Die Sternsirene
Der Obelisk war nicht mehr da und die Männer fühlten sich … nass … Sie standen in Wasser – eisig kaltem Wasser. Julièn stand das Wasser bis zu den Lippen, Ténèbres musste schwimmen und Abraxas zischte und gurgelte am Grund. Augenblicklich griff Rikku nach seinem schreienden Familiar und hob es über das Wasser. Dann schauten sie sich zaghaft um. Es war dunkel – eine Höhle – und doch konnten sie sehen. Schliesslich bemerkten sie, dass das glasklare Wasser um sie herum in einem sanften Blauton strahlte und die Höhle erleuchtete. Grosse Stalagtiten in mannigfaltigen Farben von Ocker bis gelb hingen glitzernd über ihren Köpfen. Die Wände schienen von geschwungenen, vielfarbigen, steinernen Vorhängen bedeckt. Der Boden der Höhle war glatt und immer wieder von Stalagmiten und sanften, grossen Steinkissen bedeckt.
Doch was den Atem der vier Männer und zwei Frauen stocken liess war nicht diese wundersame Höhle, geschaffen aus Stein, Kalk, Wasser und Zeit, sondern die Gestalt, welche am Rand des Wassers stand. Eine Frau mit grüner, samtiger Haut. Einem flachen, fast nasenlosen Gesicht und metallisch-wässrigen Augen. Anstelle von Haaren hatte die Frau eine kleine Scheitelfinne und lange Tentakel mit Saugknäpfen welche sich über ihren Rücken und über ihre Schultern schmiegten. Ihr Körperbau schien perfekt, ohne Makel. Sie war spärlich in glitzerndes Silber und einen grünbronzenen Lendenschurz gekleidet. An ihren dreispitzigen Ohren hingen schwere, silberne Ohrringe, ihre Tentakel waren mit Silberbändern geschmückt, ebenso wie ihre Arme.
Trotz ihrer Fremdartigkeit schien sie sehr zierlich und geschmeidig. Doch konnten die Gefährten nicht sagen, ob das Wesen ihnen feindlich oder freundlich gesinnt war.
Dann begann sie zu sprechen … und ihre Stimme war wie Samt, wie Honig, wie ein wunderbarer Traum.
„Mein Name ist Udûne. Ich bin eine Tochter Iffanduais. Weshalb stört ihr die Ruhe dieses heiligen Ortes?“
Mit einem mal konnten die Männer sich nicht mehr bewegen. Es war, als ob das Wasser um sie plötzlich zu hartem Kristall geworden war. Auch Ténèbres war gefangen und Abraxas stand auf dem Wasser, ohne jedoch in der Lage zu sein, sich von dort wegzubewegen. Offenbar war jedoch nicht alles Wasser hart geworden, denn nach wie vor pätscherte es leise an das Ufer und über die Füsse von Udûne, bevor es zwischen den Kieseln versickerte.
"Entschuldigt unser Eindringen!"sagte Leoram zögerlich, als er merkte, dass sonst niemand sprechen würde.
"Wir haben euch nicht absichtlich gestört. Wir wussten ja nicht einmal, dass es diesen Ort gibt. Wir wurden von einem Wesen verfolgt, welches offenbar "Der Alte Feind" heisst und wir konnten nur mit Hilfe des Obelisken beim Sternsee entkommen.
Schnell erklärte Leoram, wie sie schliesslich in dieser Höhle gelandet waren. Und endlich wurden sie vom Wasser regelrecht an das Ufer getragen. Als sie neben der eigenartigen Frau standen, bemerkten sie wie das Wasser von ihnen abperlte und zu ihren Füssen Lachen bildeten, welche dann wieder zurück zum Höhlensee flossen.
Alfia betrachtete neugierig das Wesen, welche die Neuankömlinge musterte, ebenso wie Kordilvar. Serallre schien vollkommen unbeeindruckt, während Rikku seine Abscheu nur schwer verbergen konnte. Julièn hingegen war so in tiefer Bewunderung Udûnes versunken, dass er nicht bemerkte, wie ihm der Mund offen stand.
Schliesslich führte Udûne die Ruhensstörer zwischen Stalagmiten und Kalksteinperlen und Kissen hindurch in den hinteren Teil der Höhle. Ein kleiner Wasserspiegel glitzerte hier und spendete ein unruhiges blaues Licht in welchem die Flüchtlinge eine grosse bronzene Scheibe mit mindestens vier Schritt Durchmesser erkennen konnten, welche mit der Höhlenwand geradezu verschmolzen schien. Der kleine Teich welcher als Lichtquelle diente, schein keinen Boden zu haben, doch das war in diesem Augenblick kaum von Interesse, denn zwischen dem Teich und der Scheibe lag eine Gestalt auf dem Boden.
Es war eine wunderschöne Frau mit goldener Haut und goldenem Haar, über welche eine weisssilberne Decke gebreitet war. Der Anblick der Frau war grauenvoll, herzzerreissend. Denn offenbar hatte die Frau einst zwei Flügel mit grossen, schneeweissen Federn gehabt, doch ein Flügel war offensichtlich brutal entfernt worden, wie die offene, rote Wunde und die aus dem Fleisch herausragenden Knochensplitter deutlich zeigten. Rotes Blut hatte die Federn des verbliebenen Flügels befleckt und war teilweise zu hässlichen braunroten Flecken getrocknet. Verkrampft, offenbar in Todesqualen lag sie auf dem harten Höhlenboden.
Traurig blickte Udûne auf die Gestalt am Boden und dann zu den schockierten Neuankömmlingen. Als sie sah, dass sie sich etwas gefangen hatten, sprach sie wieder.
“Bald wird sie sterben! Dann muss ich ihr Licht fangen und warten bis der Alte Feind wieder dahin geht, von wo er gerufen wurde. Es graut mir davor, dies irgend einem Wesen anzutun, doch für sie wird es besonders schlimm sein. Vielleicht wird ihr Licht daran zerbrechen ... und doch ... ich weiss, dass sie es nicht anders haben wollte“.
"Ihr wisst wer der Alte Feind ist?" fragte Leoram, nicht wirklich überrascht.
"Ich weiss was der Alte Feind ist. Es ist ein uraltes Wesen, eines das schon seit Äonen von Zeitaltern auf dieser Welt lebt. In seinem Hunger hat es bereits ganze Völker verschlungen. Und alles, dass seinen Hunger stillt, wird zu einem Teil des Alten Feindes. Die Form, die Erinnerungen, die Stärken eines Wesens. Sie alle werden ein Teil von ihm."
Langsam schüttelt Udûne ihren Kopf.
Der Alte Feind ist weder gut noch böse. Es ist einfach. Es schläft, es hat hunger, es erwacht, es frisst, es ruht. So geht es schon seit Ewigkeiten und so wird es gehen bis alles endet. Oder so sollte es sein! Dieser Magier wollte es ändern. Er wollte dafür sorgen, dass der Alte Feind die Erinnerung aller Wesen, die er verzehrt hat, zusammenführen kann. Dass es ein Bewusstsein erlangt. Ein Bewusstsein, welches er steuern konnte. Dieser Narr!
Leider bemerkte ich zu spät was im Geschehen war. Nur mit Mühe konnte ich die Celestische befreien, doch heilen kann ich sie nicht mehr. Ich kann nur dafür sorgen, dass der Alte Feind nicht ihre Seele verschlingt. Das Einzige, was es nun noch benötigt um die Erinnerungen zusammenzuführen.
Schaudernd lauschten Menschen und Elfin den Ausführungen der Tochter Iffanduais.
"Ka… " Julièn räusperte sich "Kannst du den Alten Feind nicht zerstören? Besiegen?"
Traurig schüttelte Udûne den Kopf.
"Die Götter allein könnten ihn zerstören. Doch sie tun es nicht, aus Gründen, welche die ihrigen sind. Ich selbst kann den Alten Feind nur hier zurückhalten und ihn wieder in den Schlaf singen, denn sein Hunger war noch nicht stark genug um es zu wecken. Doch um es in den Schlaf zu singen, fehlt mir Elementare Erde … und zurückhalten kann ich ihn nicht mehr lange, denn irgendwann gehen auch meine Kräfte zur Neige. Vor allem, wenn ich noch auf das Licht der Celestischen achten muss!
"Können wir etwas tun? Dir irgendwie helfen?" fragte Julièn etwas unbeholfen.
Ernst schaute die eigenartige Frau dem Druiden tief in die Augen.
"Ihr könntet gehen und mir Elementare Erde bringen. Und du oder die Elfin könnten hier bleiben und mir dabei helfen das Licht einzufangen."
"Wie können wir Elementare Erde finden? Wie kommen wir hier überhaupt hinaus?" schaltete Leoram sich wieder ein.
"Die Sternenobelisken. Sie sind Wege - oder Wegmarken - Tore, ja, Tore trifft es wohl am besten. Sie wurden von den Alten Völkern an den Schnittpunkten der Elementarlinien aufgestellt. Mit ihrer Hilfe kann man von einem zum anderen reisen. Ich würde euch einen Schlüssel geben, mit welchem ihr zu Tnakrarr, einem weiteren Torwächter wie mir, reisen könntet. Tnakrarr sollte über Elementare Erde verfügen. Allerdings wird er sie euch nicht ohne Gegenleistung überlassen!"
Während sie sprach, nahm Udûne aus ihrer Kleidung einen achtzackigen Stern, aus fehlerlosem Aquamarin geschliffen, welcher ganz leicht leuchtete.
"Solltet ihr gehen, gebe ich euch Sternenstaub mit. Dies ist eine äusserst seltene Substanz, welche wie Sternenlicht wirkt und den Obelisken im Unterreich aktiviert."
"Im Unterreich?" fragte Leoram in zweifelndem Tonfall. "Du meinst unter der Erde? Wie kann dort etwas sein? Da ist doch nur Stein und vielleicht ein paar Zwerge!?"
Kurz schüttelte Udûne den Kopf.
"Du irrst dich. Diese Welt ist voller Leben. Selbst tief in der Erde, im Gestein, in den Knochen der Welt, gibt es Leben. Lebewesen, welche Kulturen erschaffen haben, liebten, hassten, Krieg führten und führen. Tnakrarr zum Beispiel ist Wächter des Obelisks im Echosee. An den Küsten dieses Sees leben viele Wesen.
Wenn ihr diese Aufgabe übernehmen wollt, dann nehmt den Schlüssel und den Sternenstaub um zu reisen und Elementares Wasser um mit Tnakrarr zu handeln. Ich glaube nicht, dass er diesem Angebot widerstehen kann!"
Dabei nahm Udûne eine etwa fustrosse, schimmernde Kugel hervor. Die Flüssigkeit in ihr schien beinahe lebendig und das sanfte Licht, welches sie aussandte pulsierte langsam. Mit leicht zitternden Händen aber ohne zu zögern trat Julièn vor und nahm die Gegenstände an sich. Nur flüchtig berührten seine Finger die Haut Udûnes, doch dies reichte um ihre Aufmerksamkeit zu reizen.
Die Schwingungen des Druiden schienen kurz intensiver zu werden und Udûne lauschte der Melodie. Das Thema darin kannte sie schon lange und auch die individuelle Variation vermochte sie nicht zu überraschen, aber da war noch ein anderes Lied, tief im Thema verborgen … ein Lied, welches eine uralte Erinnerung in ihr berührte.
Kurz zögerte sie, doch dann sah sie Julièn in die Augen und sagte es ihm. Er hatte das Recht es zu wissen.
"Du wirst eine Entscheidung treffen müssen! Ich weiss nicht welche und ich weiss nicht wesshalb. Ich weiss nur, dass diese Entscheidung wichtig ist und dir von niemandem abgenommen werden kann. Du kannst der Entscheidung ausweichen, doch daraus entstand noch nie etwas Gutes. Das Einzige was ich dir geben kann, ist die Zeit, dir darüber klar zu werden, was du wirklich willst und wer du bist…“
Natürlich wollte Julièn mehr über diese Entscheidung die er treffen musste erfahren. Doch Udûne war nicht gewillt ihm mehr darüber zu sagen. Sei es, weil sie nicht mehr wusste, weil keine Zeit mehr war oder weil sie es schlicht nicht wollte.
Leoram klatschte in die Hände.
“Wir gehen also? Gut. Gehen wir!“
Udûne nickte kurz und schon schien sich Sternenlicht um die vier Männer zu sammeln, sich zu verdichten und wieder zu verschwinden, nur um die Abenteurer auf der Insel des Sternensees um den Sternenobelisk zurückzulassen.
Die Vier, inklusive Ténèbres und Abraxas, waren leicht verwundert, dass Udûne sie so schnell weggeschickt hatte. Denn sie hatten sie noch einiges fragen wollen. Aber offenbar war sie der Meinung gewesen, sie hätte ihnen bereits alles wissenswerte mitgeteilt.
“Na toll!“ rief Leoram genervt aus. “Was soll das? Sie hat uns nicht gesagt, wo wir den Stern hineinstecken müssen um am richtigen Ort anzukommen! Jetzt müssen wir noch mal zurück... Frauen!“
Julièn kramte gleich den Schlüsselstern hervor und sogleich wusste er, wo er den Stein einsetzen musste. Er teilte dies seinen Freunden mit, was Leorams grummelige Laune etwas verbesserte.
Schliesslich entschloss man sich nicht mehr zu Udûne zurückzukehren und gleich den Obelisken zu aktivieren. In der Anwesenheit des Alten Feindes wollte keiner der Gefährten lange verweilen.