Teil 4: Brewers BüroForsetzung Session 06.10.2007Als Expertin für Fußtritte ließ es sich Lady Gordon nicht nehmen, einen ersten solchen gegen die verschlossene Tür von Dr. Brewers vermeintlichem Büro zu richten. Wäre die Tür ein Mensch gewesen, hätte dieser Tritt richtig weh getan, aber da Türen bekanntermaßen keine besonders empfindlichen Stellen besitzen, sondern nur mit roher Gewalt aufzubrechen sind, erreichte sie außer einem lauten Krachen nichts. Ich bot mich an, diese rohe Gewalt zur Verfügung zu stellen und wollte es als nächster versuchen. Ich legte mein ganzes Gewicht in den Tritt und die Tür flog auf.
Wir hatten ja bereits befürchtet, dass Dr. Brewer ebenfalls Opfer des Mörders geworden war, und somit rechneten wir mit einer weiteren Leiche. Der Anblick, der sich uns in Dr. Brewers Büro bot, übertraf jedoch unsere schlimmsten Befürchtungen bei Weitem: Der Mörder hatte den Schreibtisch und die Stühle ans Fenster geschoben, um in der Mitte des Raumes Platz zu schaffen. Das, was von Dr. Brewer übrig war, lag dort auf dem blutdurchtränkten Teppich. Durch seine Hände und Füße waren dicke Nägel in den Fußboden getrieben worden, Kopf, Arme und Beine waren abgehackt. Den Torso hatte der Mörder geöffnet und den Inhalt gleichmäßig im ganzen Raum verteilt. Sein Darm hing sogar in Form einer Girlande von der Decke. Alles war voller Blut, der ganze Raum ein einziges Schlachthaus.
Es roch wie in einer Metzgerei. Ich japste nach Luft und musste mich am Türrahmen abstützen. Den anderen erging es nicht besser: Auch Pater Benedict wankte bedenklich und Mrs. Stevens-McCormmick schrie entsetzt auf. Am schlimmsten war Lady Gordon betroffen: Sie taumelte zurück an die Wand, setzte sich auf den Boden und begann zu würgen.
Es dauerte eine Weile, bis wir uns wieder gefangen hatten. Lady Gordon schleppte sich in das gegenüber liegende Badezimmer und Pater Benedict und ich begannen damit, uns vom Türrahmen aus im Raum umzuschauen. Neben dem Schreibtisch befanden sich noch eine Bücherwand, ein Aktenschrank und ein Safe in dem Büro. Außerdem führte linkerhand eine weitere Tür in ein angrenzendes Zimmer, das wir noch nicht kannten. Zunächst einmal untersuchte ich aber den Boden vor der Tür auf Fußspuren hin und fand tatsächlich einige blutige Schuh-Abdrücke, die von Dr. Brewers Leichnam zur Tür hin führten, dort aber plötzlich aufhörten und sich nicht im Gang fortsetzten.
In der einen Hand meine Elefantenbüchse bewegte ich mich sachte nach links in den Raum hinein auf den Aktenschrank zu, wobei ich versuchte, so viel Abstand zwischen mir und Dr. Brewer wie möglich zu halten. Der Schrank hatte vier Hängeregister-Schubladen. Ich öffnete die oberste und fand darin vier Personalakten: Catherine Ames (Krankenschwester), Bobby Birch (Krankenpfleger), Melba Carson (Zimmermädchen) und Charles Johnson (Krankenpfleger). Ich gab die Namen laut bekannt und wir stellten mit Verwunderung fest, dass es keine Akte mit dem Namen "Blanche" gab. Entweder fehlte die Akte oder die Dame, die uns die Tür geöffnet hatte, gehörte überhaupt nicht zum Personal (oder hatte uns einen falschen Namen genannt).
Die zweite Schublade offenbarte mir die Unterlagen der Buchführung des Sanatoriums. Da ich diese als nicht sonderlich relevant für unsere momentane Situation einstufte, öffnete ich gleich die dritte Schublade: Patientenakten! Fünf Hängeregister, die folgendermaßen beschriftet waren, boten sich meinem Auge:
- E1: Blanche Goddard Richmond
- E2: Colonel Crandall Billings
- E3: (leer)
- E4: Henry Adam Barber
- E5: Cecil Randolph
Hier hatten wir unsere Blanche! Da es sich bei ihr offenbar um eine der Patientinnen handelte, die zudem über den "Unfall" im Wohnzimmer Bescheid gewusst hatte, kamen wir zu dem Schluss, dass sie wahrscheinlich mit den Morden irgendwie in Verbindung stand. Die Codierung der Akten mit E1 bis E5 deutete auf Zimmer im Erdgeschoss hin, denn im Keller hatten wir ja bereits Patientenräume mit den Nummern K1 bis K4 entdeckt. Colonel Billings befand sich also im Erdgeschoss. Des Weiteren schürte dies meine Hoffnung, in der vierten Schublade die entsprechenden Akten der Patienten im Keller zu finden. Ich öffnete sie, und tatsächlich:
- K1: Allen Harding
- K2: (leer)
- K3: Leonard Hawkins
- K4: Darlene
Die Akten selbst waren äußerst umfangreich und in einer schwer entzifferbaren Handschrift geschrieben - sie komplett zu lesen, würde längere Zeit in Anspruch nehmen.
Pater Benedict hatte inzwischen den Schreibtisch in Augenschein genommen und einen Brief darauf entdeckt, den Dr. Brewer wohl gerade im Begriff zu verfassen gewesen sein muss, bevor er seinem Mörder begegnet war. Er las ihn laut vor:
Brief von Dr. Brewer
Werter Herausgeber,
als Antwort auf die Leserbriefe der Herren Dr. Hagen und Dr. Allen, welche in Ihrer Juniausgabe abgedruckt wurden, muss ich sagen dass ich von zwei derart hochgeschätzten Kollegen mehr erwartet hätte. Wie ich es in meinem Artikel deutlich beschrieb, ist meine Arbeit im höchsten Grade experimenteller Natur und sämtliche Schlussfolgerungen zu diesem Zeitpunkt noch rein spekulativer Natur. Ich beschreibe nur Beobachtungen und stelle keine Behauptungen auf.
Seit der Artikel geschrieben wurde, habe ich weitere Experimente durchgeführt, welche meine früheren Beobachtungen zu bestätigen scheinen. Jedoch werde ich vorerst keine weiteren Artikel einreichen, bis ich meiner Sache nicht hundertprozentig sicher bin und Beweise habe, die selbst die am meisten verkrusteten Skeptiker überzeugen werden. Ich habe es nicht nötig, mich auf solch niedrigem
Über die in dem Brief erwähnten Experimente wollten wir natürlich mehr wissen, also untersuchten wir zunächst die Bücherwand. Außer der zu erwartenden umfangreichen Fachliteratur über Psychologie und einer Sammlung vieler Ausgaben des Journal of the British Psychological Society befanden sich dort auch auffallend viele Bücher über Ägyptologie. In einem dieser Bücher fand Pater Benedict einen Zeitungsausschnitt, der Dr. Brewer wohl als Lesezeichen gedient hatte:
Zeitungsausschnitt "Archäologische Entdeckung"
In dem Zeitungsartikel wird von der Entdeckung von Tempelruinen und Steinstatuen in der Nähe des "Tals der Könige" in Ägypten berichtet. Der erste Fund war eine Stele zu Ehren der Prinzessin Annephis, die etwa 1400 v. Chr. einen Feind in die Flucht geschlagen haben soll. Bei diesem Feind soll es sich um Plünderer der Hyksos oder um ein "geheimnisvolles Seevolk" gehandelt haben.
Der Safe enthielt mit Sicherheit auch noch einige interessante Dinge, aber dieser war natürlich geschlossen und mit einem Zahlenschloss versehen. Ohne die richtige Kombination würden wir hier nicht weit kommen, also wandten wir uns dem Schreibtisch zu.
Pater Benedict und ich schoben den Schreibtisch vorsichtig von der Wand, um an die Schubladen heranzukommen. Ich öffnete die linken beiden und fand ein Tagebuch (offenbar von Dr. Brewer, da es in der gleichen Handschrift geschrieben war wie der Brief) und ein dickes Schlüsselbund. Der Weg ins Erdgeschoss war frei! Pater Benedict nahm sich die rechten beiden vor. In der ersten fand er nur Schreibutensilien, aber aus der zweiten zog er plötzlich einen Revolver. "Kann den jemand brauchen?" fragte er unverhohlen in die Runde und hielt die Waffe dabei in die Höhe. Trotz allem, was ich an diesem Tag schon gesehen hatte, war der Kirchenmann, der mit einer Schusswaffe herumwedelte, der mit Abstand absurdeste Anblick. Mrs. Stevens-McCormmick, die sich zwischenzeitlich wieder im Türrahmen eingefunden hatte, war offenbar ähnlich perplex: Wir tauschten verständnislose Blicke aus. Schließlich nahm sie die Waffe, wobei ich mir nicht ganz sicher bin, ob sie sie wirklich haben oder nur diese seltsame Situation beenden wollte. Ich bin zwar kein Theologe, aber einen solch unverfänglichen Umgang mit Waffen hätte ich einem christlichen Mönch unter keinen Umständen zugetraut. An dem Mann war offenbar mehr dran als es den Anschein hatte.
Wie auch immer, mich interessierte noch das angrenzende Zimmer, dessen Zugang sich hier offenbart hatte. Ich machte meine Waffe bereit, öffnete die Tür und sah in einen fensterlosen Raum. Im Licht der Öllampe tauchten lediglich Schrankwände an drei Seiten der kleinen Kammer auf, sowie ein leerer Tisch in der Mitte. Einen nach dem anderen öffnete ich die Schranktüren und fand massenweise Medikamente, Verbandszeug und andere medizinische Utensilien vor. Wir hatten die Apotheke gefunden, den letzten noch verbliebenen uns unbekannten Raum im Obergeschoss.
Wir entschlossen uns, den gesamten Inhalt des Aktenschranks und das Tagebuch mit nach unten zu nehmen, um alles genauer zu studieren. Das Schlüsselbund nahm ich an mich. Als Pater Benedict und ich mit den Aktenstapeln den Raum verließen, trafen wir auf Lady Gordon, die im Gang gewartet hatte, ohne sich einen weiteren Blick in Brewers Büro antun zu wollen. Als sie unsere blutverschmierte Kleidung sah, fing sie jedoch augenblicklich wieder an zu würgen und Dr. Stevens-McCormmick musste sie wieder ins Badezimmer zurück begleiten. Mit leicht schlechtem Gewissen ob meiner Unachtsamkeit setzte ich den Weg in die Bibliothek fort. Dort angekommen berichteten wir Dr. Tiller von Dr. Brewers Tod, wobei wir ihm jedoch die grausamen Einzelheiten ersparten. An den gefundenen Patientenakten zeigte er sich jedenfalls sehr interessiert.
Pater Benedict und Lady Gordon zogen es auch vor, sich mit den Akten zu beschäftigen, anstatt weiter das Haus zu untersuchen. Vielleicht hatten sie auch einfach nur genug zerstückelte Leichen für einen Tag gesehen und wollten nicht riskieren, einer weiteren zu begegnen. Dafür hatte ich zwar Verständnis, aber ich konnte mich nicht mit der Idee anfreunden, mich unter diesen Umständen hinzusetzen und Akten zu studieren, auch wenn diese vielleicht für uns interessant sein könnten. Außerdem wollte ich wissen, wie es Colonel Billings ging. Als ich mein Vorhaben verkündete, das Haus weiter zu untersuchen, schloss sich mir unerwarteterweise die reizende Mrs. Stevens-McCormmick an.
Es erschien uns jedoch zu riskant, nur zu zweit den direkten Weg durch das Foyer ins Erdgeschoss zu nehmen. Immerhin wussten wir, dass sich hier höchstwahrscheinlich Blanche aufhalten würde und eventuell auch der Mörder - wenn es sich nicht ohnehin um die gleiche Person handelte. Also begaben wir uns in den Keller und setzten unsere Untersuchung am Gangende fort, wo uns zuvor die verschlossene Tür aufgehalten hatte. Ich suchte den passenden Schlüssel heraus, dann schloss ich die Tür auf. Dahinter verbarg sich lediglich ein kleiner Lagerraum mit einer großen Schrankwand, aber um eine Ecke herum führte eine Treppe nach oben, offenbar ins Erdgeschoss. Eine kurze Untersuchung des Schranks erbrachte außer Haushaltsgegenständen, diversen Werkzeugen und Wandfarben nichts. Wie es schien, war uns damit auch der Keller komplett bekannt.
Vorsichtig bewegten wir uns die Stufen hinauf. Ich ging voran, die Elefantenbüchse im Anschlag, während Mrs. Stevens-McCormmick die Öllampe hielt. Oben öffnete sich die Treppe in eine Waschküche hinein. Als erstes fiel uns rechterhand eine offene Tür auf, die offenbar nach draußen führte - der Hintereingang. Kühle Nachtluft wehte herein. Erst beim zweiten Blick erkannte ich, dass die Tür nicht offen stand, sondern komplett fehlte. Die Angeln hingen abgerissen im Türrahmen.
Dann sah ich die Frau. Ich hatte sie nicht sofort bemerkt, da sie auf dem Boden saß und sich nicht rührte. Sie trug die Arbeitskleidung eines Zimmermädchens, saß mit dem Rücken an einen Wäschetrockner gelehnt direkt vor der zerborstenen Tür und starrte ins Leere.
Ich wollte mich ihr nähern, um sie anzusprechen, dann hielt ich jedoch plötzlich inne. Was war mit ihren Beinen los? Mir wurde schwindelig. Mrs. Stevens-McCormmick, die hinter mir die Treppe heraufgekommen war, stieß einen Schrei aus und hastete auf den letzten Absatz zurück. Zum Glück ließ sie die Lampe nicht fallen. Ich starrte nach wie vor gebannt auf die Beine des Zimmermädchens. Wie in Trance ging ich zu ihr hin, um mir die Sache genauer anzusehen. Die Haut und das Fleisch waren bis auf die Knochen zusammengeschrumpelt. Der Anblick erinnerte mich an eine ägyptische Mumie. Ein kurzes Stück der Oberschenkel war noch normal, dann gingen die Beine in diesen furchtbaren Zustand über, ohne dass eine offene Wunde oder Blut zu sehen war. Ich konnte mir absolut nicht erklären, wie sie sich diese Verletzungen zugezogen haben könnte.
Ich sah mich um. Genau gegenüber der aus den Angeln gerissenen Tür befand sich eine verstärkte Tür wie im Foyer, die offenbar von der anderen Seite in den Gang mit den Patientenzimmern im Erdgeschoss führte. Wenn man eine direkte Linie zwischen der zerborstenen Außentür und dieser verstärkten Tür ziehen würde, dann hätten die Beine der Frau diese Linie genau gekreuzt. Also, um mal ein wenig zu spekulieren: Hätte sich irgendetwas oder irgendjemand aus dem Gang nach draußen bewegt, und zwar möglicherweise so schnell, dass dabei die Hintertür herausgerissen wurde, dann hätte dieses Etwas oder dieser Jemand die Beine der Frau gekreuzt, und zwar genau dort, wo sie ihre Verletzungen hatte. Die verstärkte Tür, die vermutlich in den Gang führte, war aber geschlossen und völlig intakt. Außerdem wäre in dem Fall merkwürdig, dass die Frau bereits auf dem Boden gesessen haben müsste, bevor sie verletzt wurde. Aus welchem Grund hätte sie sich aber genau dort hinsetzen sollen? Wieder einmal stand ich vor einem Rätsel.
Jedenfalls lebte die Frau noch und wir mussten ihr dringend helfen. Ich ging zurück zu Mrs. Stevens-McCormmick. Glücklicherweise hatte sie sich wieder so weit gefangen, dass sie sich in der Lage sah, das Zimmermädchen mit mir zusammen zu tragen. Wir beschlossen, sie in eines der Schlafzimmer im Obergeschoss des Foyers zu bringen und dann Dr. Tiller hinzuzuziehen. Da keiner von uns die verdorrten Beine anfassen wollte, griffen Mrs. Stevens-McCormmick und ich jeweils unter einen Arm des offensichtlich traumatisierten Mädchens und hoben es vorsichtig an. Mit einem Geräusch, als würden zwei morsche Äste brechen, lösten sich ihre Beine von den Oberschenkeln und blieben an Ort und Stelle liegen. Ich weiß bis heute nicht, wie Mrs. Stevens-McCormmick und ich es geschafft haben, in diesem Moment nicht schreiend davonzulaufen, aber irgendwie behielten wir die Fassung und trugen die Frau die Treppe hinunter, ohne noch einen Blick auf ihre Beine zu werfen.
Als wir schließlich in einem der Schlafzimmer angekommen waren, legten wir das Zimmermädchen hin und deckten es zu. Dann eilte ich in die Bibliothek, um Dr. Tiller zu holen. Auch dieser hatte solche Verletzungen noch nie gesehen und konnte sich auch nicht erklären, was sie verursacht haben könnte. Er behandelte sie so gut es ging, dann kehrten wir wieder alle in die Bibliothek zurück.
Wir beratschlagten, wie weiter vorzugehen sei. Wenn man nach den Personalakten ging, dann hatten wir die beiden Krankenpfleger Bobby Birch und Charles Johnson noch nicht gefunden. Womöglich lebten sie noch und waren verletzt. In diesem Fall durften wir keine weitere Zeit mehr verlieren. Wir versammelten uns im Foyer vor der Tür zum Patiententrakt. Es war an der Zeit, der Sache auf den Grund zu gehen.
Fortsetzung in Teil 5: Das Erdgeschoss