Prolog: Heimkehr (Zweiter Teil)
Helion teilte den Gefährten seine Erfahrungen mit. Die Kettenbrecher entschlossen sich, den Affen aus der Nähe zu betrachten; Thargad sollte versuchen, eines der Fenster zu öffnen, die anderen suchten nach einem möglichen Eingang.
Leise und vorsichtig setzte Thargad seine Schritte auf die Wirtschaft zu. Die dumpfe Musik und das Stimmengewirr wurden kaum lauter, noch verständlicher. Thargad duckte sich unter ein Fenster. Er zog den linken Ärmel zurück, wo er sein Diebeswerkzeug verstaut hatte, und betrachtete den Spalt zwischen Fenster und Wand, um einen passenden Hebel auszuwählen. Der Spalt war dicht – nein, es gab keinen Spalt. Wie Helion gesagt hatte, waren die Fenster wie aufgemalt. Thargad schob sich etwas in die Höhe und spähte durch das Glas. Es war nichts zu erkennen, wo selbst das blindeste Glas noch verzerrte Einzelheiten enthüllt hätte. Unverrichteter Dinge ging Thargad um den Affen herum, bis er bei den anderen Abenteurern angelangt war, denen er mit einem Kopfschütteln den Erfolg seiner Aufgabe vermittelte.
»Dafür haben wir etwas gefunden«, sagte Dirim. »Die Küche ist offen. Es gibt zwar wieder keine Tür, aber es geht hinein.«
»Ich weiß nur nicht, ob das gut ist«, fügte Helion hinzu.
Einst hatten die Kettenbrecher Zungenfresser in der Küche überrascht, als sie durch den Hintereingang stürmten. Damals mussten sie die Tür mit einem gezielten Zauber öffnen. Jetzt gab es kein solches Hindernis mehr. Hinter dem Durchgang konnte man die Küche dennoch nur erahnen, wenn man nicht Zwergen- oder Koboldsicht besaß. An den Wänden der Küche hingen Fackeln, doch ihr Licht reichte nur auf Armeslänge hinaus, bevor es von gefräßigen Schatten verschlungen wurde. Die Schatten waren so dicht, dass selbst Dirim und Helion nur einen Bruchteil ihrer ursprünglichen Sehkraft hatten; in ihrer schwarzweißen Sicht erkannten sie gerade den großen Herd und die Küchenbank in der Mitte des Raumes.
»Da bewegt sich etwas«, sagte Thamior.
»Konntest du es erkennen?«, fragte Boras.
Der Elf zögerte.
»Ja... und nein.«
Thamior sah katzengroße Kreaturen, sie saßen auf den Tischen oder hingen an den Wänden und wiegten sich langsam im Takt der Musik. Hier hörte das Erkennen auf. Weiterhin sah er aber, dass es sich bei diesen Kreaturen um abgeschnittene Affenköpfe handelte, die vorne wie hinten ein Gesicht hatten. Zu den Seiten wuchsen ihnen dünne Arme mit scharfen Krallen, die ihnen beim Klettern halfen.
»Es sind wohl Wächter«, vermutete der Elf. »Aber mehr sage ich nicht dazu.«
In diesem Moment entdeckte einer der Köpfe die Gruppe. Er stieß ein schrilles Kreischen aus und katapultierte sich auf Thamior zu. Der Elf duckte sich, und dicht hinter ihm explodierte der Kopf in Schatten und Geschrei.
Sofort rollte sich Thargad durch die Tür und stieß einem zweiten Schädel sein Kurzschwert zwischen die Augen. Der Schädel zerfloss zu Schatten. Thamiors Pfeil nagelte einen dritten Wächter an die Wand. Auch dieser zerfloss. Der vierte Schädel warf sich auf Thargad, doch auch der Schurke konnte problemlos ausweichen, und die Explosion brachte nur ein paar Töpfe durcheinander.
»Wo sind wir hier?«, fragte Thargad, nachdem er sich vergewissert hatte, dass die Gefahr zunächst vorüber war. Die Kettenbrecher zogen sich wieder aus dem Affen zurück.
»Masks Wundersames Wunschland?«, riet Helion.
»Ernsthaft.«
»Ich würde sagen, in einer Art Zwischenwelt. Wir sind nicht nach Faerûn gekommen, sondern wurden seitlich verschoben, hinter die Welt, wo Schatten und Albträume hausen.«
»Häh?«, fragte Boras und sprach aus, was alle dachten.
»Ist genauso wahrscheinlich wie mein erster Tipp«, verteidigte sich der Kobold. »Wahrscheinlich ist es etwas ganz anderes.«
»Können wir nicht einfach hier weg?«, fragte Thamior. »Ich will in einen richtigen Wald.«
»Schauen wir doch mal«, sagte Dirim.
Er nahm eine Schriftrolle hervor, deren Zauber einen Ebenenwechsel bewirken konnte. Die Kettenbrecher nahmen sich an den Händen. Dirim las die Schriftrolle. Es geschah nichts.
»Und jetzt?«
Zur Antwort trat Thargad zurück in die Küche.
Helion seufzte. »Also gut, gehen wir rein. Fliehen können wir, wenn wir tot sind.«
-
Der Schankraum des Glücklichen Affen war leer, doch schien er gerade erst verlassen. Halb gegessene Gerichte, angetrunkenes Bier, Karaffen mit Wein standen auf den Tischen. Selbst Gesprächsfetzen trieben herrenlos durch den Raum und trafen hier und dort auf die Ohren der Kettenbrecher. Schatten überzogen die Decke, sammelten sich in den Ecken und tropften teergleich von den Dachbalken.
Helion stieß Thamior an. »Flüssiger Schatten«, sagte er.
»Da hätte ich nicht dran gedacht«, ächzte der Elf. »Danke.«
Rasch nahm er eine leere Phiole heraus und sammelte die Zutat für seinen Seelenbogen. Nun fehlte nur noch eine: der Muskel einer lebenden Maschine. Dann könnte er seine Tochter Annastrianna endlich vor dem Schicksal retten, das ihr die Götter als Ungläubigen zugedacht hatten. Zuvor musste er nur noch aus dieser Albtraumwelt entkommen.
Schritt für Schritt tasteten sich die Kettenbrecher durch den Schankraum, immer darauf bedacht, nicht in zu tiefe Schattenpfützen zu treten. Hinter der Theke lag der Gang, der zum Silvanusschrein führen müsste, und zu den Quartieren von Shensen Tesseril. Wenn sie in dieser Welt existierten. Der Gang jedenfalls war da.
»Ich habe da ein ganz mieses Gefühl«, sagte Boras.
»Jetzt erst?«, gab Thargad zurück.
Feuchte Hitze schlug ihnen aus dem Gang entgegen, als wären sie unversehens in die tiefsten Tiefen von Chult geraten. Schwarze Ranken wucherten wie Schattenefeu über Boden, Decke und Wände. Aus der offenen Tür zum Schrein wuchsen Pflanzen mit fleischigen, großen Blättern, Farne, Palmgewächse, allesamt pechschwarz. Die Kettenbrecher schoben sich zur Tür vor und die Blätter beiseite.
Vor dem Schrein hing Shensen Tesseril in der Luft. Ihre Arme und Beine waren gespreizt und mit dicken Ketten an die Wände gefesselt. Ihre ebenhölzerne Haut wirkte inmitten der schwarzen Pflanzen gar nicht mehr so dunkel. Aus der offenen Brust der Halbelfe wuchs ein Bündel aus Wurzeln und Ranken, die Quelle der Pflanzen. Die Ranken pulsierten im Takt von Shensens Herzschlag. Aus ihrem Mund wuchs eine besonders dicke und fleischige Wurzel. Shensen starrte die Kettenbrecher unverwandt an; jemand hatte ihr die Augenlider entfernt.
Im Bruchteil eines Atemzuges hatte jeder der Kettenbrecher seinen Gott um Gnade angefleht. Dann trat Dirim entschlossen vor und zog Treueschwur aus seiner Scheide.
»Shensen?«, fragte er laut.
Die Augenlider verdrehten sich. Ihrem Hals entrang sich ein Röcheln, dumpf geworden durch die knebelnde Ranke.
»Ich werde dir helfen.«
Shensen sah einmal kurz zu Boden, dann fixierte sie ihren Blick auf den Priester. Dirim hob das Schwert. Mit einem schnellen Hieb zertrennte er die dicke Ranke vor Shensens Mund. Die Ranke fiel zu Boden und verkümmerte dort sofort. Eine besonders große Schattenblume zerfiel zu schwarzem Staub.
Es gab ein würgendes Geräusch. Aus dem Stumpf in Shensens Mund quollen Unmengen von Blut, dunkel und zäh. Mit jedem Schwall pulsierten die Ranken aus ihrer Brust weniger, und schließlich verdrehte Shensen die Augen ein letztes Mal, und das Pulsieren erstarb. Die Schattenpflanzen verwandelten sich allesamt in schwarze Flocken, die langsam durch die Luft tanzten und dem Boden entgegen schwebten.
Dirim fühlte den Puls der Dunkelelfe. Sie war tot. Die Kettenbrecher nahmen ihre Fesseln ab und legten sie auf dem Altar ihres Gottes zur Ruhe, nicht ohne zuvor den Notvorrat an Heiltränken und Pfeilen einzustecken, der sich in einem Geheimfach befunden hatte. Dirim sprach ein kurzes Gebet, und sie verließen den Raum.
»Wie beim letzten Mal«, sagte Helion. »Wir müssen in den Keller.«
Dort hatten sie damals Shensen als einzige Überlebende des Massakers vorgefunden. Sie hatte sich in einem Kühlraum verschanzt.
-
Der Keller war dunkel und kalt. Schon auf den ersten Stufen hatten die Kettenbrecher die Kühle bemerkt, am Fuß der Treppe bildete ihr Atem schon weiße Wolken. Wo vorher ein Lagerraum gewesen war, erstreckte sich jetzt ein langer, dunkler Gang. Rauhreif an den Wänden reflektierte das Licht von Boras’ Laterne. Aus den Wänden ragten seltsame Formen, die an menschliche Oberkörper erinnerten, in größter Qual erstarrt.
Mit gezogenen Waffen und Zaubern auf den Zungen gingen die Kettenbrecher den Gang entlang, der immer kälter wurde, bis selbst der wildniserfahrene Thamior einen leichten Zug verspürte. Vorwärts ging es, immer weiter vorwärts. Längst hatten sie die Ausmaße der Wirtschaft überschritten und näherten sich dem Ende der Lichtung. Endlich erkannte man einen Durchgang in einiger Entfernung.
Prompt traten Gestalten hindurch und bewegten sich langsam auf die Kettenbrecher zu. Sie waren etwa menschengroß, völlig nackt und geschlechtslos, und hatten keine Arme. Dafür hatten sie einen grotesk angeschwollenen Bauch. Jetzt floss schwarze Flüssigkeit aus ihrem Bauchnabel, der sich erweiterte. Eine Klaue war zu sehen, dann eine ganze Hand, und schließlich zwängte sich ein von schwarzem Öl bedeckter Arm aus dem Nabel heraus und wies drohend voraus.
»Jetzt reichts«, sagte Helion. Er rieb bereits einen kleinen Schwefelball zwischen den Fingern. »Vielleicht wird es jetzt kalt«, sagte er zu seinen Gefährten, »aber die kommen nicht näher. Inferno!«
Der Schwefelball flog den Kreaturen entgegen und verging in einem großen Feuerball. Für einen Moment war die Kälte wie verflogen. Die Einarmigen vergingen in einer Mischung aus Feuer und Schatten; noch im Tode explodierten sie selbst. Dann kehrte die Kälte zurück, allerdings nicht stärker als zuvor – im Kühlraum hätte sie sich von den Flammen geradezu ernährt.
»Der gute alte Feuerball«, sagte Helion.
»Gehen wir weiter«, sagte Dirim.
Der Raum hinter dem Durchgang war durchzogen von Spinnweben aus Schatten und Eis; jeder der Kettenbrecher spürte jetzt die Kälte in seinen Knochen, nur Thamior fühlte sich dagegen gefeit, gerade so. Im Raum warteten weitere vier der einarmigen Gestalten, und der Herrscher über den Glücklichen Affen: Zungenfresser. Sein Hals war frisch versehrt, wo Boras’ Axt ihn getroffen hatte – er hatte seinen Kopf auf seine linke Hand gesteckt. Er grinste, und schwarzer Sabber rann ihm aus dem Mund. Seine rechte Hand endete in langen Schattenklauen, die er jetzt prüfend auf- und zuklappte. Dann begann der Kampf.
Boras stürzte gleich auf den Gegner zu. Noch bevor er Schlachtenwut sprechen lassen konnte, stieß Zungenfresser seine Klauen vor. Boras wehrte ab, aber konnte so selbst keinen guten Schlag anbringen. Thamior feuerte Pfeile auf die Einarmigen ab. Nach jeweils zwei Pfeilen schon zitterten sie und explodierten in einem Regen aus Schattenfetzen. Thargad rannte Boras hinterher, zog sich auf seine Schultern und sprang über Zungenfresser, der vergebens mit seinem Schädel nach dem Schurken stieß. Die scharfen Zähne trafen nur Luft. Dirim näherte sich ebenfalls dem Monstrum. Helion hingegen schloss die Augen und konzentrierte sich.
»Du kannst es«, redete er sich ein. »Los doch!«
Im Geiste ging er noch einmal all seine Aufzeichnungen durch. Die Formel war nicht so schwer, er konnte kaum glauben, dass sie ihm bislang nicht gelungen war. Aber jetzt, das spürte er, war der richtige Moment. Wann sonst? Er deutete mit seiner Klaue auf Zungenfresser, sammelte magische Energien um sich und sprach die Formel.
»Pulvo!«
Ein rosa Strahl raste auf Zungenfresser zu. Es gleißte, dann war das Monstrum von einer Horde Schmetterlinge umgeben, die friedlich-fröhlich flatterten.
»Sch...!« Helion fiel nicht einmal mehr ein guter Fluch ein, so erzürnt war er.
Währenddessen hatte Thargad festgestellt, dass Zungenfresser zwar ziemlich tot aussah, aber immer noch verwundbare Stellen hatte. Mit jeder Wunde schien er verwundbarer zu werden. Leider schlossen sich die Wunden wieder, und mit jeder Heilung kamen seine Hiebe wieder gezielter und seine Paraden wirkungsvoller. Auch drangen Thargads Waffen ebenso schlecht durch wie Boras’ Axt, auch wenn weder die Wucht des Barbaren noch die Genauigkeit des Schurken dadurch völlig aufgehalten wurden.
Jetzt zeigte Zungenfresser mit seinem Kopf auf den Barbaren. Sein Maul öffnete sich, aber anstatt eines Bisses spie er lange Tentakel aus, die sich um Boras’ Brust wickelten und versuchten, ihn zu erdrücken. Boras spannte die Muskeln an und sprengte den Würgegriff, bevor er richtig saß. Beinahe lässig schlug er dann die Klaue des Affen zur Seite. Zungenfresser war durch diesen Angriff langsamer geworden, hatte sich selbst geschwächt. Dirim versuchte abermals, ihn zu verwunden, aber Treueschwur und der Schwertarm des Zwergs waren nicht genug, die fleckige Haut des Monsters zu durchdringen.
Anders Thargads Schwerter. Der Assassine trieb Zungenfresser die Klingen durch die Schultern und hielt den Affen fest, sodass Boras zielen konnte. Der Barbar lächelte. In diesem Moment schossen fünf magische Geschosse an ihm vorbei. Zungenfresser zerplatzte wie eine reife Melone, und die Umstehenden waren mit Schattenfetzen bedeckt. Gleichzeitig zerplatzte der letzte Einarmige nach Thamiors Beschuss.
Helion pustete sich über den Zeigefinger. »Geht doch.«
»Das war gemein«, beschwerte sich Boras.
»Und sauber ist er auch geblieben«, moserte Dirim hintendrein.
»Sollten sich die Schatten jetzt nicht auflösen?«, fragte Thargad. »Das Eis schmelzen?«
»Es ist etwas wärmer geworden«, behauptete Thamior, aber das Eis schmolz nicht, und auch die Schatten verschwanden nicht. Sie wirkten nur harmloser und weniger hungrig als zuvor.
Die Kettenbrecher machten sich auf den Weg zurück. Schon nach wenigen Schritten endete der Gang in der Treppe nach oben. Bald traten sie wieder aus dem Glücklichen Affen hinaus in die Dunkelheit. Es waren keine Sterne zu sehen.
Alle fünf blickten sie auf das Gebirge, das nur einen halben Tag entfernt begann. Auf dem ersten hohen Berg wartete die Kesselstadt auf sie: Cauldron. Dort lauerte sie, wo die Finsternis noch schwärzer war, eine Spinne im Netz, dessen gewiss, dass ihre Opfer zu ihr kommen würden.
«Gehen wir«, sagte Dirim, und machte sich auf den Weg.
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(To be continued...)