Teil 21: Das Ding, das nicht sein darfFortsetzung Session 02.02.2008Aus dem Eingang des Leuchtturms quoll ein riesiger Haufen aus Seifenblasen. Nicht die Art von Seifenblasen, die man gelegentlich auf Jahrmärkten zur Belustigung sieht - diese Blasen hatten eine schleimige Konsistenz und wirkten fremdartig und monströs. Außerdem bewegten sie sich nicht so, wie man es von toten Gegenständen erwarten würde, sondern so, als würden sie bewusst gesteuert oder wären von einem eigenen Willen beseelt. Zunächst breiteten sie sich auf dem Gras vor dem Leuchtturm aus, doch dann rollten sie aufeinander zu und verschmolzen zu einer einzigen, gewaltigen Blase.
Nach allem, was ich zu wissen glaubte, konnte das nicht sein. Nein - es
durfte nicht sein. In diesem Moment legte sich in meinem Kopf ein Schalter um. Ich nahm zwar noch bewusst wahr, was um mich herum geschah, aber was ich tat, war wider jegliche Vernunft: Pater Benedict erschien mir plötzlich als der Mann, der alles richtig machte. Wenn ich einfach alles genau so machen würde wie er, dann würde auch ich alles richtig machen. Also ahmte ich alles nach, was er tat.
Unglücklicherweise schien es Pater Benedict ähnlich ergangen zu sein wie mir: Er brabbelte nur noch Unsinn! Er fragte nach seiner Schwester, die in Amerika studiert, und sagte, er wolle nach Mailand in die Bücherei. Und ich hielt das für absolut vernünftig und brabbelte ihm alles nach. Dabei sah ich, wie die große Blase begann, sich langsam auf uns zu zu wälzen. Mrs. Stevens-McCormmick holte das Blatt Papier mit dem Symbol, das Darlene gezeichnet hatte, hervor und hielt es der Blase entgegen. Lady Gordon sprach kurz mit Pater Benedict und dieser ging ein paar Meter zurück, wobei er verkündete, dass er noch ein Schachspiel beenden und dann segeln gehen wolle. Ich folgte ihm und sagte das Gleiche.
Lady Gordon stellte sich ebenfalls der Blase in den Weg, wobei sie in der einen Hand die noch immer brennende Fackel hielt und mit der anderen einen kleinen Gegenstand aus ihrer Tasche zog und beides dem Ding entgegenstreckte. "Wir müssen uns weiter voneinander entfernen - auf dieser Muschel befindet sich das Zeichen ebenfalls!", rief sie Mrs. Stevens-McCormmick zu. Wo hatte sie denn diese Muschel her? Wie auch immer, jedenfalls schien sie zu wirken: Die Blase wälzte sich von den Damen weg nach links auf einige Büsche und ein kleines Wäldchen zu.
Mrs. Stevens-McCormmick eilte nach links und postierte sich zwischen dem Wäldchen und der Blase. "Verschwinde, Du Mistding!", schrie sie dabei. Dann jedoch zuckte sie kurz, knüllte das Blatt Papier mit dem Symbol zusammen und warf es achtlos beiseite.
"Heben Sie das sofort wieder auf!", befahl Lady Gordon und rannte auf sie zu. Kurz vor Mrs. Stevens-McCormmick hielt sie jedoch inne und starrte ihr in die Augen. Was sie sah, schien ihr nicht zu gefallen. Plötzlich versuchte Mrs. Stevens-McCormmick, sich äußerst undamenhaft auf Lady Gordon zu werfen, bekam sie jedoch nicht zu packen. Die Blase nutzte die Gelegenheit, um die Richtung zu wechseln: Nun wälzte sie sich direkt auf Pater Benedict, mich und den Wald hinter uns zu!
Als Lady Gordon dies bemerkte, hastete sie auf ihre alte Position zwischen uns und der Blase zurück und versuchte, das Ding mit ihrer Fackel und der Muschel zurückzutreiben. Mrs. Stevens-McCormmick rannte ihr hinterher und wollte ihr einen Fausthieb versetzen, traf jedoch nicht. Abermals wechselte die Blase die Richtung und bewegte sich nun nach schräg links auf den Wald hinter uns zu.
Pater Benedict schreckte auf einmal hoch, als wäre er aus einem bösen Traum erwacht. Ohne eine weitere Sekunde zu verlieren, sprang er auf Mrs. Stevens-McCormmick zu und versuchte, sie zu packen. Es wäre ihm auch gelungen, wenn sie ihn nicht durch einen schmerzhaften Rippenstoß hätte abwehren können. Ich folgte ihm auf dem Fuß und wurde ebenfalls durch einen Hieb von Mrs. Stevens-McCormmick zurückgeschlagen.
"Sie hat das Papier fallenlassen! Falls Sie es sehen, heben Sie es auf!", rief Lady Gordon Pater Benedict zu, während sie weiterhin versuchte, das Ding auf Distanz zu halten und sogar einige Schritte drohend auf es zu ging. Nichtsdestotrotz gelang es der Blase, sich weiter dem Wald zu nähern, wobei sie jedoch einen gewissen Abstand zu Lady Gordon einhielt. Erneut versuchte Mrs. Stevens-McCormmick, Lady Gordon ihre Faust ins Gesicht zu schlagen, diese konnte sich jedoch geschickt unter dem Hieb wegducken. Pater Benedict gelang es schließlich, sich auf Mrs. Stevens-McCormmick zu stürzen und sie festzuhalten. Als er jedoch sah, dass ich das Gleiche vorhatte, ließ er sie los und schubste sie mir direkt in die Arme. Während ich sie fest umklammerte, lief er in die Richtung, die Lady Gordon ihm gewiesen hatte, und suchte nach dem zerknüllten Blatt mit dem Symbol. Lady Gordon hatte es jedoch offenbar vor ihm gesehen: Sie eilte zu der Stelle und hob das Papier auf. Mrs. Stevens-McCormmick versuchte, sich aus meinem Griff zu befreien, aber es gelang ihr nicht. Sie hatte genau den gleichen kalten, leeren Blick in ihren Augen wie Charles Johnson.
Die Blase hatte den Waldrand fast erreicht. In diesem Moment ließ ich Mrs. Stevens-McCormmick los, lief zu Pater Benedict und tat so, als ob ich irgendetwas suchen würde. Darauf hatte die Festgehaltene natürlich nur gewartet: Sofort rannte sie zu Lady Gordon und versuchte zum wiederholten Male, ihr einen Faustschlag zu verpassen. Glücklicherweise konnte Letztere jedoch ebenfalls zum wiederholten Male dem Hieb ausweichen.
Pater Benedict sprang zu Lady Gordon und nahm ihr das Blatt Papier mit dem Zeichen aus der Hand, doch es war zu spät: Die Blase hatte den Waldrand bereits erreicht. Lady Gordon machte ein paar Schritte in den Wald hinein und stellte sich dem Ding erneut in den Weg. Ich folgte ihr und versuchte, ihr die Muschel aus der Hand zu nehmen. Sie fluchte, konnte jedoch ihre Hand glücklicherweise rechtzeitig wegziehen.
Die Seifenblase hatte sich inzwischen ein Stück in den Wald hinein geschoben. Mit schmatzenden Plopplauten löste sich die große Blase in einen Teppich aus einer Unzahl vieler, kleiner Blasen auf, die gleich darauf im Unterholz verschwanden. Sofort rannte Pater Benedict zu der Stelle, an der wir die Lunte angezündet hatten, und griff nach dem Benzinkanister, der immer noch dort stand. Der Rest von uns beobachtete staunend das Schauspiel, das uns die Seifenblase bot, und bemerkte so zu spät, dass sich Mrs. Stevens-McCormmick inzwischen wieder genähert hatte. Sie stand in drei Metern Entfernung und hatte den Arm in Richtung Lady Gordon ausgestreckt. In ihrer Hand hielt sie den .38er Revolver aus Brewers Schreibtisch.
Wie in Zeitlupe sah ich, wie sie kaltblütig Lady Gordon anvisierte, den Abzug drückte und der Hahn auf den Schlagbolzen hämmerte. Krachend löste sich der Schuss - und schlug in einen Baum direkt neben Lady Gordons Kopf ein, so dass uns die Holzsplitter um die Ohren flogen.
"Jetzt reicht's mir aber", kommentierte Lady Gordon diesen Anschlag auf ihr Leben, machte einen Satz nach vorne und versetzte Mrs. Stevens-McCormmick im Sprung einen derart heftigen Tritt an die Schläfe, dass diese zu Boden sackte und reglos liegen blieb.
Der Schuss hatte auch mich endlich wieder zur Besinnung gebracht. Ich legte meine Elefantenbüchse an, doch es bot sich mir kein Ziel. Ich wusste noch, an welcher Stelle die kleinen Blasen im Unterholz verschwunden waren, also zielte ich einfach dorthin. Schnell wurde mir jedoch klar, dass es keinen Sinn mehr hatte: Die große Blase hätte ich vielleicht mit einem Schuss zum Platzen bringen können, aber ich konnte unmöglich jede einzelne von den kleinen Blasen abschießen - selbst wenn sie sich mir gezeigt hätten. Meine Chance war vertan. Zorn wallte in mir auf. Ich war in dieser Situation nicht nur keine Hilfe gewesen, sondern sogar ein Handicap für die anderen. Frustriert und wütend über mich selbst drückte ich ab und jagte zwei Kugeln in den Waldboden.
"Das hier wird eher etwas bringen", ertönte die Stimme von Pater Benedict. Er war gerade im Begriff, das restliche Benzin aus dem Kanister, mit dem Mrs. Stevens-McCormmick die Lunte gelegt hatte, am Waldrand auszuschütten. Allzu viel war jedoch nicht mehr übrig. Ich bezweifelte, dass es ausreichen würde, um einen Waldbrand zu entfachen, aber eine bessere Idee hatte ich auch nicht parat. Lady Gordon begab sich zu Pater Benedict und ich hob den Revolver auf, zog Mrs. Stevens-McCormmick aus dem Wald heraus, legte sie vorsichtig rücklings ins Gras und untersuchte sie kurz. An ihrem Kopf prangte eine gewaltige Beule, die mir jedoch nicht lebensbedrohlich erschien. Wahrscheinlich würde sie innerhalb der nächsten Minuten ihr Bewusstsein wiedererlangen.
"Meinetwegen können Sie sie auch im Wald liegenlassen", merkte Lady Gordon an, als sie meine Hilfsmaßnahmen beobachtete, und warf ihre Fackel in das Benzin. Es gab eine Stichflamme und tatsächlich fingen das Unterholz und die untersten Äste der ersten Baumreihe Feuer, auch wenn es mehr qualmte als brannte. "Ich weiß nicht, was in sie gefahren ist, aber ich glaube nicht, dass sie mit Absicht auf Sie losgegangen ist", versuchte ich Lady Gordon zu beschwichtigen. "Sie hat auf mich geschossen! Dafür sollte sie besser eine verdammt gute Erklärung haben", erwiderte sie. "Haben Sie ihren Blick gesehen?", entgegnete ich, "wie der von Johnson."
"Wir haben momentan drängendere Probleme", warf Pater Benedict ein, "wir brauchen mehr Benzin." Die Bäume brannten zwar an der Stelle, an der er den Kanister ausgeleert hatte, aber so recht schien sich das Feuer nicht ausbreiten zu wollen - der Wald war einfach zu feucht. Wir berieten kurz, wie wir weiter vorgehen sollten. Das Ding hatte sich in das kleine Wäldchen im nordwestlichen Teil der Insel zurückgezogen. Wenn es uns gelingen würde, dieses Wäldchen niederzubrennen, dann könnten wir es vielleicht noch erwischen. Auch wenn die Chance gering war, versuchen mussten wir es auf jeden Fall - eine solche Nacht wie die letzte wollten wir nicht noch einmal erleben. Pater Benedict erklärte sich bereit, mit der Schubkarre zum Sanatorium zurückzukehren, um weitere Benzinkanister zu holen. Lady Gordon und ich wollten in der Zwischenzeit sicherstellen, dass das Ding das Wäldchen nicht verließ und vor allen Dingen nicht in den großen, zentralen Wald der Insel überwechselte.
Wir entschieden uns, die immer noch bewusstlose Mrs. Stevens-McCormmick sicherheitshalber zu fesseln und in die Schubkarre zu legen, damit Pater Benedict sie zum Sanatorium mitnehmen konnte. Vielleicht war Dr. Tiller ja in der Lage, ihr irgendwie zu helfen. Lady Gordon zog ein Seil aus ihrer Tasche und verknotete nicht ohne eine gewisse Genugtuung die Hände und Füße der angriffslustigen Geschichtslehrerin, dann hoben wir sie in die Schubkarre und Pater Benedict machte sich auf den Weg.
Lady Gordon drückte mir das Blatt Papier mit dem Symbol in die Hand. Mir fiel ein, dass sie ja noch immer diese Muschel hatte, deren Herkunft mir unbekannt war. Ich entschied mich jedoch, sie später dazu zu befragen. Wenn meine Vermutung stimmte, dann barg die Antwort einiges an Konfliktpotenzial, und ein Streit war das Letzte, was wir jetzt gebrauchen konnten. Zu ändern war es ohnehin nicht mehr. Glücklicherweise war das kleine Wäldchen genau so groß, dass wir uns in Sichtweite voneinander aufstellen und dabei gleichzeitig die gesamte Freifläche zwischen dem kleinen und dem großen Wald im Auge behalten konnten.
Es würde etwa zwei Stunden dauern, bis Pater Benedict wieder zurückkehren würde - Zeit genug, um meine Gedanken etwas zu ordnen und über das soeben Erlebte nachzugrübeln. Zunächst einmal war da natürlich die Frage, was wir da gerade gesehen hatten. Es erschien mir nur schwer vorstellbar, dass es sich um ein Lebewesen gehandelt hatte. Aber was hätte es sonst sein sollen? Eine Art natürliches Phänomen, eine chemische Reaktion, ausgelöst durch das Feuer? Dazu hatte es sich zu planmäßig bewegt. Hatten wir das Ding vielleicht nur halluziniert, unsere Gehirne weich geklopft durch die Ereignisse der letzten Tage und die Geschichten, die uns die Patienten erzählt hatten? Möglich wäre das. Im Grunde erschien mir das sogar noch am Plausibelsten, auch wenn ich mir nicht erklären konnte, warum wir dann alle zur gleichen Zeit das gleiche Ding halluziniert hatten. Oder handelte es sich tatsächlich um ein Monster aus der altägyptischen Mythologie? Fragen, die mir niemand würde beantworten können.
Tatsächlich tauchte Pater Benedict nach zwei Stunden wieder auf. In der ganzen Zeit war mir nichts Ungewöhnliches aufgefallen und auch Lady Gordon hatte nichts dergleichen signalisiert. Als sich der Pater näherte, sah ich, dass er zwei Benzinkanister dabei hatte. Seiner finsteren Miene entnahm ich jedoch, dass irgendetwas anderes nicht stimmen konnte. "Mrs. Stevens-McCormmick", grunzte er zur Begrüßung. "Sie ist abgehauen."
Pater Benedict berichtete, dass sie etwa nach zwei Dritteln der Strecke aufgewacht wäre. Irgendwie hätte sie es geschafft, sich aus den Fesseln zu befreien und wäre dann einfach in Richtung des großen Waldes gerannt. Es wäre alles so schnell gegangen, dass er nichts mehr hätte unternehmen können. Er hätte dann nur noch das Benzin geholt und sei so schnell wie möglich wieder hierher zurückgekommen.
Lady Gordon hatte wohl Pater Benedict gesehen und näherte sich uns nun. Als sie eingetroffen war, wiederholte der Pater seinen Bericht. "Haben Sie denn Dr. Tiller nicht gewarnt?", fragte Lady Gordon, "was ist, wenn sie zum Sanatorium rennt und ihm oder den Patienten etwas antut?" Pater Benedict blickte uns betroffen an und sagte nichts. Offenbar war ihm diese Möglichkeit nicht in den Sinn gekommen.
Wie dem auch sei, nun war es eh zu spät, um Dr. Tiller zu warnen. Wir verteilten den Inhalt der beiden Benzinkanister auf einer möglichst großen Fläche am Rand des kleinen Wäldchens, dann warfen wir ein Streichholz hinein. Fauchend loderte eine Feuerwand auf, die sogleich begann, sich in den Wald hineinzufressen. Schnell stellte sich jedoch auch hier heraus, dass das Spektakel rasch vorbei sein würde. Sobald das Benzin verbrannt war, verlor das Feuer merklich an Kraft. Um das feuchte Holz zu entzünden, hätte es zuvor wesentlich länger größerer Hitze ausgesetzt werden müssen, als es mit dem heftig, aber nur kurz brennenden Benzin möglich war. Auch weitere Kanister würden an dieser Tatsache nichts ändern.
Hilflos standen wir vor dem Wäldchen und mussten mit ansehen, wie sich unsere letzte Hoffnung, dieses Mistding heute doch noch zu erwischen, buchstäblich in Rauch auflöste. "Lassen Sie uns gehen", meinte Lady Gordon schließlich, "und nachsehen, was im Sanatorium los ist."
Wir luden die drei verbliebenen leeren Benzinkanister auf die Schubkarre und machten uns auf den Rückweg.
Ende Session 02.02.2008Fortsetzung in Teil 22: Die verlorene Tochter