und links den staubigen Weg säumten, trug nicht dazu bei, Winters nagende Sorge zu zügeln. Auf dem Weg zum Marktplatz schlugen ihnen weder Feilschgezeter noch Tiergeschrei entgegen. Nur wenige vermummte Gestalten huschten von Zeit zu Zeit durch die staubigen Straßen, die Gesichter furchtsam zum Himmel gewandt, wo in regelmäßigen Abständen Veserab-Flugscharen die Stadt aus der Luft patrouillierten. Die schrillen Schreie der umbrantischen Reittiere waren der einzige Laut, der hin und wieder die hitzeschwangere Mittagsstille durchbrach.
Abgesehen von Hades‘ monotoner Litanei.
Sie hörten den Kelemvor-Priester, ehe sie ihn sahen. Mit unheilschwerer Stimme schien er Selbstgespräche zu führen wie ein besessener Eremit. Winter lief ein Schauer über den Rücken: Auf dem Marktplatz ragten, bewacht von vier Soldaten und einem umbrantischen Befehlshaber, zwei Kreuze wie finstere Mahnmale auf. Man hatte Elijas und Hades mit Eisennägeln an die hölzernen Pfähle genagelt. Der Avariel, dessen zerfetzte, sandschwere Flügel hinter ihm herabhingen wie Leichentücher, bot einen furchtbaren Anblick und nur der Umstand, dass die Geier sich noch nicht über ihn hergemacht hatten, ließ vermuten, dass noch ein Rest Leben in ihm steckte. Hades dagegen war nicht nur bei vollem Bewusstsein, sondern hielt seinen Peinigern mit staubtrockenen Lippen und blutunterlaufenen Geisteraugen einen Vortrag über ihre Verbrechen und die Qualen, die sie dafür in der Stadt der Seelen erwarteten. Schweißperlen glitzerten auf den Stirnen der Krieger, von denen einige unruhig von einem auf den anderen Fuß traten. Nur die Anwesenheit des Umbranten schien sie davon abzuhalten, so schnell sie konnten das Weite zu suchen, um dem schaurigen Urteil des Todespriesters zu entgehen. Ein leises Lächeln der Genugtuung ließ Winters Mundwinkel zucken, auch wenn sie nicht so sicher war, wer hier die größeren Qualen litt.
Die Gefährten taten es den Einheimischen gleich, die mit gesenkten Häuptern an der verstörenden Szene vorbeieilten. Erst in einer Seitengasse hielten sie inne.
„Tja “, bemerkte Winter mitleidslos. „Schätze, dann können wir wieder gehen?“
„Ist das dein Ernst?“, murmelte Faust.
„Mein voller Ernst“, entgegnete Winter finster. „Die beiden haben versucht mich umzubringen und jetzt bedrohen sie meine Tochter! Was erwartest du?“
„Du weißt doch gar nicht, was sie vorhaben. Komm schon, glaubst du wirklich, Hades könnte eine Erpressungsnummer durchziehen?“
„Er hätte mich umgebracht!“
Faust fuhr sich unschlüssig über den Hinterkopf, doch dann schüttelte er entschieden den Kopf.
„Tut mir leid, Winter, aber ich werde die beiden nicht da hängen lassen.“
„Außerdem sind wir in Bezug auf die Umbranten eine Verpflichtung eingegangen“, mahnte sie Grimwardt. „Diese Stadt hat keine ersichtliche strategische oder symbolische Bedeutung. Ich kann mir nicht vorstellen, was diese Elah’ni hier will und ich gehe nicht eher hier weg, ehe ich weiß, was da los war.“
„Schön, das lässt sich auch anders herausfinden“, schnaubte Winter.
Doch das war einfacher gesagt als getan. Die Einheimischen schlugen den Fremden furchtsam die Tür vor der Nase zu, sobald sie sich nach den Gekreuzigten oder der Elah’ni erkundigten. Schließlich stieß Winter auf eine junge Frau, die vor dem Haus die Wäsche ausklopfte. Sie warf den Männern einen misstrauischen Blick zu und eilte ins Haus, doch als Winter ihr folgte, legte sie keinen Einwand ein. Sie sagte etwas, das Winter nicht verstand.
„Tut mir leid, ich spreche Eure Sprache nicht.“
„Gehört Ihr zu den Sandfürsten?“
„Nein … Aber wir haben gehört, dass sie auf dem Weg nach Rasilith sind. Stimmt das?“
Die Bedine begann angespannt eine Portion Hirse im Mörser zu zerstampfen. Zwei kleine Jungen blickten scheu um die Ecke.
„Wenn, dann werden sie genauso scheitern wie der Schwarze Priester und der Racheengel.“
„Was ist mit ihnen passiert?“
„Sie kamen vor ein paar Tagen in die Stadt. Auf dem Marktplatz fand gerade eine Hinrichtung statt und der Henker verlas die Verbrechen der Verurteilten. Offiziell gibt es keine Rebellen in Rasilith, darum wurden sie wegen Diebstahls oder Ehebruchs hingerichtet. Auf einmal trat der Schwarze Priester vor und sagte: ‚Dieser Mann lügt‘. Sie stritten eine Weile und es endete damit, dass der Henker anstelle der Verurteilten seinen Kopf verlor. Der Schwarze Priester war ganz staubig von der Reise und der Engel hatte die Flügel unter seinem Umhang verborgen, aber in der Hitze des Gefechts erkannten die Umstehenden, dass sie Gesandte der Götter waren. Alle waren so voller Hoffnung. Die Rebellen stürmten die Sandfeste und verjagten diese Schattenhexe Zia Malith aus der Stadt. Aber schon am nächsten Tag kam sie wieder. Mit einer Armee von Dunkelmenschen und dem Sohn des Hexenkönigs, Prinz Melegaunt. Sie schlugen die Rebellion nieder und ließen die Anführer hinrichten. Seitdem hören sie Geier nicht mehr auf, über Rasilith zu kreisen.“
„Die Köpfe vor dem Tor?“
Die Frau nickte.
„Nur den Schwarzen Priester und den Engel haben sie ans Kreuz gehängt. Der Hexenprinz sagt, wenn sie wirklich von den Göttern kämen, dann würden sie am Kreuz nicht verdursten wie ein gewöhnlicher Dieb. Aber der Priester harrt schon seit gestern Morgen dort aus ohne einen Schluck Wasser und es kommen immer noch heilige Worte aus seinem Mund …“
Eher irre als heilig. Doch Winter verkniff sich die Erwiderung.
„Warum ist diese Stadt für die Umbranten so wichtig?“
Die Frau zuckte die Schultern.
„Für die Schattenhexer sind wir doch nicht besser als die Sandfürsten. Dabei war mein Stamm sogar bis aufs Blut mit den D’Tairig-Nomaden verfeindet, bis die Umbranten kamen, unsere Tempel entweihten und uns wie Sklaven behandelten.“
Mit dieser Erklärung wird Grim sich nicht zufrieden geben, dachte Winter seufzend. Und natürlich hatte sie recht. Kaum hatte er gehört, dass die Stadt seiner alten Feindin, Fürstin Zia, unterstand, stand sein Entschluss, die beiden Gekreuzigten zu befreien, fest.
„Faust knöpft sich den Befehlshaber vor, Winter hängt mit Eisenwacht diese beiden Volldeppen ab, die sich ohne Magie mit einem Tanthul angelegt haben, und den Rest halte ich in Schach. Die beiden haben bereits gegen Zia und diesen Melegaunt gekämpft und wissen, wie die Sandfeste verteidigt wird. Das sind wertvolle Informationen für die Rebellen.“
„Wann haben wir beschlossen, dass wir Scarlet unterstützen, statt sie von diesem Irrsinn abzuhalten?“, murrte Winter.
„Das habe ich beschlossen“, erwiderte Grimwardt schroff. „Just in diesem Moment.“
„Schon gut“, murmelte sie.
Aber wenn sich herausstellt, dass die beiden ein krummes Ding geplant haben, werden sie sich noch wünschen, sie wären an diesem Holzbalken verreckt, dachte sie düster.
Faust
Sternwald, Cormanthyr, kurz darauf.
„Langsam, Mann“, brummte Faust und hielt Elijas das Trinkhorn noch einmal hin, nachdem der Avariel den ersten Schluck wieder erbrochen hatte. Hustenkrämpfe schüttelten ihn, aber immerhin behielt er das Wasser diesmal bei sich. Nimoroth war ein wenig sparsam mit seinen Heilsprüchen gewesen und Faust konnte es dem Druiden kaum verübeln. Wie verabredet hatten sie sich nach ihrer Flucht aus Rasilith im Sternwald getroffen, wo Nimoroth gelegentlich Zeit mit seiner dryadischen Lebensgefährtin verbrachte.
„Ich glaube, ihr schuldet uns eine Erklärung.“ Winter trat mit verschränkten Armen auf die beiden Geretteten zu. „Was hattet ihr in dieser Stadt zu suchen?“
„Ich wüsste nicht, weshalb wir Euch Rechenschaft schuldig wären“, erklärte Hades und erhob sich mit beachtlicher Würde für einen Kerl, der nur einen Lendenschurz trug und dessen Füße und Hände aussahen wie Kohleklumpen. „Doch für Eure Rettung gebührt Euch Dank. Also wisst, dass wir die Stadt aufgesucht haben, um Eure Tochter Scarlet Fedaykin über Euren Zustand aufzuklären.“
„Aufzuklären?“
„Da sie, wie mir zu Ohren gekommen ist, der emotionale Beweggrund für Eure Verfehlungen ist, schien uns der Gedanke vernünftig, dass sie am ehesten dazu in der Lage wäre, Euch umzustimmen, Eure abgebrochene Behandlung fortzusetzen.“
„Du meinst den Exorzismus, der mich umbringen würde“, schnaubte Winter. „Ich schätze, dein elfischer Kumpel hat dich nicht darüber aufgeklärt, dass er ihren Aufenthaltsort aus unserem Freund hier rausgeprügelt und ihn dann mundtot gemacht hat, hm?“
Der Richter streifte Elijas mit einem tadelnden Blick.
„Das war mir in der Tat nicht bekannt. Ich werde diese Anschuldigung prüfen und den Beschuldigten im Falle, dass ihr Wahrheitsgehalt nachgewiesen werden kann, seiner gerechten Strafe zuführen.“
Winter lachte verächtlich.
„Ihr seid echt ein großartiges Duo! Ich schätze, es ist juristisch unverfänglicher, wenn du nach vollendeten Tatsachen deinen Richter…stab schwingst oder welchen rituellen Hokuskokus ihr Kelemvorianer euch so einfallen lasst, statt vorher nachzufragen, was?“ Sie wandte sich an Elijas und ihre Smaragdaugen blitzten gefährlich. „Was hast du ihm noch verheimlicht? Was, wenn Scarlet nicht nach eurer Pfeife getanzt hätte? Hättest du ihr dann etwas angetan, um mich in den Selbstmord zu treiben?! Was bist du nur für ein elender Heuchler! Inwiefern ist das, was ich tue, anders als deine Verbrechen für das größere Wohl?“
„Für das größere …?“ Elijas stieß ein tonloses Lachen aus. „Du handelst doch nur aus Eigennutz! Und es ist grausam und falsch, jemandem das Leben zu nehmen, ja, aber es ist endgültig, seine Seele zu verdammen!“
Eine tödliche Spannung ließ Winters Stimme vibrieren.
„Ich frage dich noch mal: Was hattest du mit meiner Tochter vor?“
„Ich weiß es nicht.“
„Was wolltest du ihr antun?!“
Plötzlich schien die Luft um sie herum vor unterdrückter Magie zu knistern. Faust, der ihren Zornausbruch bisher mit einer Art widerwilliger Faszination beobachtet hatte – verdammt, war sie schön, wenn sie wütend war! – begann nun ernsthaft um das Leben seines Freundes zu fürchten. Mit einem Räuspern legte er Winter den Arm auf die Schulter.
- Wir brauchen ihn noch, du erinnerst dich?
Sie fuhr wie elektrisiert zusammen und wandte sich mit einem frustrierten Schnauben ab.
- Kümmere du dich darum. Ich … muss hier weg.
Faust biss sich grübelnd auf die Lippen, während er ihr nachsah, wie sie fluchtartig zwischen den Bäumen verschwand. Dann wandte er sich seufzend an die beiden Übeltäter.
„Habt ihr nicht eine Kapelle wiederaufzubauen und Ersatz für zwei Ordensmitglieder zu suchen?“, fragte er grantig.
„Zephyra und Garek sind nach dem Tod ihrer Freundin aus dem Orden ausgetreten“, erklärte Elijas mit matter Stimme. „Und Nachtmond wurde immer schwieriger zu kontrollieren. Ich habe ihn schließlich in den Tiefen des Dschungels von Chult ausgesetzt, wo er hoffentlich niemandem etwas zuleide tut. Den Orden der Neun Schwerter gibt es nicht mehr.“
„Führungsschwäche, hm?“
Elijas sah ihn scharf an.
„Ich kann Omega nicht ersetzen und ich teile auch nicht ihre Unparteilichkeit.“ Fröstelnd schlang er die Flügel um den Körper und wandte den Blick zu Boden. „Ich wollte, um unserer Freundschaft willen, dass ich diese Sache einfach auf sich beruhen lassen könnte, aber das kann ich nicht, Faust. Freiheit ist wertvoller als Leben, das solltest du eigentlich am besten wissen, und die nimmt Winter ihren Opfern.“
„Was weißt du schon von der Freiheit unserer Seelen?“, murmelte Faust. „Ihr verändert euch nicht, wenn ihr nach Arvandor geht. Für euch mag der Tod eine Reise sein. Wir sind Baumaterial für irgendwelche göttlichen Reiche, was hat das mit Freiheit zu tun?“
„Mehr als die Reise nach Baator, die sie ihnen aufzwingt.“
Faust wollte erwidern, dass kein Pakt endgültig war, doch da wurde er von einer mentalen Botschaft abgelenkt.
- Es ist Scarlet!, erklärte Winter aufgeregt. Ich habe ihr eine magische Botschaft geschickt, um sie zu warnen. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie mir antwortet, aber das hat sie!
- Aus der Anauroch? Ist sie jetzt unter die Schattenmagier gegangen?
- Ist doch unwichtig, sie hat mir ihren Standort verraten. Sie braucht unsere Hilfe.
„Tja …“ Faust rieb sich den pochenden Kopf – langsam nahmen diese telepathischen Übertragungen überhand. „Sieht so aus, als ob wir in den Krieg ziehen würden. Interesse, es dem Typen, der euch ans Kreuz genagelt hat, heimzuzahlen?“
„Einverstanden“, erklärte Hades nach kurzem Zögern. „Ich möchte jedoch darauf hinweisen, dass eine Kooperation meinerseits nicht als langfristige Aufgabe meiner ursprünglichen Motivation zu werten ist.“
„Sprich, wenn du kannst, wirst du Winter trotzdem ans Bein pissen, danke für den Hinweis“, sagte Faust lakonisch. „Nicht wörtlich nehmen“, fügte er schnell hinzu, als er sah, dass Hades zu einem Einwand ansetzte. „Was ist mit dir, Elijas?“
Der Avariel wirkte unschlüssig.
„Komm schon, du hast am eigenen Leib erlebt, wozu diese Typen imstande sind“, murmelte Faust und bot ihm seine Hand an. „Frieden?“
Elijas nickte zögernd und ließ sich von ihm aufhelfen. Doch irgendetwas in seinem Blick gefiel Faust ganz und gar nicht.
Winter
Südliche Anauroch, wenig später.
Zwei Schatten zogen über sie hinweg, als sie in der Wüste auftauchten. Die Flugtiere, die Winter zunächst für Veserabs hielt, erwiesen sich als riesige, sandfarbene Greifvögel, auf denen vermummte Sandkämpfer ritten. Offenbar wurden sie bereits erwartet, denn die beiden D‘Tairig gaben der sechsköpfigen Gruppe – Miu war auf Fausts telepathische Bitte wieder zu ihnen gestoßen – ein Zeichen, ihnen zu folgen. Die nächste Düne gab den Blick auf eine Zeltstadt frei, deren sandbedeckte Dächer sich so harmonisch in die Wüstenlandschaft einfügten, dass selbst die Veserab-Reiter das Lager nur aus nächster Nähe aufspüren konnten. Winter war erstaunt unter den Rebellen zahlreiche Kinder zu finden, die lachend herbeieilten, um das illustre Grüppchen zu bestaunen. Besonders Elijas‘ Federkleid und der Tiger Nerûl wurden zum Streichelobjekt einer Vielzahl neugieriger Kinderhände. Wehmut überkam Winter, als sie an ihren letzten Besuch bei den D’Tairig dachte, und plötzlich bekam sie vor Nervosität ganz nasse Hände. Sechs Jahre war es her, dass sie Scarlet zum letzten Mal gesehen hatte. Um sie nicht in Gefahr zu bringen, war sie all die Jahre auf Abstand geblieben. Scarlet hatte niemals versucht, sie zu finden. Sie hatte ihr nie verziehen, dass sie sie als Kind verlassen hatte. Und wie recht sie damit hatte – sie hätte niemals nach Westtor aufbrechen und ihre achtjährige Tochter im Stich lassen dürfen.
Dafür verdiene ich ihren Hass …
Die Sandadler-Reiter führten sie zu einem Pavillon, der dem Lager als Versammlungsort zu dienen schien. In Grüppchen standen Sandkämpfer beisammen, tranken, aßen, reinigten ihre Waffen oder beobachteten einfach nur das Geschehen. Eine zierliche junge Frau – eher noch ein Kind -, die mit ihrem kahlen, elfenbeinernen Schädel wirkte, als hätte sie noch nie einen Sonnenstrahl abbekommen, trat auf Winter und ihre Gefährten zu, umgeben von einem Gefolge aus Wüstenkämpfern und Elah-Priesterinnen in luftigen Silbergewändern. Enttäuscht stellte Winter fest, dass Scarlet nicht unter ihnen war. Nun, vielleicht war es besser so; ein Wiedersehen in aller Öffentlichkeit hätte ihre Tochter sicher bloß in Verlegenheit gebracht. Ein wenig neidisch beobachtete sie Nimoroth, der seinen Sohn Laguna mit einem ungezwungenen Handschlag begrüßte, als sei es das Normalste der Welt!
Plötzlich trat eine der Sandkämpferinnen vor und drückte Winter an sich. Ein herb-vertrauter Geruch nach Kaffee, Sand und Waffenfett umfing sie, der die Erinnerung an so viele bittersüße Träume wachrief, dass er ihre Beine in Butter verwandelte.
„Es ist schön, dich wiederzusehen, Mutter.“
Sprachlos stolperte sie einen Schritt zurück, um ihrer Tochter ins Gesicht zu blicken. Lächelte sie etwa? Es sah nicht einmal wie ein gestelltes oder gequältes Lächeln aus! Der Gedanke, dass sich Scarlet nach der langen Zeit verändert haben könnte, war ihr gar nicht in den Sinn gekommen! Dicht gesäte Sommersprossen ließen ihr Gesicht fast so braun wirken wie das der D‘Tairig und kleine Sonnenfältchen um die Augen verliehen ihr das herbe, wettergegerbte Aussehen einer viel älteren Frau. Doch als sie mit ihrem strahlenden Grübchenlächeln die Hände ihrer Mutter ergriff, war sie wieder das kleine Mädchen, das Winters Herz zum Schmelzen brachte.
„Onkel Grim, Mutter: Darf ich euch die Elah’ni vorstellen, die Mondjungfrau der Elah.“
Als es Winter gelang, sich für einen Augenblick vom Anblick ihrer Tochter loszureißen, erkannte sie, dass das weißhäutige Mädchen blind war. Neblige Schlieren verschleierten ihre Augen wie Wolken einen blauen Himmel. Als sie die Hände der Blinden ergriff, bemerkte sie, dass ihr Umhang sein magisches Glimmen zurückgewann. Gleichzeitig überkam sie in der Gegenwart der Mondjungfrau ein sonderbares Gefühl der Feindseligkeit.
„Habt Ihr …? Wie könnt Ihr die Magie des Gewebes hier aufrecht erhalten?“, fragte sie verwirrt.
„Das Mondscheingewebe ist ein Geschenk der Elah“, erwiderte die Elah’ni mit einer dunklen, volltönenden Stimme, die in befremdlichem Kontrast zu ihrem puppenhaften Aussehen stand. Winter machte unwillkürlich einen Schritt zurück. Doch falls die Elah-Gesegnete ihre Affinität zum Schattengewebe spüren konnte, so wie sie die Gegenwart ihrer Mondgöttin wahrnahm, behielt sie es für sich. „Mein Volk ist ganz im Norden der Anauroch beheimatet, wo die Wüste in das Ewige Eismeer übergeht. Genau wir die Bedinen und die Umbranten sind wir Nachkommen der alten Netherim. Telamont Tanthul war nicht der einzige, der den Untergang Netherils voraussah und Vorkehrungen traf. Doch während er sich der Dunkelheit verschrieb, suchte die Gemeinschaft der Mondjünger die Hilfe von Shars silberner Schwester. Sie segnete einige wenige Auserwählte, die ihre Enklaven verließen und mit jenen, die bereit waren, mit ihnen ins Exil zu gehen, Zuflucht in der Ewigen Nacht des Eismeers suchten. In jeder Generation meines Stammes wird seither ein Kind geboren, dem Elah ihre Gunst schenkt. Ich bin eines von ihnen. Lange lebten wir abgeschnitten vom Rest der Welt, bis die Umbranten uns fanden. Bei einem Angriff auf unsere Heimat kamen die meisten von uns ums Leben und ich wurde nach Umbra verschleppt, wo Telamont mich gefangen hielt, um das Mondscheingewebe zu studieren. Doch ich konnte entkommen und schloss mich den Rebellen an, um mein Schicksal zu erfüllen und die Anauroch von der Tyrannei zu befreien…“
„Und damit wollt Ihr in Rasilith anfangen?“, wunderte sich Faust.
„Unter der Stadt liegt ein Knoten des magischen Gewebes. Ihr erinnert euch sicher an den wahnsinnigen Halbgott Volumvax. Er hat ihn vor vielen Jahren mit Schattenmaterie verunreinigt, um das Gewebe an dieser Stelle zu unterdrücken. In drei Tagen ist der nächste Vollmond. Unter dem Schutz Elahs ist meine Macht am größten und ich kann versuchen, den verunreinigten Knoten wiederherzustellen und das magische Monopol der Sharianer in der Anauroch zu brechen.“
„Also dort befindet sich der letzte Knoten …“, murmelte Winter. Viele Jahre war es her, dass sie Volumvax‘ Pläne, ganz Faerûn mit einer magietoten Zone zu überziehen, vereitelt hatten. Doch den letzten Schattenknoten hatten selbst die Sieben Schwestern nicht finden können. Fürstin Alustriel Silberhand hatte ihn unter dem See der Schatten vermutet, doch offenbar hatte sie falsch gelegen.
„Aber zwischen uns und dem Knoten steht ein Prinz Umbras, der schlimmstenfalls die geballte Kriegsmacht Netherils gegen uns ins Feld führen wird“, sagte Scarlet. „Ich weiß, dass wir dem nicht gewachsen sind – darum bitte ich euch um eure Hilfe. Das Mondscheingewebe wirkt nur in unmittelbarer Umgebung der Elah’ni. Magisch können wir den Umbranten also kaum die Stirn bieten. Melegaunt verteidigt Rasilith mit knapp 150 Soldaten und Kriegsmagiern, die Hälfte davon Umbranten. Wir sind fast doppelt so viele, doch die Mehrzahl hat kaum militärische Erfahrung. Außerdem kommen auf fünf Veserab-Reiter nur zwei unserer Sandadler-Flieger. Und wir müssen schnell sein, damit Melegaunt keine Zeit bleibt, Unterstützung anzufordern.“
Sie hat sich wirklich verändert, dachte Winter versonnen.
Die starrsinnige jungen Frau, die sie vor sechs Jahren kennen gelernt hatte, hätte eher eine Niederlage in Kauf genommen als ihre Mutter, die „Schattenhexe“, um Hilfe zu bitten. Die Rebellen schienen ihr großen Respekt entgegen zu bringen. Fühlte sich so Mutterstolz an?
„Was meinst du, Mutter?“
„Hm?“, schreckte Winter aus ihren Gedanken auf. „Entschuldige, ich war … Was meintest du?“
„Deine Mutter neigt dazu, bei meinen militärischen Ausführungen wegzudämmern“, grummelte Grimwardt.
„Grim meint, du könntest unsere Leute mit Flug- und Unsichtbarkeitszaubern belegen, um das Veserab-Problem zu lösen und uns ungesehen in die Stadt zu bringen. Was meinst du, wie viele von uns könntest du auf diese Weise verzaubern?“
„Wie viele brauchst du?“
Grimwardt
Rasilith, drei Tage später.
„Jetzt!“
Auf Grimwardts Befehl schleuderte Winter einen Verdorren-Zauber auf das Dach der Sandfeste und schaltete die wenigen verbliebenen Bogenschützen aus. Wie erwartet hatte Melegaunt die meisten seiner Soldaten von der Sandfeste – die eigentlich nichts weiter war als eine Sandbarracke mit etwas dickeren Mauern – abgezogen, als die Rebellenarmee den Sturm auf das Nordtor der Stadt eröffnet hatte. Die 70 Sandkämpfer, die Winter darüber hinaus mit Unsichtbarkeits- und Flugzaubern ausgestattet hatte, waren dem Auge seiner Veserab-Späher entgangen. So hatten sie unbemerkt in die Stadt eindringen und die Sandfeste angreifen können. Im Augenblick lieferten sie sich vor den Toren des Komplexes ein wildes Luftgefecht mit den Veserab-Reitern. Gleichzeitig stürmte Grimwardts zehnköpfige Truppe das Dach.
Meine Glaubensinvestition zahlt sich aus, dachte er, während er seiner Schwester einen verstohlenen Blick zuwarf. Er hatte mit sich gehadert, doch nun bestand kein Zweifel mehr daran, dass Winter ein wichtiges Kriegsinstrument war, das womöglich über Sieg und Niederlage im aufziehenden Krieg gegen Netheril entscheiden konnte. Telamont fühlte sich zu sicher in seiner magiegeschützten Wüste, sonst hätte er Rasilith mit allen Mitteln verteidigt, die ihm zur Verfügung standen, statt lediglich den Entbehrlichsten seiner Söhne hierhin zu entsenden. Das war vielleicht seine einzige Schwäche – und Winter war Grimwardts großer Trumpf.
„Los! Faust und ich gehen vor, dann die Elah’ni. Nimoroth und Laguna zu ihrer Linken und Hades und Scarlet zu ihrer Rechten. Elijas und Miu bilden die Nachhut und Winter bezieht in der Luft Stellung. Der Schutz der Elah’ni hat oberste Priorität.“
Über eine Luke auf dem Dach der Baracke drangen sie in die Feste ein, von wo Hades ihnen den Weg zur Versammlungshalle wies. Dort angekommen, überraschten sie Prinz Melegaunt und Fürstin Zia bei einem bitteren Streit um die Verteidigung der Stadt. Unverzüglich bezogen sechs umbrantische Leibwächter um die beiden Adligen Stellung.
„Winter, die Bänke!“
Augenblicklich zerstoben die Holzbänke und Tische, die den Saal vereinnahmten, in einem Auflösungsgewitter. Unter Grimwardts Befehl wälzte sich die Gruppe wie ein Würfel aus neun Leibern auf die Gegner zu, denn nur als Einheit konnten sie sich in der magischen Zone des Mondscheingewebes bewegen, das sie wie ein Schutzschild umschloss. Die beiden Umbranten eröffneten das Feuer auf die Elah’ni, doch nicht einmal ein magisches Glimmen durchdrang das enge Korsett aus Schutz- und Heilzaubern, in das sie ihr wertvollstes Mitglied geschnürt hatten. Ein Bannzauber Winters zog Zia magisch bis auf die Knochen aus. Mit einem weiteren Zauber, der den sechsköpfigen Ring der Leibwächter lähmte, besiegelte sie das Schicksal der Verteidiger. Sprachloses Grauen stand der Sharianerin ins Gesicht geschrieben, als Grimwardt zwei der Wehrlosen achtlos aus dem Weg stieß und mit der Axt ausholte. Eilig setzte sie zu einer Teleportationsformel an, doch wieder war es Winter – diesmal mit einem Ankerstrahl –, die ihr einen Strich durch die Rechnung machte. Ambrosia drang tief in ihre Schulter ein. Zias Tod kam geradezu bedauernswert schnell. Für ihren Versuch, seine Abtei mit ihrem Schattengift zu verseuchen, hätte Grimwardt der Sharianerin gerne noch den einen oder anderen Tempus-Fluch auf ihre Reise auf die andere Seite mitgegeben. Im Gegensatz zu anderen Kirchen pflegte die Gemeinschaft des Feindhammers für solche Gelegenheiten eine ausgeprägte Fluchkultur …
Melegaunt schluckte schwer, als er sich dem Klingendickicht der Angreifer gegenüber sah und hob zaghaft die Hände. Ein kapitulierendes Lächeln begleitete die Geste. Der zweitjüngste Sohn des Hochprinzen von Umbra war eine sonderbare Erscheinung: Hochgewachsen und schlank mit schwer beringten Fingern, langem, schwarzen Seidenhaar, stark geschminkten Augen und einem bauchlangen Kinnbart, sah er aus wie die Kinderbuchversion eines charismatischen Illusionisten. Dabei hatte er bisher eher durch seinen untrüglichen Geschäftssinn und seine skandalösen Etablissements von sich reden gemacht, als durch irgendwelche arkanen Erfolge.
„Hm“, brummte Grimwardt. „Als Kriegsgefangener bringt Ihr uns sicher ein hübsches Sümmchen ein.“
„Ich würde nicht darauf zählen“, erwiderte der Prinz und senkte nüchtern den Blick, sodass ihm die Haare ins Gesicht fielen. „Mein Vater hat noch neun weitere Söhne, ich denke, er kann auf den einen verz…“
„Das ist ein Trick, er will abhauen!“
Zu spät. Der Magier hatte die Formel bereits gesprochen und Winters eilig gewirkter Anker prallte von seinen Schutzzaubern ab, als er sich dimensionswandelnd aus dem Staub machte.
„Naja“, murmelte Grimwardt. „Dann müssen wir uns wohl beeilen, bevor der Rest der Bande hier auftaucht. Wo ist nun dieser Knoten?“
„In meinen Visionen stand ich am Ufer eines unterirdischen Sees“, erwiderte die Elah’ni.
„Das muss der Somaj-See sein“, vermutete Elijas. „Von dort beziehen die Stadtbewohner ihr Wasser. Ich weiß, wie man dorthin gelangt. Hier entlang.“
Sie folgten dem Avariel erst in die Katakomben der Sandfeste und dann ins Unterreich. Bereits nach wenigen Minuten erspähten sie eine im Fackellicht glitzernde Wasseroberfläche. Grimwardt konnte keine Verteidigungsmechanismen ausmachen, doch er war auf der Hut.
„Bringt mich in die Mitte des Sees“, sagte die Elah’ni.
Winter belegte die Gruppe mit einem Flugzauber, sodass sie ihren Schutzring um die Elah-Gesegnete nicht aufgeben mussten. Schwebend leitete die Elah’ni das Ritual ein, indem sie Silberstaub über der Wasseroberfläche verstreute. Ein gespenstisches Licht, das aus ihrem Innern zu kommen schien, pulsierte im Einklang mit ihrem Herzschlag, erst schwach, dann immer stärker, bis gleißende Lichtstrahlen aus ihren Augen brachen und einen wirbelnden Strudel in den See rissen. Geblendet hielt sich Grimwardt einen Arm vors Gesicht. Als er wieder hinsah, hatten die silbernen Strahlen in der Tiefe ein schwarzes Geschwür freigelegt, das sich unter dem Lichtzauber wand wie ein gefangenes Tier. Die Elah’ni war mit aufgerissenen Augen in der Luft erstarrt und ihr zierlicher Kinderleib, der wehrlos in der Umarmung der zuckenden Riesenqualle aus weißem Licht trieb, die den schwarzen Knoten mit ihren Fangarmen umfing, bot einen gespenstischen Anblick.
„Todesalben!“, rief jemand und als Grimwardt nach unten blickte, sah er, wie sich von der Oberfläche des aufgewühlten Teiches Geister lösten, die mit klagend aufgerissenen Mäulern und durchscheinenden Klauen auf die Gruppe zu waberten.
„Keine Alben!“, dröhnte Hades‘ tiefer Bass durch die Höhle. „Das sind Schatten der Leere. Hütet euch vor ihrer lähmenden Umarmung.“
Plötzlich war der ganze See von den Kreaturen erfüllt. Der Wechselreigen aus Schatten und Licht, den die Schatten und der Zauber tanzten, hinterließ eine wirre Folge flackernder Flecken auf Grimwardts Netzhaut, wie wenn man bei Sonnenschein durch eine schattige Baumallee rennt. Einer nach dem anderen zerstoben die Untoten an den Wellen göttlicher Energie, die Grimwardt durch seinen Körper fließen ließ, wann immer sie ihre gestaltlosen Klauen nach ihm ausstreckten. Doch seine Zauber konnten die Grenze des Mondscheingewebes nicht überwinden und immer mehr Kreaturen stoben aus der Tiefe. Irgendjemand schrie und er hörte ein Platschen. Dann spürte er einen eigenartigen Sog aus der Tiefe und erspähte, verzerrt durch das Schattenflackern, ein geschwürartiges Gebilde, das sich aus dem magischen Knoten gelöst hatte. Während die Schattenkugel sich langsam und zielstrebig auf die Elah’ni zubewegte, fraß sie alles Licht in ihrem Weg. Der Sog wurde stärker und Grimwardt registrierte, wie die Elah-Gesegnete in ihrem Kokon aus Licht zu schlingern begann. Doch bevor die Kugel sie erreichte, spürte er einen Flügelschlag. Er sah noch wie Elijas sich blitzschnell mit ausgebreiteten Schwingen zwischen die Elah’ni und das Schattengebilde schob, um sie abzuschirmen, und dann passierten mehrere Dinge zugleich: Neben ihm konnte sich Scarlet dem Ansturm der Schattengeister nicht mehr erwehren und wurde in die Tiefe gezogen, der Schattenball erreichte den Avariel und dann verschwand der See in einer gigantischen Lichtexplosion.
Das nächste, was Grimwardt spürte, war das kalte Nass des Sees. Wasser drang in seine Lungen und er versuchte panisch, die Orientierung zurückzugewinnen, ehe er merkte, dass das Wasser an dieser Stelle so seicht war, dass er hindurch waten konnte. Ein paar Schritte entfernt trieb Scarlet bewusstlos im Wasser. Eilig zog er sie in seine Arme und stapfte an Land.
„Geht es ihr gut?“
Atemlos landete Winter an seiner Seite. Statt zu antworten, sprach Grimwardt ein Heilgebet, das Scarlet das Wasser aus den Lungen presste. Der Zauber wirkte!
„Scheint geklappt zu haben“, brummte er. „Das Gewebe funktioniert wieder.“
Während seine Nichte hustend zu sich kam, versuchte er die Lage zu erfassen. Alle schienen es überstanden zu haben. Lagunas Arm hatte von der Schulter abwärts eine kränklich-gräuliche Färbung angenommen, doch Nimoroth schien die Sache im Griff zu haben. Auch der irre Avariel, der sich vor dieses lichtfressende Etwas geworfen hatte, hatte einige Federn gelassen, aber Miu und Faust kümmerten sich bereits um ihn, während Hades ins Wasser zurückgewatet war, um den kläglichen Rest der Schattengeister in Staub zu verwandeln. Der Schattenball und ein Großteil der Untoten hatten die Lichtexplosion nicht überstanden. Aber wo war …?
„Wo ist die Elah’ni?“
„Sie … ist tot“, murmelte Scarlet mit zittriger Stimme. „Das Ritual war zu mächtig für sie. Es hat sie umgebracht.“
Als sie sich aufrichtete, bemerkte er einen Gegenstand in ihren Händen, den sie fest umklammert hielt. War das das Glaubensamulett der Elah’ni? Woher hatte sie das?
„Onkel Grim, ich muss mit dir reden“, sagte sie ernst.
„Scarlet, du stehst unter Schock“, sagte Winter besorgt. „Du zitterst vor Kälte. Es tut mir leid, was mit deiner Freundin passiert ist. Vielleicht solltest du …“
„Das ist es nicht. Ich … Ich muss wirklich mit Grim reden. Allein. Bitte, Mutter.“
Grimwardt nickte seiner Schwester zu und sie zog sich widerwillig zurück.
„Was ist los?“, brummte er.
„Die Elah’ni … sie hat im Geist zu mir gesprochen, kurz bevor es geschah. Sie wusste, dass sie es nicht überleben würde und sie wollte, dass ich ihren Platz einnehme.“
„Das überrascht mich nicht“, erwiderte Grimwardt ehrlich. „Du genießt den Respekt der Sandfürsten, du bist eine hervorragende Kriegerin und du kommst von außerhalb, sodass nicht die Gefahr besteht, dass deine Ernennung eine neue Stammesfehde heraufbeschwört. Es gibt niemanden, der sich besser als Anführerin eignen würde.“
„Ja, vielleicht, es ist nur …“ Scarlet biss sich auf die Lippen – wie Winter, wenn sie ihm etwas Unbequemes zu sagen hatte. „Selûne – die Elah – ist der Grund, warum sie der Elah’ni gefolgt sind. Sie ist nicht einfach nur eine Anführerin. Als Auserwählte von Shars silberner Schwester steht sie für all das, was die Umbranten zu unterdrücken versuchen. Die Elah ist … ihre Legitimation für diesen Krieg.“
Grimwardts Gesichtszüge erstarrten, als er begriff, was Scarlet ihm zu sagen versuchte.
„Du willst konvertieren.“
„Ich verehre Tempus, aber seine Priesterin bin ich nicht um seinetwillen geworden, sondern weil ich werden wollte wie du.“ Sie lachte verlegen. „Ehrlich gesagt, ich stelle ihn mir sogar ein bisschen so vor wie dich.“
Weit gefehlt, dachte er nüchtern, als er sich an seine letzte Begegnung mit dem Feindhammer zurückerinnerte.
„Vielleicht führe ich diesen Krieg schon zu lange, um noch als Klerikerin statt als Politikerin zu denken“, seufzte Scarlet. „Für mich bist du Tempus. Wenn du mir davon abrätst, werde ich es nicht tun.“
Grimwardt sog hörbar die Luft ein und stemmte die Hände in die Hüften.
„Ich antworte dir jetzt als Auserwählter des Feindhammer, Scarlet, und nicht als dein Onkel“, sagte er mit eiserner, fast bedrohlicher Stimme. Als Kriegsherr wusste er, welche Entscheidung er zu treffen hatte, doch sie gefiel ihm ganz und gar nicht. „Ich rate, nein, ich befehle dir, dich von Tempus loszusagen. Es ist in seinem Sinne, dass du diesen Krieg führst. Doch du kannst ihn besser in Selûnes Namen führen als in seinem. Ohne sie wird es nicht zum Sturm auf Umbra kommen.“
Scarlet schluckte hart.
„Gut, wenn das dein … sein Wille ist“, murmelte sie.
Unsicher flackerte ihr Blick über sein Gesicht. Sie schien noch etwas sagen zu wollen. Grimwardt wusste nicht, was er antworten sollte, wenn sie ihn fragte, was er als ihr Onkel sagen, ob er ihre Entscheidung dann verdammen würde. Darum sagte er bestimmt: „Bitte Selûne nun um ihren Segen.“
Während Scarlet sich ans Ufer des Sees kniete, um im ersterbenden Licht des Knotenzaubers zur Silbernen Dame zu beten, schirmte Grimwardt seine Nichte grimmig gegen alle neugierigen Fragen ab. Nach einigen Minuten kam Laguna, der mit Faust an die Oberfläche zurückgekehrt war, um die Lage auszukundschaften, ohne seinen Begleiter zurück.
„Unsere Leute waren siegreich!“, rief der junge Halbelf aufgeregt. „Aber ohne die Elah’ni bricht da oben die Hölle los. Einige der Stadtbewohner haben das Dunkelmenschen-Viertel gestürmt und Männer, Frauen und Kinder auf die Straße getrieben. Wenn sie niemand aufhält, werden sie sie abschlachten wie Vieh. Faust versucht bereits zu … äh … vermitteln.“
„Mit der Faust oder mit dem Schwert?“, brummte Grimwardt. „Wer sind diese Dunkelmenschen?“
„So nennen die Bedinen die Menschen von der Schattenebene, die mit den Umbranten nach Rasilith gekommen sind und sich hier niedergelassen haben. Offenbar wollen sie ihnen all die Erniedrigungen heimzahlen, die sie unter der Herrschaft der Umbranten erdulden mussten. Schnell, wir müssen sie aufhalten!“
„Hiergeblieben, junger Mann. Die Mondjungfrau ist deine Vorgesetzte. Warte gefälligst auf ihre Befehle.“
„Aber die Elah’ni ist …“
Mit offenem Mund starrte er Scarlet an, die aus ihrem Gebet erwacht war und seinen Ausführungen stumm gelauscht hatte. Ein strahlendes Licht brannte in ihren Saphiraugen und eine Silbersträhne fiel ihr in die Stirn.
„Ach du …“, setzte Laguna an. Dann verzog er skeptisch die Mundwinkel. „Mondjungfrau, Scarlet, ernsthaft?!“
„Elah’ni“, berichtigte sie ihn kühl. „Lasst uns gehen.“
„Vielleicht solltest du aufhören, ihr schöne Augen zu machen“, raunte Grimwardt dem Halbelf zu, während er an ihm vorbeistapfte.
Laguna hatte nicht untertrieben. Sie fanden das Dunkelmenschen-Viertel in heller Aufregung vor und Fausts „Schlichtungstaktik“ trug nicht gerade dazu bei, die Situation zu entschärfen. Beherzt kletterte Scarlet auf einen umgekippten Holzkarren, um die Menschen zur Vernunft zu rufen. Als sich die Umstehenden tatsächlich zu ihr umwandten, war sie so erstaunt, dass sie das für einen Moment aus dem Konzept brachte. Ein wenig zögerlich begann sie ihre Rede. In einfachen Worten berichtete sie vom Opfer der Elah’ni und ihren letzten Worten und bat ihre Mitstreiter nicht dieselben Fehler zu begehen, wegen derer sie die Umbranten aus der Stadt verjagt hatten. Als mehr und mehr Rebellen innehielten, um ihr zuzuhören, kam sie immer mehr in Fahrt, bis ihre Worte vor Leidenschaft nur so strotzten. Am Ende merkte sogar Grimwardt, dass seine Mundwinkel vor Stolz ein wenig zuckten. Fast hätte man es für ein Lächeln halten können. Doch dann fielen ihm die erweiterten Pupillen der andächtigen Zuhörer auf. Stirnrunzelnd wandte er sich zu Winter um und wollte bereits zu einer Schimpftirade ansetzen. Doch der Anblick seiner Schwester, die sich vor Rührung mit feuchten Augen die Faust gegen die Lippen presste, dämpfte seinen Ärger. Mit verschränkten Armen stellte er sich neben sie.
„Hat sich ganz schön gemacht, die Kleine, hm?“
Faust
Rasilith, einen Tag später.
Elijas fuhr alarmiert von der Fensterbank auf, als die Tür der Baracke aufgerissen wurde und Faust ins Zimmer stürzte.
„Du hast doch nicht wirklich geglaubt, ich würde zulassen, dass du mit mir dieselbe Nummer durchziehst wie mit Nimi?“, fragte Winter, die mit verschränkten Armen an der Wand lehnte. Offenbar war sie noch immer nicht sonderlich gut auf den Avariel zu sprechen. „Du willst mit mir reden?! Hast du damit absichtlich gewartet, bis Grim die Stadt verlässt oder ist das bloß Zufall?“ Grimwardt und Scarlet waren am Morgen aufgebrochen, um in den Ländern, die an Netheril grenzten, um Unterstützung für die Sandfürsten zu werben, da jeden Augenblick mit einem Rückeroberungsversuch der Umbranten zu rechnen war. „Wenn du mir was zu sagen hast, kannst du’s auch vor Faust tun!“
„Also schön“, murmelte Elijas und bewegte unbehaglich die Flügel. Offenbar machte Fausts Anwesenheit ihn tatsächlich nervös. „Ich denke, ich habe eine Lösung für dein Seelenproblem gefunden.“
Winter hob höhnisch die Brauen.
„Eine, mit der wir alle leben können?“
Der Avariel biss sich auf die Lippen.
„Ich will, dass du meine Seele trinkst.“
Stille.
Dann stieß Winter ein ungläubiges Lachen aus.
„Ja – klar – das macht auch Sinn!“
„Jetzt drehst du völlig durch, oder?“, stöhne Faust. „Sind dir etwa die schwarzen Soglöcher ausgegangen, in die du dich stürzen kannst?“
Elijas hatte wohl mit dieser Reaktion gerechnet, denn er ließ sich davon nicht aus der Fassung bringen.
„Hört mir erst zu“, sagte er ruhig. „Als ihr Omegas Seele aus der Hölle gerettet habt und Hades sie wieder mit ihrem Körper vereint hat, da hast du sie gespürt, Winter, nicht wahr? Omegas Seele. Ich erinnere mich daran, dass du wie von Sinnen aus der Kapelle gestürzt bist. Glaub mir, mit Suchtverhalten kenne ich mich aus.“
„Worauf willst du hinaus?“
„Du hast ihre Macht gespürt – und zwar aus demselben Grund wie Mephisto. Weil du wie die Baatezu umso länger von einer Seele zehren kannst, je wertvoller sie ist. Es ist vor allem ihr Alter, das eine Seele mächtig macht. Ich bin fast 250 Jahre alt, das sollte reichen, um deinen Bedarf eine Weile zu decken.“
„Liebe Güte, du meinst das ernst …“, murmelte Winter betroffen.
Elijas senkte den Blick. „Was du vor ein paar Tagen gesagt hast, Winter, vielleicht hattest du damit recht. Vielleicht musstest du zu dem werden, was du bist, damit die Tyrannei der Tanthuls ein Ende findet. Wenn es dir damit ernst ist, wirst du meine Seele annehmen, denn ich verlange nur eines dafür: Dass du deiner Sucht nach diesem Krieg ein Ende bereitest. Egal mit welchen Mitteln.“
„Elijas, das ist doch völlig absurd!“
„Das ist kein Angebot, sondern ein Ultimatum, Winter“, erwiderte der Avariel sehr leise und die bedrohliche Kälte, die sich mit einem Mal in seine Stimme schlich, bereitete Faust Gänsehaut. „Ich habe dir die Wahrheit gesagt: Ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn selbst Scarlet dich nicht zur Vernunft bringen kann. Aber ich bin davon überzeugt, dass die Verhinderung eines größeren Übels für das Wohl aller gelegentlich das Opfer eines Lebens aufwiegt.“
Oh, Elijas.
Winter erstarrte zur Salzsäule, während ihr Gesicht eine beängstigende Transformation durchlebte, die ihre Züge völlig in Schatten hüllte, als ob alle Emotionen gleichzeitig daraus entwischten. Faust ballte die Hände zu Fäusten und schloss angespannt die Augen. Im Augenblick war er nicht weit davon entfernt, Elijas für sein manipulatives Gerede eigenhändig seinen Todeswunsch zu erfüllen.
„Sag mal, kennst du eigentlich nur Extreme?!“, fuhr er ihn an. Nur mit Mühe widerstand er dem Drang, den Avariel am Kragen zu packen und diesen selbstzerstörerischen Kuhmist aus ihm herauszuprügeln. „Das ist doch keine Lösung! Niemand von uns würde es sich jemals verzeihen, wenn er zulassen würde, dass du für diese Scheiße deine Seele verdammst!“
„Erstens ist meine Seele ohnehin schon verdammt, weil mir als dhaerow der Weg nach Arvandor versperrt ist. Das Opfer wäre also vergleichsweise gering“, erwiderte Elijas mit einer analytischen Ernsthaftigkeit, die Faust sich fragen ließ, ob Hades vielleicht ansteckend war. „Und zweitens … Wenn jemand ein Anrecht auf meine Seele hat, dann seid ihr es. Ihr habt mich aus den Sandgruben gerettet. Ohne euch wäre ich … was? Ein Vampir unter der Kontrolle der Nachtmasken? Ich schulde euch einen Gefallen.“
„Einen Gef…?“ Faust rieb sich aufgebracht das Gesicht. „Elijas, es ist ein Gefallen, wenn du ‘ne Runde Met ausgibst – das ist kein Gefallen! Dafür haben wir dich nicht gerettet! Und was hindert dich daran, irgendeinem Menschengott zu huldigen, um deine Seele zu retten?“
„Was hindert dich daran? Du glaubst nicht an die Götter; ich glaube an Götter, die nicht an mich glauben. Diese Dinge lassen sich nicht erzwingen.“
Faust konnte nur fassungslos den Kopf schütteln.
„Ich mache es“, sagte Winter plötzlich tonlos in die Stille hinein.
„Oh Mann, Winter, das ist jetzt nicht dein Ernst, oder!“
- Hör nicht auf diese Ultimatumsscheiße! Das ist dieselbe Masche wie in den Sandgruben. Er sucht bloß nach einer Möglichkeit, sich auf eine Weise, die möglichst wenig nach Selbstmord aussieht, umzubringen.
- Ja, ich weiß, und ich bin es leid, ihn vor sich selbst zu retten.
- Gut, im Moment ist er nicht zurechnungsfähig, da gebe ich dir recht. Ich schlage ihn zusammen und wir sperren ihn irgendwo ein, bis diese Sache vorüber ist, einverstanden?
- Und wann ist sie vorüber, Faust? Er wird sich nie ändern.
- Winter, bitte!
- Nein, Faust, diesmal nicht.
„Gibt es noch irgendetwas, was du erledigen musst?“, wandte sie sich an Elijas.
Der Avariel deutete ein Kopfschütteln an.
„Scheiße Mann, tu wenigstens noch irgendwas Schönes“, murmelte Faust. „Lass dich volllaufen. Such dir ein Mädchen … oder worauf auch immer du stehst. Flieg im Gleitflug über das Sonnenaufgangsgebirge. Irgendwas!“
Elijas hatte sichtlich Mühe, den Kloß runterzuschlucken, der ihm in der Kehle brannte.
„Faust …“, murmelte er heiser und machte einen Schritt auf den Freund zu, doch Faust wich unwillkürlich zurück. Plötzlich war ihm übel und er hatte das Gefühl, es hier keinen Augenblick länger auszuhalten. Als ob ein Fluch auf den beiden lastete, der jede Sekunde, die er hier verweilte, auf ihn überspringen konnte.
„Ihr seid beide nicht zu retten.“
Aber in diesen Abgrund folge ich euch nicht.
Die Hände wie zur Abwehr erhoben ging er zur Tür und knallte sie scheppernd hinter sich ins Schloss. Winter rief ihm irgendetwas nach, doch er wollte es nicht hören. Ohne sich noch einmal umzublicken, stapfte er davon.
Winter
Sonnenaufgangsgebirge, kurz darauf.
Ein eisiger Gebirgswind zerrte an seinem hüftlangen Kupferhaar und fuhr durch sein Federkleid, das wie Herbstlaub erzitterte, während er mit halb geöffneten Schwingen am Rande eines Steilhangs kniete und betete. Zu wem betete ein verstoßener Avariel?
250 Jahre, dachte Winter.
Es war sein Wunsch gewesen, hier zu sterben, in der Nähe seiner Heimat. Mehr als 200 Jahre seines Lebens hatte er in der Stadt der Gläsernen Gesänge verbracht. Wahrscheinlich fühlte sich die Ewigkeit nicht viel anders an. Kein Wunder, dass er sich in der Welt der Menschen nie ganz zurechtgefunden hatte. Es war so, als ob man einen Baum aus dem Gebirge in ein Gewächshaus verpflanzte.
Schließlich wandte er sich zu ihr um.
„Noch ist es nicht zu spät“, murmelte Winter. „Ein Wort von dir und wir sind zurück in der Wüste.“
Als Antwort zog er sein Schwert. Seelentrinker. Seltsame Ironie des Schicksals.
„Muss ich irgendwas beachten?“
„Es sollte …“ Sie räusperte sich, um das heisere Kratzen loszuwerden. „Es sollte nicht zu schnell gehen.“ Gab es irgendeine Möglichkeit, das nicht sadistisch klingen zu lassen? „Ich meine, sonst … sonst verflüchtigt sich die Seele zu schnell und ich kann sie nicht … einfangen.“ Da war das heisere Kratzen wieder.
Mit seinen fremdartigen grün-goldenen Elfenaugen sah er sie eine Weile ausdruckslos an und sie musste ihre ganze Willenskraft aufbringen, um seinem Blick standzuhalten. Wenn er ihr auf diese Weise das stumme Versprechen abringen wollte, nach seiner Seele niemals wieder eine andere anzurühren, hatte er erreicht, was er wollte.
Warum musstest du mich auch so in die Enge treiben?
Schließlich kniete er sich hin, aufrecht und würdevoll, wie zum Ritterschlag. Mit geschlossenen Augen stieß er sich nach östlicher Tradition sein Schwert in die Brust – nur dass er sein Herz um einen Fingerbreit verfehlte, um es nicht zu schnell zu beenden. Winter fing ihn auf und bettete seinen Kopf an ihre Schulter, während er zitternd und ohne einen Laut sein Leben aushauchte. Als sein Blut den Schnee zu tränken begann und sie die ersten Takte seiner Seelenmelodie vernahm, spürte sie, wie ihr vor kalter Erregung Hände und Füße taub wurden.
Und dann war es um sie geschehen.
Das nächste, woran sie sich später erinnerte, war, dass sie im Schnee kauerte und, vom nackten Grauen gepackt, auf ihre klauenhaft verkrampften Hände starrte.
Blutige Federn.
Zitternd bog sie die eisstarren Finger auseinander, um sie abzuschütteln. Doch sie waren überall. In fiebriger Panik schrubbte sie sich mit Händen voller Schnee über Handflächen und Arme, um die Federn und das Blut abzuwaschen. Aber ihre Hände zitterten sosehr und der Schnee hob sich wie eine höhnische Leinwand gegen ihr blutiges Werk ab.
Oh Mann, ich werde verrückt.
Tränen rollten ihr lawinenartig über die Wangen und gefroren an ihren Wimpern zu Eiskristallen und ihr war so schrecklich, schrecklich kalt.
F-faust, flüsterte sie in die Leere ihres Geistes hinein. Faust, komm her, ich brauche dich. Bitte!
Aber Faust antwortete nicht.