Auch die anderen kommen nun herein. Mit belegter Stimme frage ich, wie lange Elenya so bleiben wird. Garon antwortet mir als erster
„Vielleicht eine Stunde“, doch sein besorgter Blick straft seine Worte Lügen. Galmor antwortet uns: „Kommt drauf an, wie weit sie sich verirrt hat. Meistens finden sie irgendwann zurück.“ „Irgendwann?“ rufen Garon und ich entsetzt aus.
Ich blinzele und wechsele das Thema. „Und hierbei handelt es sich tatsächlich um Galmor?“, frage ich, auf den rotbärtigen Zwerg deutend. „Sieht so aus. Lily“, sagt Evendur. Und Garon klopft mir auf die Schulter: „Sieh es so: er wurde in dem Körper wiedergeboren, der seinem Geist am ähnlichsten war.”
Galmor der Zwerg wirft dem Magier einen missbilligenden Blick zu „Dann sei bloß froh, dass DU es nicht warst, der wiedergeboren wurde.“ Und Evendur ergänzt gehässig: „Er würde als Zecke wiedergeboren, darauf wette ich!“ „Wollen wirs ausprobieren?“, fragt Alexander, der soeben mit Gathan zu uns kommt. „Und wer ist DAS?“, will er auf den Zwerg deutend wissen.
„Ich bin Galmor.“
„Aha...warum sieht der so aus?“, fragt mich mein Freund nun. Ich versuche ihm in aller Kürze Elenyas Zustand und Galmors Aussehen zu erklären, dabei auch auf Garons Seelentheorie verweisend.
Garon wirft vergnüglich ein, dass er am liebsten als Illythid, wiedergeboren werden würde. Angeekelt wenden wir uns von ihm ab. Die Vorstellung Garons als Gedankenschinder ist mehr als unangenehm für uns, doch der lacht nur.
Unter diesen Umständen zweifelt Alexander jedoch an seinem Vorhaben, den Zauberer umzubringen, da ihm nicht mehr gesichert scheint, dass selbiger auch wirklich als Zecke wiedergeboren wird, die er leicht unter seinem großen Fuß zerquetschen könnte.
Ich beginne ein fröhliches, elfisches Lied auf meiner Handharfe zu spielen, welches Fremde in einem Dorf willkommen heißt. Ich hoffe dadurch Elenya den Weg zu uns leichter finden zu lassen. Doch Galmor wendet ein, dass ihr verirrter Geist das Lied vermutlich nicht hören kann.
„Dann trinken wir halt weiter Tee.“, biete ich an und verschwinde kurz in das Vorzimmer, wo ich für Elenya und mich jeweils eine Tasse des „besonderen“ Tees, den wir Corbert und Norri abnahmen, aufgieße. Als ich mit den beiden Tassen wieder zu den anderen komme, schnüffelt Alexander misstrauisch in meine Richtung.
„Wer hat diesen Tee gekocht?“, donnert er. Evendur zeigt auf mich, ich zeige auf den Kundschafter.
„Lilyyyyyyy!“, knurrt mich mein Freund bedrohlich an, „Ist es DAS , was ich denke, das es ist?“ Ich zucke nur die Achseln.
„Lily!!! Wo ist der Rest dieses Tees?!“
Galmor wirft interessiert ein: „Was ist das für ein Tee?“ Alexander schnaubt: „Dieser Tee stammt von Dieben und Betrügern!“ „Er hat scheinbar halluzinogene Wirkung“, merkt Evendur an.
Wütend funkele ich ihn an „Ach ja? Aber das Gold dieser Betrüger und Diebe war richtiges, gutes Gold? Das habt ihr bereitwillig genommen! Und mir meinen Tee verbieten! Das ist echt das Letzte!“
Der Tempus Priester blickt verstört von einem zum anderen und murmelt ein ungläubiges: „Ihr macht mir Angst.“
Evendur lenkt ein. „Lasst uns lieber gemeinsam überlegen, was wir nun machen. Wenn ich es richtig verstanden habe, so kann sich Elenyas Zustand noch Tage lang so hinziehen.“ „Soviel Zeit haben wir nicht“, fällt ihm Garon ins Wort, „Es ist unklar, was mit Leuten passiert, die nicht auf diese Ebene gehören. Ich schlage vor, hier zu rasten um unsere Wunden zu versorgen und unsere Zauber wieder zuerlangen. Danach sollten wir unverzüglich aufbrechen.“ „Aber was ist mit Elenya?“, frage ich besorgt und füge mit einer Spur von aufkommender Panik in meiner Stimme hinzu, „Sollen wir sie etwa hier zurücklassen?“ „Sie wird in der Lage sein, einfache Befehle auszuführen, denke ich. Ich werde mich um sie kümmern.“, beruhigt mich Galmor.
Er demonstriert uns, dass die Klerikerin in der Lage ist, uns zu folgen. Ihre Reaktionen sind teilweise sehr verzögert, ganz so, als würde sie länger darüber nachdenken müssen, was sie gerade tun soll.
Schließlich begeben wir uns zur Ruhe. Am nächsten Tag (wenn es der nächste Tag ist – schließlich haben wir kein wirkliches Zeitgefühl mehr, seit wir auf dieser verfluchten Ebene sind), besprechen wir noch mal die Inhalte der Briefe und die Konsequenzen, die diese auf unsere künftigen Handlungen haben werden. Elenyas Zustand ist nach wie vor unverändert.
Wir sind uns dahingehend einig, dass wir den Golem im Altarraum nicht herausfordern wollen, da wir uns sicher sind, dass sich die Gefangenen irgendwo jenseits eines schwarzen Canyons im Hort des Drachen Despayr befinden müssen. Die Cyric-Dienerin Ethar sagte schließlich, dass wir den schwarzen Canyon unter keinen Umständen betreten dürften.
Dieser Canyon schließt sich offensichtlich hier hinter dem Kloster an. Doch zunächst muss eine weite Strecke Sumpfland durchquert werden.
Ich gebe zu bedenken, dass wir vielleicht eine List ersinnen könnten, um den Drachen auf unsere Seite zu ziehen. Drachen sind äußerst intelligente Wesen, mit denen man durchaus verhandeln kann.
Alexander ist jedoch bockig, er will den Drachen töten und eine Trophäe mitnehmen. „Sein Kopf wäre eine angemessene Belohnung, finde ich.“ „Bruderherz, ich habe gehört, dass es Exemplare gibt, die mehrere hundert Fuß messen sollen“, bremst Evendur den Enthusiasmus des Barbaren, der ihm jedoch patzig entgegnet: „Bruderherz, ich habe auch von kleinen Exemplaren gehört.“
Garon unterbricht den Bruderzwist. „Was sollte der Drache davon haben, uns zu töten?“ Beide Söhne Gethacs wenden sich dem Magier zu und sagen unisono:
„Weil er Hunger hat?“
Schweigend verlassen wir das schwarze Kloster und bewegen uns langsam auf einem weiteren Pfad durch das Sumpfgebiet. Nach einer halben Ewigkeit unterbricht ein Fluss die bleierne Monotonie dieser Landschaft. Unser Pfad folgt dem stinkenden, schwarzen Gewässer. Irgendwann sehen wir Lichter in der Ferne.
Die Lichtquelle spornt uns an, unsere letzten Kraftreserven zu mobilisieren, denn eigentlich sind wir am Rande der Erschöpfung. In der Nähe des Lichtscheins suchen wir nach einem Rastplatz.
Nirgendwo fühlen wir uns sicher. Es ist so, als ob unsichtbare Augen uns beobachten würden. Irgendetwas scheint uns zu verfolgen. Hin und wieder schrecke ich auf, weil ich das Gefühl habe, eine eiskalte Hand läge auf meiner Schulter. Auch Alexander scheint sich verfolgt zu fühlen, da er mehrmals kurze Zornesausbrüche hat, sich wild umblickt und wütend sein Schwert zieht.
Elenya ist auch am Ende dieses Marsches noch apathisch. Garon, der bemerkt, was mit dem Barbaren und mir vor sich geht, ergreift das Wort: „Was auch immer hier ist...es ist entweder ätherisch, ein Schatten, oder nur in unseren Köpfen existent.“
„Ich weiß nicht, ob mich diese Information nun glücklicher macht“, meint Galmor lakonisch.
Wir errichten ein dürftiges Nachtlager in Sichtweite zu den Lichtern, die augenscheinlich eine Hütte an einer Anlegestelle beleuchten. Garon wirkt seinen Ausspähungszauber auf das Anwesen.
Vor einem Wasserfall steht also jenes kleine Haus. Hinter dem Haus führt eine Hängebrücke ins Dunkel. Am Anlegesteg stehen einige Kisten, die teilweise beschädigt und zerfallen sind. Im Tal, tief unterhalb des mächtigen Wasserfalls sind weitere Lichter zu sehen. Dort scheint eine größere Siedlung zu liegen.
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Ende des vierten Kapitels
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Das fünfte und letzte Kapitel folgt in Kürze