Klagesängerin Lily Weg
Dies ist meine Geschichte, Fremder. Eine Geschichte voller Trauer, Verzweiflung und Hoffnung. Sie in Gänze zu erzählen würde Tage füllen, drum begnüge dich mit Szenen meines Daseins. Vom Anbeginn, bis zum heutigen Tag. Hör nur zu und sieh, wie ich zu dem wurde, was ich bin...eine Bardin, eine Klagesängerin... .
Warmes, prasselndes Kaminfeuer, eine helle Stimme, ein fröhliches Lied singend zum Klang der Laute, dies sind meine kostbaren Erinnerungen an die ersten Jahre.
Ein in Uniform gekleideter Mann betritt unser Haus. Mutter setzt mich in einen Laufstall in der Stube, Vater unterbricht das Studium seiner Lektüre und tritt an mich heran. Er schneidet Grimassen und macht Faxen. Ich betrachte ihn, lächle jedoch nur halbherzig, weil ich Mutters aufgebrachte Stimme aus der Küche höre. Ich verstehe nicht, was sie mit dem Uniformierten redet, aber sie klingt aufgeregt. Mein Name fällt, mein Herz hämmert, Vaters Grimasse friert ein. Die Stimmen aus der Küche werden lauter, Vater erhebt sich rasch und eilt zur Küche. Seine tiefe Stimme mischt sich unter die beiden anderen. Etwas stimmt nicht...mein Herz klopft zum Zerspringen. Wieder wird mein Name genannt, diesmal von Vater. Der Uniformierte erwidert etwas, die Küchentür fliegt auf und er schreitet zur Tür, vorbei an mir. Sein Blick trifft mich, eisig, hasserfüllt. Er geht fort, die Tür hinter sich zuknallend. Sein Blick gräbt sich für immer in mein Gedächtnis ein.
Er ist schuld.
Mutter schluchzt in der Küche, es zerreißt mir schier das Herz. Vater spricht beschwichtigend mit ihr. Ich sehe sie durch die halb geöffnete Küchentür. Er geht zum Regal und füllt sich Schnaps in einen Becher. Mutter sieht ihn bittend an. Er hält kurz inne, stürzt dann jedoch den Inhalt des Bechers in einem Zug hinunter.
Mutter blickt ihn an, ein tiefer Blick voller Sorge und voller Bitte, dann wendet sie sich ab und kommt zu mir. Sie summt ein Lied, beschwichtigend, einlullend. Ich werde schläfrig. Sie küsst mich und nimmt mich auf den Arm.
Als ich erwache, ist sie fort. Vater sitzt neben mir, seine Augen gerötet, sein Atem nach hochprozentigem Alkohol stinkend. Er versucht mir zu erklären, dass Mutter bald wiederkommt. Ein letzter Auftrag, keine große Sache. Ich spüre, dass er lügt.
Sie kam nicht wieder. Alles, was mir geblieben ist, ist ihre Laute. Ich lernte sie zu spielen, hoffte eines Tages so gut spielen zu können wie sie. Erinnerungen an die glücklichen Momente. Fetzen, die zu verblassen drohen.
Vater zerbrach an der Situation. Er soff sich zu Tode. Eines Morgens fand ich ihn, die Laute im Arm, an meinem Bett sitzend, kalt, grau, leblos... .
Viele kleine Betten, Husten, Schniefen in der Dunkelheit. Kleine Körper, die sich unruhig im Schlaf wälzen. Kratzige Bettwäsche und geflickte Kleider, Hafergrütze zum Frühstück, Suppe zum Mittag, zwei Scheiben Brot zum Abendessen. Eine strenge Halblingsfrau, die nun für mich sorgt. Für mich und die anderen 49 Waisenkinder. Der Hausmeister, ein Halbork, ist ein lustiger Geselle. Er schnitzt mir kleine Figuren, um mich aufzuheitern.
Oft spiele ich für ihn auf Mutters Laute, dann lächelt er. Abends, im dunklen Schlafsaal spiele ich für die anderen Kinder, deren Träume böse sind und sie nicht zur Ruhe kommen lassen. Ein warmes Gefühl breitet sich in mir aus, wenn ich merke, dass ihr Atem ruhiger geht und sie unbesorgt schlafen können. Wenigstens sie kann ich schützen. Für meine Eltern konnte ich nichts tun.
Mathilda, die Waisenhausvorsteherin erzählt mir eines Tages, warum meine Mutter fortging und wer sie war. Sie spricht mit einer Entgültigkeit von ihrem Tod, die mich schaudern lässt. Tief in mir ist ein kleiner, warmer Funken Hoffnung, genährt von den leuchtenden Fetzen der Erinnerung.
Ich muss den Uniformierten finden.
Er ist schuld.
Jahre vergehen im Waisenhaus. Auf meinen Gängen durch die Stadt halte ich stets Ausschau nach dem Mann. Ich forsche nach, wer er gewesen sein könnte. Eines Tages bricht meine Welt zusammen, welche Enttäuschung...der Mann ist tot.
Ich finde keine Ruhe und forsche weiter, der Keim der Hoffnung treibt mich an. Wohin ging sie? Mit wem ging sie fort? Fragen über Fragen, auf welche ich nur spärliche Antworten finde, hier in Suzail. Ich muss fort von hier.
Ich begann meine Ängste und meine Hoffnung in Gedichten zu kanalisieren. Es gibt Tage, an denen ich befürchte durchzudrehen. So allein fühle ich mich, dass die Gedichte meine Begleiter werden. Ich verliere mich in Tagträumen. Melodien weben sich um die Worte, meine Finger saugen die Töne gierig auf und schlagen die Saiten der Laute an. Die Lieder spenden mir Trost, doch mein Körper verlangt nach fester Nahrung. Ich trete in Tavernen auf, doch meine Lieder werden nicht gern gehört in den lauen Sommernächten. Das gemeine Volk verlangt nach fröhlichen Liedern, die Tavernenbesitzer auch, denn fröhliche Kunden verweilen länger und ihre Zeche ist höher. Kaum genug zum Überleben verdiene ich. Ich treffe andere Künstler, lerne Tanzen mit Schleiern und das Rezitieren von Sagen und Legenden. Dies hilft mir gerade eben meinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Eine feste Bleibe habe ich nicht. Der Kern der Hoffung treibt mich weiterhin um. Das Schicksal meiner Mutter und ihrer Gefährten bestimmt meinen Tagesablauf. Ich ziehe von Ort zu Ort, von Stadt zu Stadt, um Erkundigungen einzuholen, um Gewissheiten zu erlangen, um die Hoffnung zu nähren.
In Wheloon stehe ich vor den kalten, abweisenden Mauern einer einst prächtigen Villa. Ich verharre stundenlang vor dem Gebäude, vor meinem inneren Auge werden Szenen aus glücklichen Tagen lebendig. Hier war ich zuhause. Die Stimme meiner Mutter, ein fröhliches Lied singend, jemand repariert zum Klang ihres Liedes ein Fenster am Haus. Rauch steigt aus dem Schornstein, es duftet nach Kuchen. Drinnen necken sich zwei Leute.
Der Regen und die Nässe, welche meine Kleidung durchdringt, holen mich in die Wirklichkeit zurück. Grau ist das Gemäuer.
Es wird Winter. Die Kälte weicht nicht mehr aus meinen Knochen. Der eisige Wind pfeift zwischen den Häusern von Abendstern hindurch. Ich bin müde und lehne mich an die Wand eines Gebäudes. Ein Schatten fällt auf mein Gesicht, zwei goldene Augen blicken mich aus dem Dunkel unter einer Kapuze an. Ich fürchte mich nicht, es ist mir egal, was nun geschieht.
Die Gestalt spricht mit einer samtenen Stimme zu mir, die sich um mich legt wie ein warmer Mantel. Er ist kultiviert und höflich, stellt sich mir als Graf Strahd van Zarovich vor. Gebieter über ein fernes Reich, gerade auf der Durchreise und wichtige Geschäfte abschließend sei er. Er spricht von Ruhm, Reichtum und Anerkennung, von der Macht des Wortes und der Musik. Er sähe eine güldene Zukunft vor mir. Ich lache bitter und ringe mit den Tränen. Er findet tröstende, verheißende Worte. Er könne mir die Welt zu Füßen legen, der Preis sei nicht hoch. Loyal müsste ich ihm gegenüber sein und ihm meine Liebe als Pfand überlassen, dann wolle er dafür sorgen, dass ich die besten Schulen besuche und eine umfassende Ausbildung bekäme, welche mir die goldenen Pforten der Welt offenbaren würde. Meine Sinne wirbeln um mich her, seine Worte umfangen mich, lullen mich ein. Ich spüre ein tiefes Verlangen, ihm nachzugeben. Ich willige ein. Er nimmt meine Hand, zieht seine feinen Handschuhe aus, umschließt meine kalte Hand mit seinen Händen, führt sie zu seinen Lippen. Ein kurzer, heißer Schmerz durchfährt mich. Er lächelt, seine Zähne schimmern im trüben Licht der Laterne. Ist das ein Tropfen Blut am sonst makellosen Weiß der Zähne? Ich blicke auf meine Hand. Ein Tropfen Blut tropft vom Handgelenk in den Schnee. Nun sei unser Pakt besiegelt, sagt er. Ein Teil meines Geistes warnt mich, etwas stimmt nicht an dieser Szene, doch ich kann nicht zum Kern dessen vordringen, was jenseits des einlullenden Schleiers liegt. Er bedeutet mir ihm zu folgen, was ich gehorsam tue. Was ist schon die Liebe? Ich spüre nur Sehnsucht in mir. Was mir das Leben bisher bot, bietet keinen Platz für die Liebe.
Die nächsten Jahre verbringe ich an seiner Seite und in den besten Schulen des Landes. Mein musikalisches Talent wird ausgebildet, meine Stimme verfeinert. Ich trage nun den Titel „Bardin“. Wie in Trance lebe ich, der Gedanke an unseren Pakt ist längst aus meiner Erinnerung entschwunden. Er ist mein Gönner, mein Mätzen. Er öffnet mir die goldenen Tore der Welt. Nach meiner Ausbildung trete ich in den besten Etablissements auf. An einem Abend spiele ich soviel Gold ein, wie zuvor mein ganzes Leben lang nicht. Ich lerne einflussreiche Leute kennen: Kaufleute, Politiker, Offiziere, feine Damen und Künstler. Mein Leben ist ein Triumph, ein Rausch der Sinne. Mit meiner Stimme ziehe ich das Publikum in meinen Bann. Männer hatte ich viele, doch keinen liebte ich, zu sehr war ich im Ruhm meines Gesanges gefangen.
Tag um Tag vergeht auf diese Weise, bis eines Abends mit einem Schlag alles beendet ist. Im Publikum stand er. Ein hellblonder Jüngling von attraktiver Gestalt, mit feinen Gesichtszügen. Seine leicht gewellten Haare umrahmen seine großen, herbstfarbenen Augen, ein zartes Lächeln liegt auf seinen Lippen. Sein Blick trifft meinen Blick. Etwas in mir zerbricht, der Schleier der Hybris wird von mir genommen, er scheint direkt in mein schmerzendes Herz zu schauen, und gleichermaßen in meine verwundete Seele. Was ich vergessen glaubte fördert er mit einem Blick zu Tage, und spendet dabei Trost und Hoffnung.
Nach der Vorstellung spricht er mich an. Welch wohlklingende Stimme! Seine Hand ist warm und trocken, als sie über meine Wange streicht. Ich spüre, wie ich ihm verfalle, mich von ganzem Herzen in ihn verliebe. Ein kurzer Moment des Glücks, ein leidenschaftlicher Kuss, tiefe Blicke, unendliche Geborgenheit...und dann die schreckliche Gewissheit, dass ich ihn verlieren werde. Er, der mir wie ein Lebenselixier erscheint, ein Seelenverwandter, ist doch zugleich mein Untergang. Ein Opferlamm...für meinen Ruhm. Ich schluchze fürchterlich, bin von Krämpfen geschüttelt, er blickt mich fragend an, ich stammele Erklärungen. Er nickt, sein Blick von tiefer Trauer erfüllt. Und schon spüre ich IHN nahen...den Grafen. Unerbittlich reißt er uns auseinander, packt den Liebsten, trägt ihn fort. Ein letzter verzweifelter Blick voller Liebe, dann ist er fort.
Er ist schuld.
Ich hasse ihn! Will das Band zerschneiden, welches ihn mit mir und mich mit ihm verbindet. Doch schon wird mir bewusst, dass er mich nicht in Ruhe lassen wird. Auch wenn er fern scheint, auch wenn seine Geschäfte ihn zu binden scheinen, wird er nicht ruhen und stets ein Auge auf mich haben. Ich verfluche ihn, während ich
schluchzend zusammen breche. Ich kann tagelang nichts essen, will nicht mehr leben und kann doch nicht sterben, weil er mich irgendwie am Sterben hindert. Ich nehme all meinen Mut zusammen, um ihm zu trotzen. Etwas in mir flüstert, dass nur der Tod das Band durchschneiden kann, was mich an ihn bindet. Mit meinem Dolch schneide ich mir tief in den Unterarm und betrachte voller Faszination, wie der Strom meines Lebens aus mir herausrinnt. Schon wird mein Körper leicht, ich höre ihn fluchen und lächele still in mich hinein. Ich fröstele, höre seine Stimme kaum noch und fühle mich frei. Eine andere Stimme tritt in mein Unterbewusstsein, eine Melodie aus Kindertagen summend, vertraut, warm...sie bringt eine Saite in mir zum Klingen. Sie lockt mich aus der Dunkelheit, ein Schauer durchfährt meinen erkaltenden Körper, etwas in mir begehrt auf. Ich kann noch nicht aus dem Leben scheiden! Panik erfasst mich, die liebevolle Stimme wird leiser.
Ein Krachen holt mich zurück aus dem Traum in die Wirklichkeit des Wirtshauszimmers. Zerborstenes Holz fällt auf meinen am Boden liegenden, zitternden Körper. Aufgeregte Stimmen, jemand nimmt mich in seine starken Arme und trägt mich fort. Alles dreht sich um mich her und meine Sinne schwinden.
Ich erwache. Das freundliche, besorgt und zugleich erleichtert schauende Gesicht der Wirtin ist über mich gebeugt. Ein junger, kräftiger Kerl steht neben ihr, ihr Sohn vermute ich. Sie päppelt mich auf und nimmt mich in den Kreis ihrer Familie hinein.
Im Fiebertraum der langsamen Genesung erzählt mir Alexander von sich. Mein Körper heilt schnell, doch meine Seele ist krank.
Alexanders Geschichten strotzen vor Zorn und Kraft. Ich sauge seine Worte gierig auf. Einmal sehe ich ihn ohne Hemd. Zunächst dachte ich, meine noch schwachen Sinne narrten mich, als ich seine Tätowierung sah. Ein seltsames, verschnörkeltes Zeichen, einer Rune ähnlich, wie auch ich eines am Leib trage. Ich kann sein Zeichen lesen, obwohl ich diese Sprache nie bewusst gelernt habe. Ich lächele still vor mich hin und nehme mir vor, seine Geschichte aufzuschreiben, weil wir aus dem selben Ursprung entstammen. Das Schicksal führte mich zu einem weiteren Nachkommen der Greifen der Dämmerung.
Vielleicht ist dies der Beginn einer besseren Zeit.
Vielleicht werde ich ihm morgen mein Zeichen zeigen.
Vielleicht sind dort draußen noch mehr Sprösslinge der Greifen.
Vielleicht werden wir uns kennen lernen und etwas über den Verbleib unserer Eltern herausfinden.
Vielleicht wird am Ende doch noch meine Hoffnung über die Ausweglosigkeit triumphieren.