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Stadt der gläsernen Gesänge

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Niobe:
Nimoroth
Abends an der alten Miene
Nimoroth hing kopfüber über dem Eingang der Höhle und wartete. Er mochte diese Gestalt. Seine Ohren nahmen selbst das leiseste Geräusch wahr und die Fähigkeit in völliger Dunkelheit sehen zu können, hatte ihm schon so manches Mal zum Vorteil gereicht. Außerdem waren Fledermäuse schnell und wendig und zu alltäglich, um Misstrauen zu erregen. Abgesehen davon war sein Versteck um einiges geräumiger als das seiner Freunde, die zu viert unter einer magischen Illusion zwischen den Felsen harrten. Sie warteten auf Elijas Avalior und seinen Kontaktmann. Winter hatte auf dem Tränenball eine Nachricht abgefangen, die ein geheimes Treffen zwischen dem Fürsten und den Rebellen vermuten ließ.
Plötzlich ein gleißendes Licht.
In Nimoroths schwarzen Augen spiegelte sich das Feuer, als ein sengender Strahl die Illusion durchbrach, unter der sich die anderen versteckt hielten. Abwartend starrte er in Richtung der Felsen, bereit in Windeseile seine Gestalt zu wechseln, falls es zum Kampf kommen sollte. Zwei Ungeflügelte traten mit gezogenen Waffen aus dem Nichts; ein Avariel landete mit ausgebreiteten Schwingen ein Stück von ihnen entfernt. Nimoroth erkannte ihn als den Rebellenführer Thanduin, dessen Auftritt auf dem Ball der Shantileas für einiges Aufsehen gesorgt hatte. Die Rebellen mussten sich unter einer magischen Aura der Unsichtbarkeit und Stille angeschlichen haben, denn Nimoroth hatte sie trotz seiner geschärften Sinne nicht kommen gehört.
Wenn das eine Falle ist, wirst du es bitter bereuen, erinnerte er sich an den Wortlaut der Nachricht. Offenbar hatten die Rebellen mit einem Hinterhalt gerechnet. Doch das hatten sie offenbar nicht erwartet.
„Halt!“, befahl Thanduin den anderen beiden auf Elfisch. „Es sind die Fremden.“
Seine beiden Begleiter traten zurück, ließen ihre Waffen jedoch gezückt.
„Ist das einer deiner Tricks, Elijas?“, fragte Thanduin argwöhnisch. Auf sein Zeichen hin wirkte einer der Ungeflügelten einen Erkenntniszauber. Einen Augenblick später gab er nickend Entwarnung. Keine Illusion. Nimoroth entspannte sich.
„Verzeiht die feurige Begrüßung“, entschuldigte sich der Rebellenführer und musterte die ertappten Spione mit einer Mischung aus Erheiterung und Achtsamkeit. Seine Flügel waren weiß mit schwarzen Schwungfedern und die dunklen Ringe unter seinen Augen zeugten ebenso wie seine verschmutze Elfenrüstung vom harten  Leben in den Bergen. „Ich glaube, ihr seid mir eine Erklärung schuldig.“
Von seinem Versteck aus beobachtete Nimoroth wie er die anderen in die Höhle führte, während die seine Begleiter vor dem Höhleneingang Wache hielten. Winter setzte zu einer weitschweifigen Lüge an, kaum dass sie die Miene betreten hatten. Doch Grimwardt winkte ab. Offenbar hielt er in diesem Fall die Wahrheit für angebrachter. Nachdem er seinen Bericht beendet hatte, blickte Thanduin eine zeitlang grüblerisch von einem zum anderen.
„Ein gestohlenes Drowartefakt, ein untoter Drache und eine verschwundene Nekromantin“, fasste er zusammen. „Und ihr glaubt, dass Elijas mit all dem etwas zu tun haben könnte?“
„Um das herauszufinden, sind wir hier“, erklärte Grimwardt. „Habt Ihr eine Ahnung, weshalb er mit Euch sprechen will?“
„Nein“, erklärte Thanduin. Ein düsterer Funke trat in seine heiteren Augen und er zögerte, ehe er fortfuhr. „Elijas und ich waren Freunde… Waffenbrüder. Damals in Myth Drannor. Der Elfenkreuzzug hat viele von uns verändert. Für viele war es das erste Mal, dass sie die Welt jenseits der Berge kennen lernten. Mit der neuen Welt kamen neue Ideen. Wir begannen die Gesellschaftsordnung unserer Väter in Frage zu stellen. Wenn alles Leben den gleichen Wert hat, wie der Kronrat und die Gueserim predigten, weshalb behandelten wir die Ungeflügelten wie Bürger zweiter Klasse? Wieso ließen wir die Welt im Stich, deren krönende Spitze wir angeblich waren? Fragen, denen wir uns stellen mussten.“ Er breitete selbstironisch die Arme aus. „Ihr wisst, wohin sie mich geführt haben. Elijas und ich riefen die Bewegung der Rebellen gemeinsam ins Leben. Doch Elijas ging die Sache zu weit, als wir anfingen, Patrouillen anzugreifen. Er sagte, wir steuerten auf einen Bürgerkrieg zu, den wir nicht gewinnen können.“ Thanduins Züge wurden hart. „Und dann verriet er mich an den Kronrat. Als Admiral der Valendár hatte ich heimlich angefangen, Ungeflügelte in den Kriegskünsten der Klingensänger auszubilden. Elijas verriet mich an seine Tante. Dadurch war ich gezwungen, aus der Stadt zu fliehen, um der Verhaftung zu entgehen.“
„Seine Tante?“, entfuhr es Winter.
Thanduin schnaubte düster. „Das hat er wohl vergessen zu erwähnen, wie? Seine Mutter war die Schwester der Fürstin Shantilea.“
„Dann steht er also jetzt auf deren Seite?“
„Unwahrscheinlich. Die Shantileas lassen niemanden in den engeren Kreis, der nicht reinen Blutes ist.“
„Vielleicht hat er versucht, in diesen Kreis hinein zu kommen.“
Thanduin zuckte mit den Schultern.
„Was ist mit der Nekromantin?“, bohrte Winter weiter. „Anael Silbertau, die verschwundene Magierin. Hat Elijas je von ihr gesprochen? Vielleicht hat er einige ihrer Vorlesungen besucht?“
„Gut möglich. Anael Silbertau war seine Geliebte.“
„Seine…? Oh.“
„Heimliche Geliebte, genauer gesagt. Sie war schließlich eine Ungeflügelte und er stammt aus einer hoch angesehenen Familie.“
„Und nun trefft ihr Euch hier mit ihm, obwohl er Euch verraten hat?“, wunderte sich Kalith. „Haltet ihr das nicht für…“
„…einen Fehler?“ Thanduin lächelte schief. „Vielleicht. Ich bin neugierig, das ist alles.“
In diesem Moment trat einer der beiden Rebellen, die vor der Höhle Wache hielten, an Thanduin heran, um Elijas’ Ankunft anzukündigen. Während seine Freunde sich in einem der Stollen versteckten, kroch Nimoroth an der Decke entlang nach draußen, wo Elijas gerade von dem zweiten Rebellen nach Waffen durchsucht wurde. Der Avariel zögerte, bevor er die Höhle betrat, und blieb schließlich unschlüssig im Höhleneingang stehen.
„Elijas.“ Thanduin trat aus dem Dunkel der Höhle auf ihn zu.
„Können wir nicht draußen reden?“ Elijas’ Blicke streiften unruhig das Höhleninnere. „Du weißt, was ich von geschlossenen Räumen halte.“
Klaustrophobie, dachte Nimoroth. Eine Schwäche, die zu kennen ihnen womöglich von Vorteil sein konnte.
„Rede.“ Argwöhnisch verschränkte der Rebellenführer die Arme vor der Brust.
„Komm morgen während der Portalöffnung in die Stadt.“
„Warum?“
„Die Bürger der Stadt sollen sehen, dass du die Portalöffnung unterstützt. Es ist ein Schritt in die richtige Richtung.“
„Die Wachen werden mich festnehmen, ehe ich die Festwiese erreiche.“
„Nein. Vertrau mir. Niemand wird dich aufhalten.“
„Dir vertrauen?“ Thanduin zog ironisch eine Augenbraue in die Höhe. „Klar. Sehr überzeugend.“
Für einen Augenblick maß Elijas Avalior seinen einstigen Freund mit kühlen Blicken.
„Welche Alternative hast du, Thanduin?“, fragte er schließlich mit leiser, schneidender Stimme. „Willst du die Revolution ausrufen und Mathalaya das perfekte Alibi liefern, endgültig mit dir und deinen Leuten abzurechnen? Komm morgen oder führe deine Freunde in den Untergang. Deine Entscheidung.“
Mit diesen Worten wandte er sich um und flog davon. Nimoroth folgte ihm. Doch schon nach kurzem hatte er den Avariel im Nebel verloren. Er war schnell. Verdammt schnell.
Als Nimoroth wieder am Treffpunkt an der Alten Miene eintraf, waren Thanduin und seine beiden Begleiter bereits im Aufbruch.
„Reine Zeitverschwendung“, knurrte der Rebellenführer, während er wütend aus der Höhle stapfte.
„Dann werdet Ihr also nicht darauf eingehen?“, fragte Winter, die ihm gefolgt war.
„Und geradewegs in die Falle tappen?“, schnaubte Thanduin. „Glaubt er, ich sei zu blöd oder dieser Hinterhalt zu offensichtlich?“ Doch seine Blicke glitten unruhig über die Landschaft und sein Zorn bezeugte, dass Elijas’ Warnung ihn an einem wunden Punkt getroffen hatte.
„Eines noch“, wollte Winter wissen. „Wenn Ihr nicht in die Stadt hinein könnt, wie erklärt sich dann Euer Auftritt auf dem Tränenball?“
Thanduin sah sie verdutzt an. Dann lachte er plötzlich auf und seine düstere Stimmung hellte sich ein wenig auf.
„Ein Bubenstreich“, sagte er zwinkernd. „Wie ich sagte: Ich war Admiral bei den Valendár. Schön zu wissen, dass sich der ein oder anderer meiner Schüler noch an mich erinnert.“
Nachdem Thanduin und die beiden Rebellen den Treffpunkt verlassen hatten, verwandelte sich Nimoroth zurück.
„Und?“, fragte Winter. „Was hältst du davon?“
„Ich bin nicht sicher“, sagte Nimoroth. „Aber irgendetwas wird morgen bei der Portalöffnung geschehen und Elijas Avalior scheint mehr darüber zu wissen. Wir sollten ihm einen Besuch abstatten.“
Winter nickte.

Kalith
Am nächsten Tag im Sonnenaufgangsgebirge
Ihnen blieb nicht viel Zeit, um die verschwundene Nekromantin zu finden. Die Portalöffnung sollte zur siebten Stunde stattfinden und selbst auf den Greifen, die sie geliehen hatten, dauerte der Flug bis zur Ruine mehr als vier Stunden.
Als sie am Abend zuvor nach Immerschwinge zurückgekehrt waren, hatten sie Elijas nicht in seinem Palast angetroffen. Kalith hatte daraufhin zusammen mit Nimoroth die Hochadmiralin der Valendár aufgesucht, um sie von der möglichen Bedrohung zu unterrichten und einen Haftbefehl für den Avarielfürst zu erwirken. Doch wie sie befürchtet hatten, waren der Einhornjungfrau die Hände gebunden, solange nichts Konkretes gegen Elijas Avalior vorlag. Sie hatte den Cousins lediglich zusichern können, dass sie die Wachen, die um die Festwiese placiert werden sollten, verstärken und auf einen möglichen Anschlag vorbereiten würde.
Während die Täler und Berge des Sonnenaufgangsgebirges unter ihnen dahin flogen, hing Kalith seinen Gedanken nach. Erster Leutnant unter Hauptmann Fflar Sternbraue und Botschafter von Myth Drannor. So war nun sein offizieller Titel. Er hatte es weit gebracht. Mit nicht einmal 100 Jahren hielt er die drittwichtigste Position am Elfenhof von Cormanthyr inne. Und doch blieb ein Funken Wermut. Kalith war sich bewusst, dass ihm ohne Aryvelahr Kerym keine dieser Ehren jemals zuteil geworden wäre. Was, wenn er es einfach hätte im Staub der Arena liegenlassen, jenes verrostete alte Schwert? Damals in jener Ruinenstadt im Unterreich? Was wenn Corellon ihn nicht als Träger einer Elfenklinge für würdig erachtet hätte? Man hätte ihn nie nach Myth Drannor eingeladen, hätte ihm nie einen Sitz im Elfenrat angeboten. Manchmal fragte er sich, was die Großen von Myth Drannor tatsächlich von ihm hielten. All die Mondelefen, die respektvoll den Kopf neigten, wenn er ihnen morgens auf dem Weg ins Hauptquartier der Elfenritter begegnete. Genau wie Fürstin Ilsevele war er ein Auserwählter Corellons; sie würden seinen Machtanspruch niemals öffentlich in Frage stellen. Und doch: Er war ein Waldelf, ein Unzivilisierter in den Augen vieler. Er würde niemals wirklich Teil ihrer Gesellschaft sein und manchmal fragte er sich, ob er das überhaupt gewollt hätte, wenn er eine Wahl gehabt hätte. Er war ein Krieger und Abenteurer; die Diplomatie lag ihm nicht. Nimoroth sollte Botschafter von Myth Drannor sein, nicht er.
„Das muss es sein“, übertönte in diesem Moment Winters Ausruf seine Gedanken.
Die Greifen kreisten über einer kleinen Flussinsel, die den Thaylambar westlich der Wasserfälle teilte. In ihrer Mitte erhoben sich die Ruinen eines ehemaligen Außenpostens der Raumatar. Die Gefährten ließen sich bei der Ruine absetzen. Nur ein paar überwucherte Mauern und Schutthaufen, längst von der Natur zurück erobert, waren von der Festung geblieben. Die Gefährten begannen sofort mit der Suche nach einem Zugang zu den unterirdischen Gängen des ehemaligen Gebäudekomplexes.
Kalith fand durch einen Erkenntniszauber heraus, dass es auf der anderen Flussseite einen Geheimgang gab. Wahrscheinlich ein Fluchtweg für Notfälle. Dort angekommen, fanden sie eine Bodenklappe, die eine Stufenleiter enthüllte, die in einem Gang endete, der unter dem Fluss hindurch in die Kellerräume der Festungsanlagen führte. Die Gefährten passierten Gänge, von denen ehemalige Vorratskammern abzweigen, und gelangten schließlich in einen alten Gefängnistrakt. Winter, die alle Türen nach Fallen untersuchte, führte die kleine Gruppe an; Kalith bildete das Schlusslicht. Als sie um eine Ecke in einen weiteren Gang einbogen, schrie Winter plötzlich auf. Im nächsten Moment senkte sich die Decke auf sie herab und…. verschlang sie.
Kalith erhaschte gerade noch einen Blick auf drei schleimige Tentakel, die aus dem gigantischen Schlund wuchsen, ehe sich vor ihm eine steinerne Barriere in die Höhe wand, die ihn von Winter und dem Höhlenmonster trennte.

Winter
„Versuch dich raus zu schneiden“, klang dumpf Grimwardts Stimme an Winters Ohren. Sie versuchte zu antworten, doch etwas quetschte ihren Brustkorb zusammen und raubte ihr den Atem. Der Gestank war unerträglich. Ein Schwall klebriger, säureartiger Substanz goss sich von oben auf sie herab und Winter begriff, dass dieses Ding gerade im Begriff war, sie zu verdauen.
Der Gedanke machte sie wütend.
Strampelnd griff sie nach ihrem Dolch und stieß ihn in das schwammige Fleisch, das sie von allen Seiten erdrückte. Das Ding, das sie auffraß, zuckte zusammen und für einen Augenblick ließ der Druck auf ihre Brust nach. Winter schnappte nach Luft. Kurz darauf durchzuckte sie ein sengender Schmerz, als elektrische Stöße ihren Körper erbeben ließen. Glücklicherweise war auch das Monster getroffen, was Winter einen weiteren Atemzug verschaffte. Weitere elektrische Stöße blieben aus. Die anderen mussten begriffen haben, dass ihre Zauber auch ihr schadeten. Winter hackte weiter auf ihren Peiniger ein und kämpfte darum nicht das Bewusstsein zu verlieren. Dann spürte sie Doriens Geist in ihrem Kopf.
Na endlich, das wurde aber auch Zeit.
Winter gab dem Drängen von Doriens Versetzungstrick-Zauber nach und lag im nächsten Moment schwer atmend dort, wo eben noch der Hexenmeister gestanden hatte. Grimwardt beugte sich über sie.
„Alles in Ordnung?“
Sie warf ihm einen säuerlichen Nach-was-siehts-denn-aus-Blick zu und taumelte auf die Beine.
„Kannst du mich da rein befördern?“, rief ihr Nimoroth von der Frontlinie aus zu. „Ich fetz’ das Vieh auseinander!“
Mit einem verwandten Versetzungszauber vertauschte Winter die Standorte von Dorien und Nimoroth. Der Elfendruide hatte nicht zu viel versprochen. Winter sah noch für den Bruchteil einer Sekunde einen Säbel aus dem Rücken des Monsters herausragen. Dann regnete es Eingeweide.
„Schnell, wir müssen weiter“, erklärte Winter, nachdem Grimwardt ihre gebrochenen Knochen geheilt hatte. „Die Zeit rennt uns davon.“
„Moment“, sagte Dorien. Mit soviel Würde, wie ein halbverdauter, mit Speichel und Galle überzogener Dandy aufzubringen im Stande ist, rappelte er sich auf und stellte das faustgroße Replikat seiner magischen Villa vor sich auf. Nachdem er die magische Formel gesprochen hatte, öffnete sich ein Eingang in das außerdimensionale Eigenheim.
„Dorien, was hast du vor?“
„Waschen!“ Dorien war bereits im Innern seiner Villa verschwunden. „Solltest du auch tun.“
Winter schloss ergeben die Augen.
„Kommt“, sagte sie seufzend an die anderen gewandt, und schritt den Gang entlang.
Kurz darauf betraten sie einen Raum, der einmal eine Gebetshalle gewesen sein mochte.

Nimoroth
Sie hatten jeden Winkel der Gebetskammer durchforstet. Das Bodenmosaik, die Wände, den ehemaligen Altar. Nichts. Keinen Hinweis auf einen Geheimgang oder ein außerdimensionales Versteck. Da er sonst bereits alles untersucht hatte, konzentrierte Nimoroth sich auf die zertrümmerten Skulpturen. Eine Steinsstatue, die bis auf eine abgebrochene Hand noch vollständig erhalten war, erregte seine Aufmerksamkeit. Die Statue zeigte eine Elfe, was an diesem Ort ungewöhnlich genug war. Doch noch ungewöhnlicher war es, dass Nimoroth glaubte, ihr Gesicht schon einmal gesehen zu haben.
„Die Drow-Priesterin“, durchfuhr es ihn. Kalith sah auf.
„Bei Corellon“, murmelte er, als er einen Blick auf die Statue geworfen hatte. „Du hast Recht!“
Irae T’sarran.
Das war der Name der Drow-Priesterin, die Nimoroth und Kalith im Unterreich im Augenblick ihres Todes entwicht war. Die Trägerin der zweiten Klaue, die mit einer mächtigen Zauberformel Tod und Verwüstung über die Talländer hatte bringen wollen. Jemand musste sie versteinert und sich das Artefakt unter den Nagel gerissen haben.
„Das heißt, wer immer unsere Klaue hat, ist vermutlich auch im Besitz der Zwillingsklaue?“, fragte Winter, nachdem Nimoroth sie aufgeklärt hatte. „Was hat das zu bedeuten? Und wie kommt sie überhaupt hierher?“
„Das sollten wir sie fragen“, sagte Nimoroth. „Aber gebt Acht. Sie ist gefährlich.“
Während Kalith und Grimwardt die Steinstatue an den Armen festhielten und Dorien den Zauber vorbereitete, der Irae zurückverwandeln sollte, baute sich Nimoroth vor ihr auf, bereit die klaffende Wunde an ihrem verstümmelten Arm zu heilen, sobald sie wieder sie selbst war. Oder zuzuschlagen, falls sie zu sehr sie selbst sein sollte.
Der Zauber hüllte die Steinstatue in ein gleißendes Licht.
Irae schnappte nach Luft. Sich der Zeit ihrer Versteinerung nicht bewusst, vollendete sie zischend einen Schwall elfischer Verwünschungen, den sie vor acht Jahren begonnen hatte. Abrupt brach sie ab, als sie sich der Gegenwart der anderen bewusst wurde.
„Was…?“
Begreifen dämmerte in den blassroten Augen der Albino-Drow. Als Nimoroth sie zuletzt gesehen hatte, war ihr Kopf kahl rasiert gewesen, doch nun fiel silberweißes Haar ihr in langen Strähnen über die Schultern. Iraes schmales, bleiches Gesicht hätte schön sein können, hätte ihr nagender Hass es nicht zu einer Grimasse der Niedertracht verzerrt.
„Ich kenne euch“, zischte sie mit zusammen gekniffenen Augen. „Nimoroth… und Kalith, das waren eure Namen! Ihr habt mich vernichtet!“ Sie machte eine plötzliche Bewegung und versuchte sich loszureißen.
„Offenbar nicht sehr erfolgreich“, bemerkte Nimoroth.  
„Hat Elijas euch geschickt?“
Elijas. Wieder einmal.
„Nein. Was hat er Euch angetan?“
Irae musterte Nimoroth lauernd. Dann stahl sich ein finsteres Lächeln auf ihr Gesicht.
„Meine Informationen gegen meine Freiheit“, zischte sie. „Das oder ich nehme mindestens einen von euch mit ins Grab.“
Nimoroth betrachtete sie kühl. „Nein“, sagte er. „Was werdet Ihr tun, wenn wir Euch freilassen? Wie oft soll die Welt noch unter Eurem Irrsinn zu leiden haben?“
„Was glaubt Ihr?“, knurrte Irae bitter. „Zweimal habe ich meine Göttin bereits enttäuscht. Was glaubt Ihr, wie viele Chancen Kiaransalee mir noch gewährt?“
Nimoroth sah die anderen an.
„Die Zeit läuft uns davon“, erinnerte ihn Winter.
Er nickte: „Also schön. Rede.“
„Was?“, spottete die Drow. „Habe ich etwa Euer Wort? Das reicht mir nicht. Schwört bei Euren Göttern, dass ihr mich unversehrt gehen lasst, wenn ich geredet habe. Ihr alle.“
Sie schworen. Alle bis auf Grimwardt.
„Nichts da“, knurrte der Tempuspriester, dem die Drow des Unterreichs seit dem Überfall auf die Abtei ein ständiger Dorn im Auge waren. „Ich werde einen Teufel tun, der da mein Wort zu geben.“
Irae warf ihm einen hasserfüllten Blick zu, gab jedoch nach. Ihr Drang mit dem Leben davon zu kommen schien übermächtig. Schon früher war Nimoroth diese Eigenschaft an ihr aufgefallen. Ein eigenartiger Zug für eine Nekromantin.
„Es begann vor… wie lange war ich versteinert?“
„Acht Jahre.“
„Dann vor etwa neun Jahren.“ Ihr Blick schweifte zwischen Nimoroth und Kalith hin und her. „Ihr hattet meinen Tempel zerstört und meine Pläne zur Invasion der Talländer zu Nichte gemacht. Doch töten konntet ihr mich nicht“, erklärte sie mit einem Glitzern des Triumphs in den Augen. „Als ich das Bewusstsein verlor, wurde ein Zauber aktiviert, der mich vor dem Tod bewahrte und mich in ein außerdimensionales Versteck transportierte. Meine untoten Diener pflegten mich gesund und ich kehrte zurück in meine Heimatstadt Maerimydra im Unterreich. Doch die Stadt war nicht mehr wiederzuerkennen. Inzwischen hatte die alte Hure Lolth ihr Schweigen gebrochen und war als eine noch mächtigere Göttin wiederauferstanden. Überall im Unterreich hatten ihre Priesterinnen die Macht wieder an sich gerissen. Jene, die wie ich der Göttin der Untoten gefolgt waren, wurden gefoltert, gepfählt und der widerlichen alten Spinne zum Fraß vorgeworfen. Zahlreiche Feiglinge konvertierten. Doch nicht ich. Ich hatte mich Kiaransalee mit Leib und Seele verpfändet – es gab keine Kompromisse. Lolths Häscher waren mir dicht auf den Fersen. Ich floh an die Oberfläche. Irgendwo in den Wäldern muss ich vor Erschöpfung das Bewusstsein verloren haben. Elfen fanden mich und brachten mich in ihr Dorf. Meiner hellen Haut wegen glaubten diese Narren ich wäre eine von ihnen. Es war das perfekte Versteck. Wer vermutet eine Drow in einem Elfendorf? Ich blieb länger als ein Jahr. In dieser Zeit schmiedete ich Pläne, wie ich Kiaransalees Ansehen unter meinem Volk wieder herstellen konnte. Während der Invasion der Fey’ri wurde mein Dorf erobert, doch der Elfenhof sandte Truppen zur Befreiung. Unter dem Bataillon, das uns ‚befreite’, waren zwei geflügelte Elfen; einer von ihnen war Elijas Avalior.“ Sie schnaubte verächtlich. „Es war so einfach ihn zu verführen. Nach der Befreiung von Myth Drannor kehrte er zurück in seine Heimat. Mich ließ er nachkommen. Mein Plan schien aufzugehen. Immerhin hatte ich noch immer die Klaue des Widergängers. Ich würde eine Armee aus Untoten zusammenstellen, Drachen, Frostriesen, Avariel, was auch immer das Gebirge zu bieten hatte. Dann würde ich die Wolkenstadt dem Erdboden gleichmachen. Welchen Ruhm hätte das für meine Göttin bedeutet! Welche Schande für die Spinnenkönigin, wenn sie erkennen sollte, dass Kiaransalee, ihrer Vasallin, das gelungen war, woran sie in Ewigkeiten gescheitert war. Doch Elijas vereitelte meinen Plan. Ich war hierher gekommen, weil ich hoffte in der Ruine alte, mächtige Magie zu finden, die mir bei der Invasion der Stadt von Vorteil sein konnte. Er war mir gefolgt und stellte mich zur Rede. Es kam zum Kampf und diesmal verlor ich alles.“
„Dann seid Ihr Anael Silbertau, die verschwundene Nekromantin“, erkannte Winter.
„Eine Maske.“ Irae zuckte verächtlich mit den Schultern. „Und nun lasst mich gehen“, forderte sie. „Ich habe alles erzählt, was ich weiß.“
Grimwardt schien die Idee, die Priesterin gehen zu lassen, wenig zuzusagen, doch der Zeitdruck ließ ihnen keine andere Wahl. Ein Kampf würde sie nur länger aufhalten.
Während des Rückflugs versuchte Nimoroth das Gehörte in einen Zusammenhang zu bringen. Elijas musste die Klaue des Widergängers an sich genommen haben, doch zu welchem Zweck? Wollte er Iraes Plan zu Ende führen und allen Ruhm für sich beanspruchen? Oder war er den Einflüsterungen der Klaue erlegen und handelte wider seinen Willen so wie der Baelnorn, dem sie in Myth Drannor begegnet waren? Hatte Irae ihn tatsächlich verführt oder hatte er sie das nur glauben gemacht? Wer spielte hier mit wem? Und wer war im Besitz der zweiten Klaue? Es gab nur einen, der ihnen diese Fragen beantworten konnte. Sie mussten Elijas Avalior finden, bevor das Portal nach Myth Drannor geöffnet wurde.

Nightmoon:
Ah... ich schnupper da ein Finale ...
Bin gespannt! :thumbup:

Winter:
Wie schön, ich freu mich immer wieder von uns zu lesen.
Ich liebe dein Talent!!!

Nightmoon:
Winter! du hier!  :D

Niobe:
Na dann alles liebe zum Geburtstag, Winter.  :)

Kapitel VI: Das Portal 

Nimoroth
Vier Stunden später vor dem Anwesen der Avaliors
Die Tür war unverschlossen und in der Eingangshalle fanden die Gefährten blutige Fußabdrücke. Alarmiert folgten sie der Spur in die Küche, wo sich ihnen ein schrecklicher Anblick bot: Lana, die Köchin des Hausherrn, lag bewusstlos auf dem Küchentisch. Ihre Arme waren im Blut gebadet: Jemand hatte der jungen Avariel die Fingernägel ausgerissen. Nimoroth eilte ihr zur Hilfe.
„Was ist passiert?“, fragte er, nachdem er ihre Wunden geheilt und die verängstigte Elfe mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt hatte. „Wer hat Euch das angetan?“
Lanas Pupillen weiterten sich, als die Erinnerung sie einholte.
„Sie“, flüsterte sie. „Sie wird ihn töten.“
„Sie?“, Nimoroth nahm ihren Kopf in seine Hände, um ihren Blick zu fokussieren.
„Anael.“ Lanas Lider flackerten. „Sie ist zurückgekehrt. Sie wollte wissen, wo mein Herr ist. Er weiß nicht, dass ich ihn nachts beobachte, wenn er sich aus dem Haus schleicht. Ich wollte schweigen, aber sie….“ Ein trockener Schluchzer entrang sich ihrer Brust.
„Schon gut. Wohin ist er gegangen? Lana“, drängte Nimoroth, „du musst es uns sagen, wenn wir deinem Herrn helfen sollen.“
„Zu den Shantileas“, wisperte Lana.

Kalith
Kurz darauf im Palast der Shantileas
Sie hatten die Eingangstür aufgebrochen und standen in der Großen Halle. Vor der Flügeltür, die in den Saal der Tränen führte, waren zwei untote Frostriesen postiert. Die Haut hing ihnen in Fetzen vom Leib und in ihren Augen glommen tote, rötliche Funken. Aus dem Saal drangen laute Stimmen und Kampfgeräusche.
Die Gefährten zogen ihre Waffen.
Der Kampf dauerte länger als erwartet. Die Frostriesen waren zäh und ihre Hiebe kraftvoll und verbissen. Kalith hatte diese Art von Untoten schon einmal bekämpft – damals im Unterreich. Es waren Widergänger, Schergen Kiaransalees. Endlich, nachdem beide Kreaturen am Boden lagen, stieß Kalith die Tür zum Saal auf.
Helles Mondlicht flutete durch die Kuppel in den Saal und verfing sich glitzernd in den herabhängenden Ästen der Gläsernen Weide, die sich in der Mitte des Raums erhob. Elijas Avalior kauerte in Angriffsposition vor dem riesigen Monument. Sein blutiges Schwert war zum Boden geneigt und wies auf den leblosen Körper Iraes, der enthauptet zu seinen Füßen lag.
„Geht.“ Seine Stimme klang hohl von den gläsernen Wänden wieder. „Ihr könnt es nicht aufhalten.“
„Wir wollen mit Euch reden“, rief Nimoroth ihm zu. „Arbeitet Ihr für die Fürstin?“
Elijas’ maß die Gefährten mit ausdruckslosen Blicken. Dann breitete er seine Schwingen aus und murmelte einen Zauber. Schneller als Kaliths Augen ihm zu folgen vermochten, hatte er sich vom Boden abgestoßen und schwebte nun unter der Kristallkuppel.
„Ich habe euch gewarnt“, flüsterte er und richtete seine ausgestreckte Hand in Richtung der Gefährten. Ein Finger wies auf Winter, ein anderer auf Dorien. Zwei grüne Strahlen schossen aus den Fingerspitzen des Avariel. Doch schneller noch als die beiden Strahlen war Elijas selbst bei seinen Opfern eingetroffen. Seine schmale Klinge durchschnitt die Luft wie Pergament und beide fielen ohne einen Laut, gleichermaßen von Zauber und Schwert durchbohrt.
Dann wandte sich der Klingensänger den drei Kämpfern der Gruppe zu.
Er bewegte sich so schnell, dass er jedem Angriff auszuweichen schien. Kalith war es unmöglich zu erkennen, ob seine Schwerthiebe trafen oder nicht. Dafür war er sich umso schmerzlicher eines jeden Treffers bewusst, den sein Gegner erzielte. Mit einer furiosen Choreographie aus magisch verstärkten Schwerthieben, Zaubern und nekromantischen Angriffen, die dem anderen die Kraft raubten und ihn selbst stärkten, behauptete sich der Avariel gegen seine Gegner. Kalith erkannte, dass er nicht mehr lange durchhalten würde und ein Blick auf seine Mitstreiter sagte ihm, dass es ihnen nicht anders erging.
Und dann war es vorbei.
Elijas keuchte auf, als er unter einem von Nimoroths gefürchteten Sturmangriffen zu Boden ging. Die Hand auf die klaffenden Wunde an seiner Brust gepresst, harrte der Avariel zu Füßen seines Bezwingers. Nimoroth zögerte… und schlug zur Sicherheit noch einmal zu. Elijas kippte um.
Totenstille.
Nur das Rasseln ihres Atems war zu hören, als Grimwardt und Nimoroth sich um die Verletzten kümmerten. Wo waren die Bewohner des Palasts? Wo all die Bediensteten?
„Was nun?“, fragte Kalith schließlich in die Stille hinein.
„Er scheint keine der Klauen bei sich zu haben und wir haben keine Zeit ihn auszuquetschen“, sagte Nimoroth. „In wenigen Minuten wird das Portal geöffnet.“
„Keine Klaue“, meldete sich Winter zu Wort, die begonnen hatte, ihren Gegner zu plündern, kaum dass sie wieder auf den Beinen war. „Aber das hier!“
Sie hielt eine faustgroße verzierte Truhe in den Händen: eine exakte Kopie der Truhe, in welche sie das Artefakt gelegt hatten, nachdem sie es aus der Krypta des Baelnorn gestohlen hatten.

Nimoroth
Auf der Festwiese vor dem Orchideen-Palast
Die ganze Stadt hatte sich auf dem Platz versammelt. Geflügelte wie Ungeflügelte saßen auf der Wiese und in den Bäumen und lauschten mehr oder weniger aufmerksam der Rede des Coronal, der von einem der Balkone des Palasts zu ihnen sprach. In der Mitte der Festwiese erhob sich ein bogenartiges Gebilde, verhüllt von seidenen Tüchern: das Portal nach Cormanthyr. Hochadmiralin Shelisale Bareithion hatte wie angekündigt die Festwiese mit Wachen umstellen lassen. Jedem Krieger hatte sie einen Magier oder Klingensänger sowie einen Heiler zur Seite gestellt. Nimoroth ließ seinen Blick über die Menge schweifen.
„Da ist sie.“ Winter entdeckte die Admiralin als erste.
Nimoroth und seine Freunde bahnten sich einen Weg durch die Menge. Großer Anstrengung bedurfte es dazu nicht. Ihr ramponiertes Aussehen und der Gestank, der Winter und Nimoroth noch von ihrer Begegnung mit dem Höhlenmonster anhaftete, taten das ihrige, um ihnen den Weg zu ebnen.
„Da seid Ihr ja.“ Hochadmiralin Shelisale kam nicht umhin ein wenig die Nase zu rümpfen. „Kalith, man hat überall nach Euch gesucht. Wieso wohnt Ihr der Portalöffnung nicht an der Seite des Coronal bei wie abgesprochen? Was ist passiert?“
Kalith setzte zu einer Erklärung an, doch in diesem Moment explodierte der Himmel in einem Meer von Farben und seine Worte gingen im Zischen und Knallen der Raketen unter. Zeitgleich mit dem Feuerwerk enthüllten zwei Wächter das Portal.
Und dann zog sich der Himmel zusammen und ein Blitz krachte aus der Wolkendecke.
„Wolken?“, übertönte Nimoroth den aufkommenden Regen. „In dieser Höhe?“ Dann erinnerte er sich an seine Vision: Plötzlich zuckt ein Blitz vom Himmel und die Stadt über den Wolken versinkt in Dunkelheit.
„Es fängt an“, murmelte er. „Macht euch bereit.“
Die Gefährten zogen ihre Waffen und schützten sich mit Defensivzaubern.
Kaum enthüllt, begann die Holzkonstruktion in der Mitte des Platzes sich aufzublähen und zu wachsen. Plötzlich ein lautes Bersten. Holz splitterte und schwarzer Nebel flutete aus dem Portal in die Palastgärten. Die Totenstille, die sich über den Platz gesenkt hatte, begann sich langsam in Panik zu verwandeln, als jene Avariel, die dem Portal am nächsten standen, erkannten, was dort mit dem Nebel aus dem Höllentor geschwemmt kam: Ein Heer untoter Frostriesen strömte auf die Festwiese und überzog all jene mit seinen Angriffen, die nicht fliegen konnten oder nicht schnell genug in die Lüfte entflohen, gelähmt vom Anblick dessen, was sie über sich erblickten: Über dem Untotenheer schwebte, grausam und majestätisch, ein weißer Drache. Die Haut klebte ihm in Fetzen am Leib und seine Flügel wirkten wie von Motten zerfressene Leinen. Seine Augen waren schwarze, blicklose  Höhlen, in denen List und Scharfsinn schon vor Jahrhunderten erloschen waren. Dennoch ließ die pure Anwesenheit des Wyrms die Wesen unter ihm vor Furcht erstarren. Auf dem Rücken der mächtigen Kreatur thronte Fürstin Mathalaya Shantilea. Ihre goldenen Augen waren von dem gleichen toten Feuer erfüllt wie die des Drachen, ihr Gesicht ohne jeden Ausdruck. Flankiert wurden die schwer gerüstete Fürstin und ihr Reittier von Mathalayas Sohn Silead und der geisterhaften Reflektion von… Irae T’sarran! Kurz nachdem die Gefährten den Palast verlassen hatten, musste die Fürstin noch einmal zurückgekehrt sein, um die Drow zu verwandeln. Mathalayas ausgestreckter Arm, um den sich eine schwarze, dornenbesetzte Klaue wand, war auf den Coronal gerichtet.
Die Gefährten hoben vom Boden ab, um ihr im Kampf zu begegnen, doch die Fürstin schien sie kaum zu beachten. Ein schwarzer Strahl schoss aus ihren Fingern. Coronal Yorah Bareithior fasste sich nach Atem schnappend ans Herz, als sich das schwarze Gift in seine Brust fraß und seinen Körper von innen zu zersetzen begann. Dann kippte er kopfüber über den Balkon. Als sein Körper auf dem Boden aufschlug, war nichts mehr von ihm übrig als Staub und Asche.
Undeutlich nahm Nimoroth wahr, was um ihn herum geschah: Aus dem Hinterhalt feuerte Winter in rasender Abfolge eine Salve sengender Strahlen auf die Fürstin ab, doch die Zauber prallten an deren magischem Schutzschild ab und wurden auf Winter zurück geschleudert. Dorien wurde von einem schwarzen Strahl getroffen, der jenem glich, der dem Coronal zum Verhängnis geworden war. Seine Schutzzauber vermochten ihn vor dem Schlimmsten zu bewahren, doch die Wucht des Angriffs schleuderte ihn zu Boden. Kalith und die Admiralin hatten Silead Shantilea in die Zange genommen und Grimwardt versuchte der Geisterdrow mit seiner priesterlichen Macht beizukommen. Nimoroth selbst flog in die Höhe, um die Trägerin der Klaue im Sturzflug anzugreifen. Im selben Moment jedoch vollführte der Drache eine Luftrolle, sodass Nimoroth herumgewirbelt und in den Schatten des gigantischen Untoten gedrängt wurde. Kurz darauf wurde er vom wirbelnden Eisodem des Wyrm erfasst, der ihn weiter nach unten abzutreiben drohte.
Seine Waffe senkrecht nach oben gerichtet stemmte sich der Elf gegen den Sog der Odemwaffe und stürmte vorwärts. Fünf Säbelhiebe fraßen ein klaffendes Loch in den knöchernen Unterleib des Untoten. Der verwundete Drache reagierte mit einem Schwanzstreich, dem Nimoroth nur mit Mühe ausweichen konnte. Winter war indessen dazu übergegangen, den Wyrm mit Feuerbällen einzudecken und gemeinsam gelang es den Gefährten endlich das Monstrum zu besiegen. Wirbelnde Kreise schlagend segelte der erlöste Drachenleichnam zu Boden. Schlagartig löste sich die Wolkendecke auf und Mondstrahlen tasteten sich über das Schlachtfeld. Der Drache musste das Wetter kontrolliert haben. Nimoroth sah nach unten: Die Fürstin hatte sich im Augenblick seines Falls vom Rücken des Drachen gelöst und schwebte nun mit ausgebreiteten Schwingen im silbrigen Sternenlicht. Ihr Blick aus starren Goldaugen war auf Nimoroth gerichtet.
Er nahm die Herausforderung an.
Religiöse Besessenheit verlieh den Schwerthieben der Verräterin eine tödliche Wucht. Ihr Gesicht, obgleich das Gesicht einer Sterblichen, war totenbleich und die Verbissenheit, mit der sie ihr Ziel verfolgte, legte ihre Wangen in tiefe Schatten. Was auch immer ihr ursprüngliches Motiv für den Verrat an ihrem Volk gewesen war, in diesem Moment diente sie nur noch der Herrin der Klaue. Doch auch Nimoroth war inspiriert von göttlicher Energie. Mielikki ließ seine Muskeln anschwellen und seine Knochen wachsen. Und dann ein letzter Angriff. Die Welt verschwamm zu einem Meer aus Farben und Schreien, als Nimoroth im Sturzflug auf seine Gegnerin zuschnellte, sie mit sich riss, und dem Boden entgegen stürzte. Als er kurz vor dem Aufprall seinen Flug abbremste, war die Fürstin bereits tot. In ihren Augen stand ein eigenartiger Ausdruck. Furcht? Entsetzen? Hatte sie im Augeblick ihres Todes etwa Reue empfunden?
Nimoroth machte sich an die blutige Aufgabe, die Klaue der Kiaransalee von der Hand der Toten zu schneiden. Auf einmal spürte er einen Luftzug. Er sah auf und erblickte Thanduin, der mit einem Trupp seiner Rebellen in Nimoroths Nähe landete.
„Was ist hier passiert?“, fragte der Rebellenführer mit aufgerissenen Augen.

Grimwardt
Der Todesalb erstarrte unter Grimwardts Blicken und beugte sich der Autorität des Feindhammers. Irae T’sarran stieß ein irres Kreischen aus, ehe sie die Arme ausbreitete und sich vom Wind davontragen ließ. Vom Schlachtfeld fliehend und aus der Stadt hinaus. Grimwardt erwog für einen Augenblick ihr nachzusetzen, entschied jedoch schließlich, dass es Wichtigeres zu tun gab. 
Langsam, mit erhobenen Händen und geschlossenen Augen, ließ er sich zu Boden gleiten. Tempus, der sein Gebet erhörte, sandte Schauer heilender Energie durch Grimwardts Körper, die sich in Wellen über das gesamte Schlachtfeld ausbreiteten. Verwundete genasen in Windeseile, während die letzten Untoten unter der Einwirkung der göttlichen Energie zu Staub zerfielen. Ehrfurchtsvolles Raunen erfasste die Menge.
Unglücklicherweise hatten die heilenden Schauer auch vor dem am Boden liegenden Silead Shantilea nicht Halt gemacht. Der Sohn der Verräterin spuckte Grimwardt hasserfüllt ins Gesicht, als dieser neben ihm landete. Für die Dauer eines Augenblicks war Grimwardt von so viel Dummheit wie gelähmt. Dann zertrümmerte er dem Anführer der Engelstränen mit einem beherzten Fausthieb sein Engelsgesicht, bevor er ihn mit einem gezielten Fußtritt in die Magengegend in den Schlaf sang. 
„So ein Hundskerl“, grummelte er kopfschüttelnd.

Nimoroth
Kurz darauf in der Eingangshalle von Doriens Villa
Grimwardt hatte Elijas Avalior an einen Stuhl gefesselt, den einer von Doriens Dienern herbei geschafft hatte. Nimoroth spritzte dem Bewusstlosen ein Glas Wasser ins Gesicht. Die Lider des Avariel flackerten, als er aus seiner Ohnmacht erwachte.
„Wo ist die Klaue der Lolth?“, fragte Nimoroth und hielt ihm das Replikat der Truhe unter die Nase, das Winter bei Elijas’ Sachen entdeckt hatte. „Wie gelangen wir an die Truhe?“
Die Blicke des Klingensängers glitten fahrig über die Gesichter der Gefährten.
„Ist sie tot?“, fragte er angespannt.
„Eure Fürstin?“, erwiderte Grimwardt grob und warf ihm die Klaue der Kiaransalee vor die Füße, in der noch Mathalayas abgetrennte Hand steckte. „Allerdings.“
Die Augen des Avariel blieben wie erstarrt an dem blutigen Ding haften. Dann stahl sich ein seltsames Lächeln auf seine Lippen.
„Gut“, murmelte er.
Nimoroth runzelte die Stirn und trat näher an ihn heran.
„Was soll das heißen? Wieso ‚gut’?“
Elijas zögerte.
„Wenn ich rede, dann nur unter der Bedingung, dass kein Avariel es je aus Eurem Munde erfährt“, sagte er. „Was mit mir passiert, ist mir gleich. Tötet mich. Liefert mich aus. Was auch immer. Aber keine Aussagen zu meinen Motiven.“
„Schön, mein Wort darauf.“
Elijas nickte.
„Ich glaube nicht an die Methoden der Rebellen“, begann er. „Aber ich glaube an ihre Grundsätze. Wenn mich der Elfenkreuzzug eines gelehrt hat, dann dass wir Elfen den Kampf gegen das Böse brauchen, um die Dinge zu ändern. Das einzige, was diese Stadt vor einem Bürgerkrieg retten konnte, war ein Monster, das sie wieder zusammenschweißt. Ich habe dieses Monster erschaffen. Durch Iraes Klaue hatte ich die Macht dazu. Um die Fürstin Glauben zu machen, dass ich auf ihrer Seite stünde, verriet ich den Rebellenführer an den Kronrat. Ich überzeugte sie davon, dass ein Sturz des Coronal die einzige Möglichkeit sei, die Reformen zu verhindern, die sie so fürchtete. Auf diese Weise brachte ich Mathalaya dazu, die Klaue anzulegen. Hätte die Fürstin gewusst, dass sie sich damit dem Willen einer dunkelelfischen Göttin unterwirft, hätte sie natürlich abgelehnt. Aber so wurde sie zu eben jenem Monster, das Immerschwinge brauchte. Ein Monster, das die Stadt mit einem Krieg überziehen würde, der Rebellen und Adlige einte.“
Nimoroth sah ihn ungläubig an.
„Und wenn sie gesiegt hätte?“, fragte er. „Besser eine korrupte Regierung als eine besessene Tyrannin.“
„Die zweite Klaue“, erklärte Elijas. „Wer beide Klauen trägt, vermag sie beide zu vernichten.“ Verständnislose Blicke.
„Kiaransalee ist eine noch junge Göttin“, klärte er sie auf. „Nachdem sie den Erzdämon Orcus bezwungen hatte, bat sie um Aufnahme ins Pantheon der Drow. Lolth stellte ihr eine Bewährungsaufgabe: Wenn es ihr gelänge ein Artefakt des Untodes zu erstellen, dass ihrer eigenen Todesklaue gleichkäme, würde sie Kiaransalee das Portfolio des Untodes überlassen und sie in den Rang eines Gottes erheben. Ihre Konkurrentin schuf also durch einen ihrer sterblichen Diener die Zwillingsklaue. Die beiden Artefakte sind einander in allen Belangen gleich. Kiaransalee hatte erreicht, was sie wollte. Wenn jedoch ein und derselbe Träger beide Klauen trägt, so heißt es in einem Dokument, das ich ausfindig machen konnte, würden die göttlichen Energien der beiden verfeindeten Göttinnen aufeinander treffen und die Klauen würden zerstört.“
 „Also wart Ihr es, der uns Drake auf den Hals gehetzt hat“, murmelte Winter. „Um an die zweite Klaue zu gelangen.“
„Ja“, gab Elijas zu. „Ich beauftragte den Assassinen damit, die Klaue zu finden, alles andere – eure Einspannung, die Entführungen – war sein Tun.“
Winter kniff die Augen zusammen. „Was hat er als Bezahlung verlangt?“
„Eine Art magisches Glasauge, das jede Illusion zu durchdringen vermag.“
„Ich verstehe immer noch nicht, wie Euer Plan aussah“, lenkte Nimoroth das Verhör auf den Anschlag zurück. „Ihr wolltet also in den Besitz der zweiten Klaue gelangen, um beide zu zerstören. Aber…“
„Nicht ich wollte sie zerstören“, berichtigte ihn der Avariel und blickte in Kaliths Richtung.

Kalith
Kalith, der sich bis jetzt im Hintergrund gehalten hatte, schlucke, als sich alle Blicke auf ihn richteten. Seine Befürchtungen der letzten Tage holten ihn ein. Irgendwie hatte er die ganze Zeit gespürt, dass so etwas kommen musste.
Nicht schon wieder, dachte er in der Erwartung gleich irgendetwas Dummes zu tun, weil eine Stimme in seinem Kopf ihm befahl, seine Freunde anzugreifen oder diese verdammte Klaue überzustreifen und der hörige Diener einer Drowgöttin zu werden. So wie schon so oft. Wenn Corellon ihm so gewogen war, wieso hatte er seinen Geist dann nicht etwas widerstandsfähiger gemacht gegen die Einflüsterungen wahnsinniger Magier?
Kaliths Erinnerung an seine Begegnung mit Elijas Avalior auf der Schattenebene vor zehn Jahren war verschwommen. Er war tot gewesen, verschlungen von einem Nachtkriecher. Das hatte er zumindest geglaubt. Doch Sklavenfänger mussten ihn aus dem Bauch der Bestie herausgeschnitten haben. Als er aufwachte, erschöpft und verwundet, hatte er sich in den Kerkern einer mysteriösen Schattenstadt wiedergefunden, die von einem sadistischen Leichnam regiert wurde. Mit seinen weißen Schwingen war Elijas Avalior ihm damals wie ein Engel vorgekommen, von den Seldarine gesandt, um ihn, Kalith Lysan, den Träger der Kriegsklinge, zu befreien. Und doch war da, irgendwo tief vergraben in seinem Geist, die Erinnerung an einen Pakt, eine Vereinbarung.
Was hatte er Elijas damals versprochen?
„Die Klaue hätte mich zu einem willenlosen Diener gemacht, genau wie Mathalaya“, fuhr Elijas fort, während sein Blick unverwandt auf Kalith ruhte. „Die einzige Möglichkeit diesem Effekt zu entgehen ist der Besitz eines gleichwertigen Artefakts, das die Wirkung der Klaue zu neutralisieren vermag. Während meiner Nachforschungen zur Geschichte Irae T’sarrans stieß ich auch auf den Namen von Kalith Lysan, dem Träger der Kriegsklinge. Dass ich Euch damals von der Schattebene befreite, war kein Zufall, Kalith“, sprach er den Elfen direkt an. „Ich wollte, dass Ihr mir einen Ehrenschwur leistet. Den Schwur, mir eines Tages zur Seite zu stehen, wenn ich Eure Hilfe bräuchte.“
„Ich sollte die Klaue anlegen“, erkannte Kalith.
„Um Mathalaya zu besiegen und nach ihrem Tod beide Klauen zu zerstören, ja“, erklärte Elijas und in seine sonst so emotionslosen Augen trat ein aufgeregtes Funkeln. „Versteht doch! Ein Waldelf – ein Ungeflügelter - rettet Immerschwinge vor dem Untergang. Welch bessere Werbung könnten die Rebellen für ihre Forderungen finden? Und durch Eure Freunde kam es sogar noch besser!“
„Nur dass Ihr uns beinahe getötet hättet, ehe das ganze Spektakel begonnen hatte“, erinnerte ihn Nimoroth.
„Eine Ablenkung. Ich konnte nicht zulassen, dass ihr den Zugang zum Versteck der Fürstin findet und den Angriff im letzten Moment verhindert. Die Wirkung wäre nicht die gleiche gewesen. Blut schreibt Geschichte.“
„Das reicht.“ Nimoroth packte den Avariel bei seinen Fesseln und zerrte ihn in die Höhe.
„Was hast du vor?“, fragte Kalith.
Nimoroths Stirn war düster umwölkt. „Ich überstelle ihn der Justiz der Stadt. Aber vorher führe ich ihn über das Schlachtfeld, damit er mit eigenen Augen sieht, was er angerichtet hat. All die Unschuldigen, die er auf dem Gewissen hat.“
Elijas zuckte zusammen und für einen Augenblick schien es, als falle seine Maske der Gleichgültigkeit in sich zusammen. Dann besann er sich und seine Gesichtsmuskeln entspannten sich.
„Ich habe nicht erwartet, dass ihr das verstehen würdet“, murmelte er.

Winter
Am nächsten Morgen im Gefängnis von Immerschwinge
„Willst du mir nun endlich verraten, was wir hier tun?“, flüsterte Dorien, während er den Wachtposten im Auge behielt. Sie standen nur wenige Schritte entfernt von Silead Shantileas Zelle im Gefängnistrakt des Valendár-Hauptquartiers. Ein Unsichtbarkeitszauber hatte sie an den Wachen vorbeigeschleust. Winter musterte Silead, der sie noch nicht entdeckt hatte, mit eisigen Blicken.
„Kastrier’ ihn“, sagte sie düster.
„WAS?“
„Mit einem Verwandlungszauber.“
Dorien packte Winter beim Arm und zog sie mit sich. Als sie außer Hörweite des Wachtpostens waren, fuhr er herum.
„Bist du irre?“, fragte er. „Ja, der Typ ist ein Mistkerl, aber das…“
„Sieh dir das an.“
Winter hielt einen kleinen Kristall zwischen ihren Fingern, den sie bei den Habseligkeiten von Elijas Avalior gefunden hatte. Als sie erkannt hatte, dass er magisch war, hatte sie ihn vor den anderen verborgen und in ihrem nimmervollen Beutel verschwinden lassen.
„Was ist das?“
„Eine gestohlene Erinnerung“, erklärte Winter. „Ich hab sie bei Elijas’ Sachen gefunden. Er muss sie Silead abgenommen haben, um ihn zu erpressen. Offenbar hatte der Sohn der Fürstin Verdacht gegen ihn geschöpft.“
Der Erinnerungskristall enthielt eine Szene aus Sileads Vergangenheit: Um ein Kind reinen Blutes zu zeugen, hatte er seine Schwester, die Gemahlin des Coronal, vergewaltigt. Das Kind, das ohne Seele geboren worden war. Die Valendár-Admiralin hatte sich geirrt: Silead hatte Hochverrat begangen, doch ohne das Wissen seiner Mutter. Und ohne die Zustimmung seiner unglücklichen Schwester. Winter überkam die blanke Wut, wenn sie sich a, wie das Leben der Königin am Hof von Immerschwinge ausgesehen haben musste: vermählt mit einem Mann, der ihr Urgroßvater sein könnte, unterdrückt von einer herrschsüchtigen Mutter und vergewaltigt von ihrem eigenen Bruder.
Dorien ließ den Stein sinken, als er sich die Erinnerung angesehen hatte, und sagte nichts.
„Weißt du, was mit ihm geschieht?“ Winter musste die Zähne zusammenbeißen, um es nicht herauszuschreien. „Elfen verhängen keine Todesstrafe, sagt Nimoroth. Respekt vor dem Leben und dieser ganze Schwachsinn. Sie werden ihn freilassen: Nach Avariel-Recht ist die höchste Strafe die Verbannung in die Welt der Menschen. Sehr schmeichelhaft, ich weiß. Aber der Punkt ist: Sie lassen ihn auf unsere Welt los!“
Dorien sah sie stumm an.
„Behalte den Wachtposten im Auge“, sagte er.
Ein finsteres Lächeln stahl sich auf Winters Lippen, als die akustische Manifestation von Sileads Tobsuchtsanfall die Mauern aus Glasstahl erzittern ließ.


Kapitel VII: Aufbrüche

Nimoroth
Elf Tage später auf dem Weg zum Hochpalast von Myth Drannor
Einen Zehntag nach der Trauerfeier für Coronal Yorah Bareithior und drei Tage, nachdem seine Tochter Shelisale zur Königin gekrönt worden war, war das Portal nach Cormanthyr doch noch geöffnet worden. Zur Einweihung hatte es ein großes Fest gegeben. Die „Helden von Immerschwinge“, wie sie hier in Myth Drannor nun hießen, waren reich beschenkt worden und Nimoroth und Winter hatten ihre Kinder in die Stadt bringen dürfen. Laguna und Scarlet hatten den schönsten Tag ihres Lebens verlebt, woran die Flugringe, die ihre Eltern ihnen geliehen hatten, sicher nicht unschuldig waren. Die beiden schienen sich gut zu verstehen. Die junge Scarlet, die schon an mehr Orten gelebt hatte als die meisten Menschen in ihrem ganzen Leben zu Gesicht bekamen, spielte sich vor Laguna gern als die welterfahrene ältere Schwester auf. Und sie kam damit durch: Laguna schien sie grenzenlos zu bewundern, auch wenn ihre Sturheit und seine Hitzköpfigkeit nicht selten für einigen Zündstoff sorgten. Nimoroth freute sich für seinen Sohn. Er sah ein, dass er Laguna nicht länger vor der Welt außerhalb des Waldes fernhalten konnte. Er hatte ihre schönen Seiten erlebt, die finsteren würden folgen. Doch es war nicht an seinem Vater, ihm diese Erfahrungen zu verweigern.
Aus diesem Grund hatte Nimoroth beschlossen, mit seinem Sohn nach Myth Drannor zu ziehen. Eigentlich hatte er gehofft, Lagunas Mutter dazu überreden zu können, ihren Lebensbaum zu verpflanzen und mit ihm zu kommen. Doch Nyrael hatte abgelehnt: Dryaden waren an den Ort ihrer Geburt gebunden. Nimoroth wusste, dass Nyrael ihn und ihren Sohn über alles in der Welt liebte, und doch schien es ihr nicht schwer zu fallen, sie gehen zu lassen. In ihren gütigen dunklen Augen hatte er Melancholie gelesen, aber keine Trauer, als er ihr seinen Entschluss mitgeteilt hatte. Und schließlich waren er und Laguna nicht aus der Welt.
Nimoroth plante, sich zur Ruhe setzten und eine Mielikki geweihte Tempelschule zu errichten, in der Kinder sowohl der elfische Glaube als auch die guten Religion des Menschentums näher gebracht werden sollten. Die traurige Geschichte Immerschwinges hatte ihm einmal mehr gezeigt, wie wichtig es war, die Völker zu lehren friedlich miteinander zu leben und Myth Drannor schien ihm der richtige Ort dafür. Die Stadt hatte schon einmal bewiesen, dass sie sich von der Vergangenheit nicht unterkriegen ließ.
Doch Nimoroths Zukunftspläne waren nicht der einzige Grund, weshalb er und seine Freunde beschlossen hatten, Fürstin Ilsevele Miritar von Myth Drannor einen Besuch abzustatten…

Kalith
Kurz darauf im Thronsaal des Hochpalasts
Für einen Coronal war Fürstin Ilsevele Miritar ungewöhnlich jung. Mit dem langen rotblonden Haar, das offen über ihre schmalen Schultern flutete, und den großen Augen, die von hellen Wimpern umrahmt waren, wirkte die kleine Sonnenelfe erstaunlich zerbrechlich und puppenhaft. Kalith fühlte oft einen seltsamen Stich in der Magengegend, wenn er sie mit ihrem ernsten Gesichtsausdruck auf dem Thron sitzen sah. So, als wünsche er ihr im Geheimen, dass sie wie früher als Mitglied der Ehrengarde von Fürstin Amladruil von Immerdar durch die sonnendurchfluteten Wälder ihrer Heimat spazieren und sich an der Schönheit ihrer Umgebung laben konnte. Der Kontrast zwischen ihr und Hauptmann Fflar, dessen kühle graue Augen schon alles gesehen, alles erlebt zu haben schienen, hätte nicht größer sein können. Selbst Taube Falkenhand wirkte im Vergleich zu der jungen Königin robust. Die Auserwählte Mystras, die mit dem Rücken gegen den Thron gelehnt dasaß, spielte gedankenverloren mit einer Strähne ihres silberweißen Haares, während sie dem Bericht der fünf Gefährten lauschte.
Nachdem Kalith und seine Freunde alle Fragen beantwortet hatten, nahm Hauptmann Fflar die Klaue der Kiaransalee in die Hand und betrachtete sie aufmerksam von allen Seiten.
„So viel Leid“, murmelte er nachdenklich. 
In diesem Moment traf ein Diener mit der Schriftrolle ein, die Fürstin Ilsevele angefordert hatte. Mit ihren zarten Fingern nahm sie das Schriftstück entgegen, überflog es flüchtig und reichte es dann an Dorien weiter.
Während er den Zauber von der Schriftrolle ablas, ließ der Hexenmeister das kleine Truhenreplikat in seiner Handfläche rotieren. Einen Augenblick später materialisierte sich die echte Truhe auf dem Marmorboden zu seinen Füßen. Während die Gefährten noch zauderten, trat Hauptmann Fflar vor, hob den Deckel an und nahm die zweite Klaue aus der Truhe.
„Sie lassen sich also zerstören, indem ein und derselbe Träger sie beide zur gleichen Zeit anlegt?“, wiederholte der Paladin, was Nimoroth ihm zuvor erklärt hatte. „Habt ihr das nachprüfen lassen?“
„Wir haben das Dokument gefunden, von dem der Avariel sprach und es von dem Weisen Belivimir prüfen lassen“, erklärte Nimoroth. „Es schien echt zu sein.“
„Soll ich das Wagnis eingehen, Herr?“, fragte Kalith.
Der Hauptmann bedachte seinen Ersten Leutnant mit einem knappen Blick, antwortete jedoch nicht. Stattdessen zog er sein Schwert Keryvian, stützte sich auf den Heft und begann ein kurzes Gebet zu sprechen. Kalith stockte der Atem, als er erkannte, was Fflar vorhatte. Es hieß Keryvian sei eine der Fluchklingen des Demron. Ein elfisches Artefakt.
„Nicht!“, flüsterte Kalith.
Doch der Hauptmann ignorierte ihn. Mit festen Handgriffen streifte er den ersten Panzerhandschuh, die Klaue der Lolth, über sein Armgelenk. Nichts geschah. Dann das zweite Artefakt, die Kiaransalee-Klaue.
Fflar keuchte auf, als die Klauen an seinen Armen lebendig wurden. Wie schwarze Schlangen begannen die Ringe, aus denen die Artefakte gefertigt waren, sich auseinander zu winden und seine Schultern empor zu kriechen. Wo sie seine Haut berührten, fraßen sich dunkle Löcher der Verwesung in sein Fleisch. Kreischende Stimmen hallten von den Wänden wieder und es klang, als stritten zwei Todesfeen miteinander. Der Hauptmann schrie auf und ging zu Boden.
„Fflar!“ Fürstin Ilsevele war aufgesprungen, ihr Gesicht kreidebleich. Die Königin wollte vor dem Hauptmann in die Knie gehen, doch Taube Falkenhand hielt sie zurück. In all dem Tumult, der nun losbrach, war sie die einzige, die weder Furcht noch Sorge zeigte. Die anderen schrieen wild durcheinander und aus der Vorhalle drangen schnelle Schritte und das klirrende Geräusch von Stahl. Kalith stand da wie versteinert.
Und dann kam das Licht.
Plötzlich war es so hell, dass alles in weißem Nichts verschwamm. Kalith konnte nicht einmal erkennen, wo es herkam, jenes Licht, das mit ungeheurer Kraft alles um sich herum zu durchdringen schien. Es war kein äußerliches, es war ein innerliches Licht. Es brannte wie Feuer in seinen Gliedern, seinen Eingeweiden, seinen Gedanken, doch es war ein heilendes, ein reinigendes Feuer. Und Kalith erkannte, dass in diesem Feuer nichts bestehen konnte, das aus Dunkelheit geschmiedet war.
Allmählich begann die Welt um ihn herum wieder Gestalt anzunehmen. Die Königin saß neben Fflar Sternbraue am Boden und half ihm vorsichtig sich aufzurichten. Der Hauptmann war unversehrt und betrachtete verwundert seine blanken Armgelenke. Die Zwillingsklauen waren verschwunden.
Kein Staub, keine Asche.

Winter
Später
Winter fand Dorien an Glyrryls Weiher, wo viele Elfen in den frühen Abendstunden im Schatten der alten Linden flanierten, um sich von ihrem Tagwerk zu erholen. Dorien saß an einen der mächtigen Stämme gelehnt und nutzte die letzten Strahlen der Sonne, um einen Brief zu verfassen. Er sah auf, als er Winters Schatten über sich gewahrte.
„Ich wollte mit dir sprechen“, begann Winter. „Es geht um Scarlet. Nimoroth möchte eine Schule errichten und ich finde, dass wir Scarlet zu ihm schicken sollten. Mit Laguna hätte sie in Myth Drannor bereits einen Freund und außerdem wäre die hier gegen Ausspähung geschützt. Ich dachte nur, ich sollte dich darüber informieren“, sagte sie in einem Tonfall, der ihm klarmachen sollte, dass ihr Entschluss bereits gefasst war.
„Hm“, machte Dorien. „Was sagt denn Scarlet dazu?“
Winter seufzte. „Du weißt doch, sie hat es sich in den Kopf gesetzt eine Kriegerin zu werden wie ihr Onkel Grimwardt. Sie wünscht sich eine Axt zum Geburtstag.“
„Vielleicht sollten wir ihr ihren Willen lassen und sie bei deinem Bruder in die Ausbildung schicken.“
Winter sah verblüfft auf ihn herab. Sie hatte erwartet, dass Dorien ihr widersprechen würde, aber dass der Sune-Anhänger so weit gehen würde, seine Tochter dafür in Grimwardts Metzelschule zu schicken, hatte sie nicht erwartet.
„Soll das heißen, du unterstützt sie in diesem absurden Wunsch?“
Dorien zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder seinem Brief zu. „Scarlet ist unsere Tochter, Winter. Sie wird schon noch früh genug erkennen, dass sie nicht zur Axtkämpferin geboren ist. Aber wenn du sie diese Erfahrung nicht selbst machen lässt, wird sie es dir auf ewig übel nehmen.“
„Hm.“
„Außerdem ist Myth Drannor kein sicherer Ort, solange der Mythal noch nicht wieder hergestellt ist.“
Winter wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Sie musste zugeben, dass Doriens Argumente nicht aus der Luft gegriffen waren.
„Ich habe gerade einen Brief an meine Mutter verfasst“, wechselte Dorien nonchalant das Thema. „Sie möchte ihre Enkeltochter sehen. Ich habe zugesagt. Du bist natürlich eingeladen uns nach Silbrigmond zu begleiten.“
„Schön“, sagte Winter. Sie hatte ihn schon früher dazu zu überreden versucht, ihr seine Familie vorzustellen, doch Dorien hatte stets abgelockt und ein Geheimnis aus seiner Herkunft gemacht. Doch sie wollte ihr Glück nicht überreizen, indem sie ihn nach dem Grund für seinen plötzlichen Sinneswandel fragte.
„Würdest du mich heiraten?“
Die Frage traf Winter wie ein Blitz aus heiterem Himmel.
„Wie bitte?“
Ein verschmitztes Funkeln stand in Doriens saphirblauen Augen, als er ihre Reaktion beobachtete. 
„Für einen Tag“, erklärte er. Ein wenig verlegen fügte er hinzu: „Meine Mutter... Sie wünscht sich, was sich alle Mütter für ihre Söhne wünschen: eine glückliche Ehe, Kinder, ein geordnetes Leben. Es würde sie glücklich machen, uns verheiratet zu sehen.“ Er richtete sich auf und griff im Aufstehen nach einem Kieselstein. Dann kniete er vor Winter nieder und wisperte einen Zauberspruch. Als er die Faust  wieder öffnete, lag ein goldener Ring in seiner Hand.
„Winter Fedaykin“, sagte er, sie bei ihrem Mädchennamen nennend. „Willst du meine Frau für einen Tag werden?“
Winter lachte und strich sich eine Strähne ihres feuerroten Haares aus der Stirn.
„Ja, ich will.“
Von den Umstehenden, die den Zusatz „für einen Tag“ offenbar der menschlichen Kurzlebigkeit zuschrieben, ernteten die beiden frisch Verlobten laute Jubelrufe.

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