Okay, mal sehen, ob ich jetzt schlecht genug gelaunt bin, um einen Rant – und kein Essay – abzuliefern. Mein erster Entwurf war viel zu logisch und rational. Hoffen wir auf Polemik. Toi toi fucking toi.
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Immersion: Ich bau mir meinen eigenen Spaßzug!
Du verlierst den Eindruck, dass hier ein Leben gelebt wird, und ersetzt es mit dem Eindruck, dass es ein geskripteter Charakter ist, auch wenn du der Skripter bist. – ein Typ im Internet
"Ein Leben wird gelebt" – das ist der Untertitel für immersives Charakterspiel, und es ist eine der abwegigsten Ideen, die sich im Rollenspiel so rumtreiben. "Immersion" ist entweder ein Codewort für "Ich bin ein Problemspieler" oder ein Codewort für "Ich bin halt hier, weils alleine blöder ist, aber lass mich bloß in Ruhe". Der auf Immersion bedachte Spieler ist entweder ein Störenfried oder eine Schildkröte, die so selten aus ihrem Panzer kommt, dass die Löcher mit Spinnweben verhangen sind. Beide sind für ein vernünftiges Rollenspiel unbrauchbar.
Immersion als Arbeitsdefinition ist der Irrglaube, auch nur ansatzweise glaubwürdige Charaktere im Rollenspiel abbilden zu können, sich in diesen Charakteren verlieren zu können und – siehe oben – den Eindruck zu haben, hier werde ein Leben gelebt.
Nicht nur, dass dies ein Irrglaube ist, er ist auch dem Rollenspiel und dem Spaß abträglich, sowohl für einzelne Spieler, als auch für die ganze Runde. Ja, immersives Spiel ist falsches Rollenspiel (tm).
Der Irrtum der immersiven Spieler ist gleich mehrfach bedingt. Erstens liegt der Irrtum darin, ein Spieler könne eine fiktionale Figur tatsächlich derart komplex und umfassend beschreiben, dass sie glaubwürdig und "realistisch" wäre – es ist derselbe Irrtum, der Spielern von Rolemaster vorgaukelt, hier realistische Kampfergebnisse zu simulieren. Das bisschen Hintergrundgeschichte oder Charakterfragebogen, das in der Regel abgeliefert wird, ist da längst nicht ausreichend.
Zweitens unterliegen solche Spieler dem Fehlglauben, Menschen würden stets konsistent agieren. Die Frage: "Was würde mein Charakter jetzt tun?" ist tatsächlich nicht wirklich zu beantworten. Wäre der Charakter real, würden seine Reaktionen wahrscheinlich den erschaffenden Spieler sehr häufig überraschen.
Drittens bilden Rollenspiele eben gerade kein wirkliches Leben ab, sondern nur eine Montage der spannendsten Momente. Wie viele Charaktere haben Schnupfen oder Allergien, vergucken sich in jede Schankmaid, ohne eine anzusprechen, haben Durchfall, erhalten nervige Anrufe ihrer Eltern, sorgen sich um die nächste Rechnung, putzen ihre Toilette oder schieben das Bügeln auf? Und Rollenspiele beschäftigen sich in der Regel mit Situationen, in denen die liebevoll aufgebauten Charaktere entweder zerbrechen oder sich stark ändern müssten – D&D ist eines der Spiele, bei dem man eigentlich gewalttätige Soziopathen spielt, nur dass die allesamt echt nette Typen und tolle Helden sind. Wer sich mit den Effekten von Gewalt auf Soldaten o. ä. beschäftigt, erkennt schnell, wie lebensfern das tatsächlich ist. Im Spiel aber kommen die Helden ins Dorf zurück, nachdem sie einen ganzen Orkstamm massakriert haben, und setzen sich in den blutigen Klamotten in die Kneipe und freuen sich aufs Essen.
Viertens gibt es die Autorenkrankheit, die dann auch immersive Spieler zu Problemspielern macht. Denn die Idee, einen realistischen Charakter zu spielen, führt dann dazu, dass man die Reaktionen dieses Charakters kontrollien zu können oder müssen. Ich habe viele Charaktere erlebt, die aufgegeben wurden, weil das Konzept entweder nicht umgesetzt werden konnte oder Spieler sich mit dem Konzept nicht so wohl fühlten, wie sie hofften... weil das im Kopf entstandene Bild den Einsatz im Rollenspiel nicht überstand. Spieler sind keine Schriftsteller – es gibt andere Spieler und den SL, die reinpfuschen können, und die Würfel tun ihr übriges, den Spielern die Kontrolle zu entreißen.
Dadurch entwickelt sich dann die zweiseitige Problemmünze der Immersionswährung (autsch, schlechte Metapher!). Entweder gehen Spieler aggressiv vor und reißen die Kontrolle an sich, meistens mit dem Schlachtruf "Ich mache nur, was mein Charakter tun würde!", und agieren störend – sie greifen den König an, sie weigern sich, das vorbereitete Abenteuer mitzumachen, sie würfen die Reaktionen ihrer chaotisch neutralen Charaktere aus usw. Das sind die Spieler, die man hasst. Oder aber sie ziehen sich in ihren Panzer zurück und ignorieren den Großteil des Abenteuers, schreiben aber in ihrer Freizeit Tagebücher, wie ihr Charakter das Geschehene interpretiert, und wollen ja nicht großartig einbezogen werden, weil das eh nicht zu ihrer Vorstellung passt.
Und jetzt kommt der Clou – die allermeisten Spieler, die sich als immersiv bezeichnen, sind das gar nicht. Sie wurden nur dazu erzogen, diesem Irrglauben anzuhängen. In Wahrheit machen immersive Spieler genau das, was z.B bei Burning Wheel auch gefordert wird... nur ist es meistens eine Abwehrreaktion auf starre Systeme, anstatt systemisch unterstützes Verhalten.
Spielercharaktere sind nichts anderes als ein Werkzeug, um sich selbst Spaß beim Rollenspiel zu machen und im besten Fall auch der Gruppe Spaß zu bereiten. Aber was tust du, wenn du bei D&D gerne was mit Adeligen spielen willst? Die Charaktere laufen so oder so durch die selben Verliese. Du musst so oder so darauf achten, dass du einen kampfstarken Charakter erschaffst, weil nur das zählt. Also schreibst du einen Hintergrund, in den du das reinsteckst, was du gerne haben würdest aber im Spiel ja eh nicht kriegst. Dein Charakter ist eben ein Adeliger, der einer Manipulation zum Opfer fiel und jetzt Abenteurer ist. Mit ein wenig oder sehr viel Glück baut der SL vielleicht ab und zu was ein, was dazu passt. Aber du musst dir zum Großteil deinen eigenen Spaß machen. Wenn du sozial dominant bist, dann zwingst du der Gruppe diese Adelssache auf ("mein Charakter ist halt so"), oder du internalisierst deinen Spaß ganz und machst das halt zu Hause.
Scheiß drauf. Ja, genau, SCHEIß DRAUF! Burning Wheel sagt: "Du kannst ohnehin kein wirkliches Charakterleben abbilden, und ohnehin ist das nur eine Ersatzbefriedigung, weil du sonst am Tisch nicht bekommst, was du willst. Diese Idee kommt in den Müll. Stattdessen betonen wir, dass die Funktion des Charakters ist, dir den Spaß zu geben, den du haben willst."
Wen interessiert schon, ob Fürst Lavenderhose seinen Thron zurückbekommt? Niemand. Nicht mal Fürst Lavenderhose selbst, den gibt es nämlich nicht. Stattdessen interessiert – dich und alle anderen – die Idee, dass Fürst Lavenderhose um seinen Thron kämpft und diesen Kampf zu erleben. Also steht im Belief: "Ich bin Fürst Lavenderhose! Ich werde meinen Thron zurückbekommen!" Und BUMM – der SL muss (!) jetzt den Kampf um den Thron thematisieren. Nicht irgendein verdammtes Dungeon.
Und wenn du das bezweifelst, frag dich mal: was würdest du machen, wenn in der ersten Sitzung der SL mit den Worten anfängt: "Fürst Lavenderhose hat also seinen Thron zurückbekommen. Dann kommt ein Brief an, in dem..." Freust du dich da? Sagst du: "Yeah, Fürst Lavenderhose hats geschafft!" oder sagst du: "Moment Mal, so haben wir nicht gewettet, das ging mir zu einfach."? Der Thron ist scheißegal, der Weg zählt.
Und jetzt kommen wir zum zweiten Punkt, den BW erkennt: immersive Spieler sind feige Säue. Da ihr einziger wirklicher personalisierter Spaß darin besteht, Autorenkontrolle auszuüben, und die im Rollenspiel ohnehin ständig gefährdet ist, ist es auch nachvollziehbar, dass man diesen Hintergrund, diese Charaktereigenschaften nicht aufs Spiel setzen will. Kurzzeitige Gedankenkontrolle durch versaute Rettungswürfe ist schon schlimm genug, aber am Ende steht dann doch entweder der Tod oder der Sieg und das Erreichen aller Ziele. Wenn Fürst Lavenderhose überlebt, dann kommt er auch auf den Thron, ist doch klar. Entweder in den Tagebucheinträgen zu Hause oder weil man den SL dazu zwingt.
Auch hier sagt BW: Scheiß drauf. Spannung und Spaß gehen Hand in Hand. Du kannst entweder nur so tun, als kämpfe der Fürst verzweifelt um seinen Thron, obwohl du das Ende im Drehbuch gelesen hast, oder du kämpfst wirklich darum – dann riskierst du aber Scheitern und riskierst auch, deine Autorenkontrolle abzugeben, denn dann stürzt du dich und den Fürsten ins Unbekannte – was passiert denn, wenn der Fürst nach Elba verbannt wird? Scheiße, damit hast du gar nicht gerechnet... das ist Neu! Das ist cool! Gesicherte Erfolge sind langweilig. Verlieren und Rache schwören... ZUR HÖLLE JA!
Und warum geht das? Warum kannst du das alles aufs Spiel setzen? Weil Fürst Lavenderhose nicht existiert. Das einzige, was du riskierst, ist Langeweile, wenn du auf Nummer Sicher gehst. Fürst Lavenderhose ist nur der Name, der auf deinem Fahrschein im Zug des Spaßes steht. Es ist Fürst Lavenderhose egal, ob er in einem geschlossenen Abteil sitzt oder im Speisewagen oder über das Dach des Zuges läuft – DU entscheidest das.
Und wenn DU das entscheidest, mal ganz ehrlich, warum zum Teufel solltest du das danach entscheiden, was ein echter Fürst Lavendelhose denn tun würde – was hast du davon? Du kannst den ohnehin nicht realistisch oder glaubwürdig oder auch nur konsistent spielen, dann lass das doch gleich. Entscheide doch lieber danach, was DIR besser gefiele. Was DU gerne möchtest, was Fürst Lavendelhose täte.
Womit wir im Auge des Sturms angekommen sind, und die Ruhe nutzen können, um uns mal im Spiegel anzusehen. Und weißt du, was du da siehst? Fürst Lavendelhose. Denn in Wahrheit entscheidest du eh so, wie du möchtest, dass Fürst Lavendelhose entscheiden würde. Nur dass du dir selbst eingeredet hast, dass es manchmal vielleicht besser ist, nicht so zu entscheiden, wie du eigentlich möchtest, weil das dann besonders immersiv ist und nur da der echte Spaß steckt. Erst, wenn du dir selbst den Spaß verdirbst, weißt du, dass dein Charakter echt ist, weil sonst würde er ja die coolere, spaßigere Sache machen.
Zum Dritten: Scheiß drauf. Mach doch gleich die coole und spaßigere Sache. Und wenn du die Augen zumachst, kann das trotzdem ein realistischer Charakter sein, denn es gibt in unserer chaotischen und komischen und kranken und abgefahrenen Welt so viele Typen, die wir für unrealistisch halten würden, dass es bestimmt auch solche Leute gibt wie die, die deinem Spielspaß am zuträglichen sind. Warum sollte Fürst Lavenderhose nicht gleichzeitig keinen Bock auf den Adelshof haben und seinen Thron zurückwollen?
Also, schieb nicht irgendeine ausgedachte Figur vor und tu so, als wärst du damit glücklich. Leg fest, was du selbst willst, und steh dazu.
Schreib keinen Belief, den dein Charakter haben wollte, denn dein Charakter würde die Beliefs leer lassen – eine ausgedachte Sammlung von Zahlen kann nicht schreiben, oder etwas wollen.
Verfasse den Intent danach, was cool wäre, nicht danach, ob dein Charakter das auch wollen würde – wenn du das sagst, dann will dein Charakter das.
Geständnis
ICH SELBST unterliege diesem bekloppten Denken immer noch. Ich habe mir in D&D lange und oft meinen eigenen Spaß gemacht, weil es anders nicht ging – D&D unterstützte einfach nicht das, was ich spielen wollte.
Und jetzt sitze ich als SL bei Burning Wheel und stelle mir in Charakterspielmomenten vor, wie die von mir gerade eben ausgedachten Charaktere wohl reagieren würden – und das ist Bockmist. Ich selbst halte mir noch nicht genug vor Augen, dass diese Charaktere eine Funktion haben. Die Funktion meiner NSCs ist es, den SCs in den Hintern zu treten und ihnen eine große verdammte Mauer vorzusetzen mit den Worten: Willst du es wirklich? Dann spring drüber. Es ist scheißegal, ob Barmann Bob ein Sympathisant der Revolution wäre – wenn die SCs Revolutionäre sind, dann ist Barmann Bob dagegen, weil wir uns ansonsten auch im Kreis aufstellen und gegenseitig befriedigen könnten. Burning Wheel ist nicht Weihnachten, sondern ein Boot Camp mit scharfer Munition. Ist da ein Scharfschütze im Dickicht? Egal, ob der Bösewicht einen schicken würde – wenn das cool ist, hat er halt einen geschickt. Und das ist dann eben ein Typ, der Scharfschützen schickt, das hat er (bzw. ich) bis gerade eben nur noch nicht gewusst.
Hier ist dann auch der Rettungsanker für Spieler, die immer noch Immersion wollen – betrachte das Spiel nicht als Drehbuch, sondern als Entdeckungsreise. Lass dich in deinen Charakter fallen und sei erstaunt darüber, was das für einer ist. Wenn du wirklich riskierst und Dinge aufs Spiel setzt, dann kannst du auch herausfinden, wie der tickt. Und über Proben und Kontakt "mit dem Feind" gewinnt der Charakter dann wirklich ein Eigenleben.
Du hättest vielleicht nie gedacht, dass Fürst Lavendelhose sogar seine Schwester erwürgen würde, um den Thron zu kriegen – aber das hat er gerade getan. Er ist wohl doch krasser drauf, als du dachtest. Dafür hat er vorher das Bewusstsein verloren, als ein Blutegel zerplatzte, was du ihm auch nie zugetraut hättest. Und wegen des Rededuells muss er jetzt die Rassisten unterstützen, wenn auch zähneknirschend. Mannomann, das ist vielleicht einer...
...und für alle anderen Bedürfnisse: Schreib ein verdammtes Buch!