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Autor Thema: Stadt der gläsernen Gesänge  (Gelesen 76215 mal)

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Nightmoon

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Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #225 am: 26. Mai 2011, 10:53:41 »
hm... ich glaube es wird Zeit für das Finale oder? Jedenfalls warte ich da gespannt drauf! Bei Game of Thrones bin ich schließlich auch zur Zeit mit allen erschienenen Folgen durch und kann mich auch damit nicht mehr ablenken ;)

Nightmoon

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Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #226 am: 02. Juni 2011, 00:01:09 »
dann jetzt im Juni, oder? :D
Wer wäre denn wer, wenn jeder einer aus Game of Thrones wäre...

Niobe

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Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #227 am: 02. Juni 2011, 00:22:35 »
Juhu, noch ein sinnfreier what-if-Cast!  :D

Hab leider bisher nur das Buch gelesen, weil mir verboten wurde, die Serie allein anzusehen *seufz*. Und so spontan fallen mir auch nicht wirklich viele Parallelen ein... Vielleicht hat Winter von ihrem Hintergrund so ein bisschen was von Daernerys, aber nicht wirklich von der Art... und Bolthor ist der trinkfeste König *g*. Grimwardt hat Neds nüchtern-ungeschminkte Nordlicht-Attitüde und seinen Loyalitätssinn. Für Faust fällt mir überhaupt keiner ein, die sind irgendwie alle auf die eine oder andere Art rechtschaffen...

Nightmoon

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    • Schicksalsstreiter
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #228 am: 04. Juni 2011, 19:38:57 »
Am ehesten eine Mischung aus Jamie und Tyrion Lannister ;) ... aber es stimmt schon, die sind alle ganz schön rechtschaffen.
So, hab auf der Seite auch mal kleine "Klappentexte" für die Kapitel geschrieben und die meisten Helden und NSCs haben ein kleines Zitat aus der Geschichte bekommen, dass sie etwas lebendiger macht oder einen Eindruck vermittelt.
...fehlt nur noch der Klappentext für die nächste spannende und epische Geschichte... aber da muss erstmal die derzeitige zu ihrem grandiosen Finale finden ;)

Niobe

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Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #229 am: 08. Juni 2011, 21:40:02 »
Kapitel VI: Die Insel    

Winter
Haibannmauer, zwei Tage später.
Seite an Seite harrten die vier Freunde auf der schillernden Elfenkonstruktion, die den Ozean an seiner schmalsten Stelle teilte. Da sich Dimensionsreisen in Gebieten unbändiger Magie als tückisch erweisen konnten, hatten sie sich Nhalloth zu Fuß genähert. Fast elf Seemeilen waren sie über die Haibannmauer aufs offene Meer hinaus gewandert. Wenn Fausts Berechnungen stimmten, mussten sie die Vollmondinsel von hier aus sehen können. Dann kam der Sonnenuntergang. Im Westen zerfloss die Blutsonne wie Wachs in ihrem eigenen Spiegelbild und aus der Glut materialisierte sich eine flimmernde Erscheinung. Als das Inferno der untergehenden Sonne dem Silberglitzern des Vollmonds gewichen war, nahm das Gebilde Gestalt an: Eine bewaldete Insel schwamm etwa eine Seemeile voraus auf den Wellen.
Ohne das feierliche Schweigen zu brechen, wob Winter einen Flugzauber über die kleine Gruppe und hielt auf den Waldrand zu. Hier hätten sie, Joes Karte zufolge, die Ruinen eines alten Wachturms finden sollen. Doch dort, wo der Piratenkapitän Mauertrümmer und Geröllhaufen eingezeichnet hatte, stießen sie nur auf tropische Bäume und exotische Farngewächse. Hatte sich der Wald alles einverleibt, was von der alten Metropole übrig war? Wie sollten sie ohne Anhaltspunkte den Geheimgang finden?
Ratlos beugten sie sich über die Schatzkarten.  
„So wie es aussieht, liegt der Eingang im Hof eines großen Gebäudekomplexes… ein Palast oder Tempel“, überlegte Faust. „Vielleicht ein alter Brunnenschacht?“
„Einen Versuch ist es wert“, fand Winter.
Ein leichtes Kribbeln ließ sie die Finger spreizen, als sie spürte, wie ihr Suchzauber die Ortungsfühler ausfuhr. Ihre Sinne flossen mit dem Zauber in die Erde auf der Suche nach alten Mauerresten. Doch soweit sie der Magie auch ins Erdreich folgte, sie stieß weder auf einen Brunnenschacht noch auf andere Hinweise auf eine untergegangene Zivilisation.
„Nichts. Irgendwas müssen wir übersehen haben.“
„Was ist mit dem zweiten Teil des Rätsels?“ Grimwardt deutete auf die Karte, die Faust in der Hand hielt. „Nur wer verkehrt herum sieht, dem erschließt sich das Geheimnis von Nhalloth.“
Sie drehten die Karten zu allen Seiten, doch die Zeichnungen gaben keine neuen Erkenntnisse preis. Hatten sie etwas übersehen? Gab es eine weitere Karte? Oder versteckte Hinweise auf Joes Körper, die durch die Kopien verloren gegangen waren?
Plötzlich lachte Faust auf.
„Ich hoffe, irgendwer von euch hat ein paar Wasseratmungs-Zauber einstudiert!“  
Nach einem Moment verständnislosen Stirnrunzelns stieß auch Grimwardt ein begreifendes Grunzen aus und Mius Lippen formten ein lautloses „Ah“. Halb beschämt, halb gereizt stemmte Winter die Hände in die Hüften.  
„Könnte mich mal jemand aufklären?“

Faust
Kurz darauf.
Wachsam glitten sie durch das trübe Unterwasser-Dickicht der Inselunterseite. Der Ozean hatte die Ruinen Nhalloths mit einem wuchernden Teppich aus Algen und Meergestein überzogen. Kaum mehr als ein paar Mauerreste hatten die Jahrhunderte überdauert. Der Rest war in der unerreichbaren Tiefe des Ozeans versunken, als die Netherstadt kopfüber vom Himmel gestürzt war. Träge wogten Polypenkolonien zum Takt der Strömung und enthüllten dabei halb zersetzte Trümmerblöcke, während Fischschwärme durch muschelüberzogene Torbögen stoben. Über die verwitterten Gesichter zerbrochener Standbilder krochen finstere Tiefenwesen wie um die Vergessenen zu verhöhnen: Seht wo ihr gelandet seid, Himmelsfahrer!
Winter, deren Ortungszauber noch aktiv war, schwamm voraus. Die Magie führte sie ins Palastviertel der untergegangenen Stadt, wo sich Fausts Vermutung bestätigte: Zwischen den Ruinen fanden sie die Überreste einer Brunnenmauer und ein tintenschwarzes Loch, halb überwuchert von Algen und Muscheln. Wieder war es Winter, die voran glitt, um die Finsternis des Brunnenschachts nach Spuren von Magie zu untersuchen. Nach einigen Schwimmzügen enthüllte sie an der Brunnenwand hinter einem Algenschleier eine gallertartige Oberfläche, die bei magischer Betrachtung blau zu glühen begann. Mit einem stummen Zauber bannte sie eine Schutzglyphe, die ungebetene Gäste abhalten sollte. Dann streckte sie vorsichtig erst eine Hand durch die magische Masse und glitt dann mit dem ganzen Körper hindurch. Faust folgte ihr. Die Substanz ließ sich wie Gelee zerteilen und führte in einen wasserleeren Raum. Während er sich durch die Öffnung zwängte und zu Boden gleiten ließ, stellte er erstaunt fest, dass kein Tropfen Wasser an ihm haftete: Der Gallerteingang schien dazu konstruiert worden zu sein, das Brunnenwasser zu absorbieren.
Während Winter nach weiteren magischen Fallen Ausschau hielt, folgten sie Joes Karten durch den Höhlenkomplex. Der Untergrund – oder vielmehr die Raumdecke, über die sie liefen - war oft rissig und gewölbeartig geformt und es bedurfte einiger Übung, durch Türen zu klettern, die an der Wand zu hängen schienen.  An einigen Stellen war es zu neuen Wandeinstürzen gekommen und sie waren gezwungen einen Umweg zu nehmen. Dennoch führte ihr Weg sie immer tiefer ins Erdreich. Sie mussten sich etwa im Kern der Insel befinden, als Winter stehenblieb.
„Spürt ihr das?“
Faust begriff sofort, was sie meinte: Ein magisches Knistern lag in der Luft, begleitet von einem sirrenden Fiepen, das sich verlor, wenn man es zu lange hörte. Der magische Kern der Netherstadt konnte nicht mehr weit sein. Und tatsächlich: Hinter der nächsten Tür stießen sie auf den Mythallar von Nhalloth. Die magische Spannung war hier so stark, dass Faust spürte wie sich seine Nackenhaare aufrichteten. Der Raum war größer und höher als die Gänge, durch die sie bisher gekommen waren. In seiner Mitte, gleich über dem Boden, schwebte eine Glaskugel, die eine Manneslänge im Durchmesser maß. Im Innern der Kugel wanden sich violette Schlieren aus roher magischer Energie wie tanzende Moränen umeinander. Durch einen Sprung in der Glasummantelung drangen Spuren magischer Energie, während von außen eine andere, schwarze Substanz in die Kugel hineinfloss und sich in dunkleren Schlieren mit der Magie im Innern vermischte. Vermutlich hatte der Mythallar einst in der Mitte des Raums geschwebt. Die Erschütterung des magischen Gewebes musste ihn aus der Bahn geworfen haben, sodass er zu Boden gefallen und gesprungen war, als sich die fliegende Enklave beim Sturz um die eigene Achse gedreht hatte. Als das Gewebe wieder hergestellt war, hatte die Kugel ihre Funktion wieder aufgenommen und hielt Nhalloth seitdem als schwimmende Insel in der Schwebe. Vermutlich waren andere Funktionen des Mythallars durch den Sprung außer Kontrolle geraten, was zu den ungewöhnlichen Dimensionssprüngen der Insel geführt hatte.
„Nicht!“ Faust hielt Winter zurück, als sie sich der Kugel nähern wollte. „Das ist Urmagie… Es gibt nichts Tödlicheres.“
„Ich weiß“, murmelte Winter, machte aber dennoch einen Schritt auf den Mythallar zu. „Sehr ihr die schwarzen Schlieren, die von außen eindringen? Das ist Schattenessenz. Ich glaube, sie regiert mit der Urmagie und verändert die Gewebezusammensetzung in diesem Raum...“
Jetzt spürte auch Faust, dass etwas nicht stimmte. Je näher er der Kugel kam, desto gedämpfter wirkte sein Lichtzauber… Schattenmagie!
„Eine Verschmelzung“, murmelte er.
„Ja, genau, das ist es!“, erkannte Winter.
„Und was hat das zu bedeuten?“, brummte Grimwardt.
„Das bedeutet, dass es ziemlich nützlich wäre, das Ding bei unserem nächsten Ausflug in die Wüste dabei zu haben…“, setzte Faust an und Winter vollendete den Gedanken: „… weil in der Nähe des Mythallars alle Zauber über das Schattengewebe gewirkt werden!“
„Ihr wollt nicht ernsthaft einen Mythallar mit euch rumschleppen!“
„Das Problem ist eher, dass es unmöglich ist, einen Mythallar mit sich herumzuschleppen“, seufzte Faust.
„Unmöglich ist es nicht…“, widersprach Winter.
Sie hatte natürlich Recht… Irgendwer hatte die Kugel erschaffen und an diesen Ort bewegt. Doch die Hocharkanisten des alten Imperiums hatten über magisches Wissen verfügt, das heute verloren war. Magisches Wissen, das es mit der Wortmagie der ersten Göttergeneration aufnehmen konnte. War es möglich, dass Winters Schattenpakt ihr Zugang zu dieser Macht gewährte? Gespannt sah er zu, wie sie sich der Kugel näherte, die Gesichtsmuskeln angespannt, die Lider geschlossen, alle Sinne auf das unterschwellige Surren der Magie fokussiert. Jäh ließ eine plötzliche Energiewelle den Mythallar erzittern. Winter sog keuchend die Luft ein. Doch nichts weiter geschah – die Kugel bewegte sich nicht vom Fleck. Verbissen wollte sie einen weiteren Schritt auf den Mythallar zumachen, doch Faust hielt sie zurück.
Stumm schüttelte er den Kopf. Zu gefährlich.
Winter zögerte. Doch dann siegte die Vernunft über ihren Ehrgeiz.
Grimwardt räusperte sich.
„Wir sollten weitergehen.“
„Wir sind fast da.“ Faust deutete auf die Karte. Nur noch die Grabkammer der Hochfürsten trennte sie von dem Raum, den Joe als Schatzkammer markiert hatte.
„Grabkammer klingt nach Untoten“, bemerkte Grimwardt. „Ich würde auf ein paar Leichname tippen.“
„Ich hätte da eine Idee, wie sich das herausfinden ließe...“

Winter
Kurz darauf.
Besorgt kniete Miu an Fausts Seite, während er sich zuckend am Boden wand. Der Zauber dauerte nun schon mehrere Minuten an und allmählich begann auch Winter, unruhig zu werden. Faust meisterte mit Leichtigkeit magische Formeln, die der Hexenmeisterin Kopfschmerzen bereiteten. Allerdings beschränkte sich sein arkanes Interesse für gewöhnlich auf Verbesserungs- und Schutzmagie. Doch das hier war höhere Aufklärungsmagie. Ein aufwendiges Ritual, das Seher anwandten, um die Geschichte eines Ortes oder einer Person auszuspionieren. Der Schwertkämpfer musste während seiner Studien zum Zeitstrom auf den Spruch gestoßen sein. Es war nicht ungefährlich, ihn auf einen Ort mächtiger Magie anzuwenden, denn man wusste nie, mit welchen Mitteln seine Erbauer ihn womöglich gegen Ausspähung gesichert hatten.
Als die Vision ihn schweißgebadet aus ihrem Griff entließ, war Faust für einige Augenblicke  orientierungslos.  Miu fasste ihn behutsam an den Schultern.
„Was hast du gesehen?“, fragte Winter.
Irritiert blinzelte er sie an. Dann erhob er sich unsicher, trat wankend auf die Wand zu und räumte ein paar Säulentrümmer zur Seite. Darunter erspähte Winter eine schwache magische Aura. Ein einfacher Bannzauber entlarvte eine Wandillusion. Dahinter klaffte ein dunkles Loch im Stein.
„Ein Geheimgang?“, wunderte sich Winter. „Der ist nicht auf der Karte verzeichnet. Wie konnten Joes Leute den übersehen? Die Illusion ist geradezu schlampig platziert.“
„Zu Joes Zeiten existierte er noch nicht“, erklärte Faust.
Er berichtete, was die Vision ihm offenbart hatte: Der Mythallarraum hatte sich zur Zeit des Ersten Imperiums unter dem Palast der Stadtfürsten befunden. Zunächst hatten nur die mächtigsten Arkanisten der Stadt Zutritt zu den Gewölben gehabt. Doch während der Phaerimm-Kriege hatte man einen Rückzugsort gesucht für den Fall, dass die Stadt vom Feind eingenommen würde. Damals wurde der Geheimgang durch den Brunnen angelegt und Portale geschaffen, die Flüchtlinge im Ernstfall aus der Stadt führen sollten. Ein paar Jahre zuvor hatte der erste Stadtfürst angeordnet, in unmittelbarer Nähe des Mythallars beigesetzt zu werden – im pulsierenden Herzen der Stadt. Seine Nachkommen hatten die Tradition fortgeführt.
„Sie sind übrigens tatsächlich tot – nicht untot“, berichtete Faust. „Ihre Gräber wurden von Wächterstatuen bewacht, doch die wurden von Joe und seiner Bande zerstört. Als die Piraten kamen, plünderten sie die Gräber und lagerten ihren Schatz hier. Doch Joe, der alte Halunke, schaffte das Zeug weg, ehe er sich in Morlochs Hände… oder vielmehr in Morlochs Tentakel begab. Allerdings war der Illithid gar nicht an dem Schatz interessiert. Er hatte es auf den Mythallar abgesehen. Es gelang ihm nicht, ihn Kraft seiner Gedanken zu bewegen, darum versuchte er es mit Zaubern. Seine Schattenmagie drang durch den Sprung in die Kugel ein – darum die Verschmelzung der Gewebe. Doch das verstärkte nur Morlochs Interesse. Ich glaube, dass er zu Anfang seiner Mission für Fürst Xantes arbeitete. Er muss sich während der Pestjahre mit den Umbranten verbündet haben. Aber das Geheimnis des gesprungenen Mythallars wollte er wohl nicht mit seinen Auftraggebern teilen. Warum sonst zog er nicht ein paar Experten aus Umbra hinzu, um das Ding zu bewegen? Zumindest einige der Schattenprinzen dürften dazu in der Lage sein. Aber nach allem, was Omega Grimwardt erzählt hat, hat Morloch gottgleiche Kräfte – der Gedanke, dass seine Magie künftig von einer Menschengöttin abhängt, dürfte ihm ziemlich schlecht geschmeckt haben. Wahrscheinlich hoffte er, durch den Mythallar von Shars Gewebe unabhängig zu sein. Oder er wollte die Kugel verkaufen. Welcher Gegner Telemonts würde sich nicht die Finger lecken nach einem Gerät, mit dem sich das Schattengewebe umgehen lässt! Den Geheimgang schuf er vermutlich, weil die Kugel nicht durch die Öffnung im Brunnen passen würde.“
„Wohin führt er?“
„In eine Felsgrotte. In jeder Vollmondnacht ankert dort die Sturmhexe mit Morloch an Bord. Meist kommt er her, um seine Studien an dem Mythallar fortzuführen oder Kapergut zu verstecken.“
„Dann ist er auch jetzt dort?“
„Vermutlich.“
„Worauf warten wir dann noch?“, fragte Grimwardt.
Winter bildete das Schlusslicht, als sie durch das Loch in die Dunkelheit traten.
Mächtige Konstruktionsmagie hatte den Geheimgang in den Fels gegraben. Fallen gab es nicht: Nicht nur bei der Tarnung, sondern auch bei der Sicherung des Ganges schien Morloch nachlässig gewesen zu sein. Offensichtlich hatte er nicht damit gerechnet, dass jemand sein Versteck entdecken könnte. Hätte er gewusst, dass sich Joes Pestnarben nach seinem Tod zurückbilden und die Tätowierungen freigeben würden, hätte er dem Piraten vermutlich eigenhändig die Haut vom Leib gezogen… Tut mir leid, Joe, dass du auf diese Weise dein Ende finden musstest, dachte Winter plötzlich. In Narbental hatte sie kein Mitleid mit dem aufgeblasenen Protzhahn empfunden. Doch am Ende hatte auch Joe nur versucht diejenigen zu schützen, die ihm wichtig waren...
Als sich das Ende des Ganges abzeichnete, begannen sie, sich mit Schutzzaubern auf den nahenden Kampf vorzubereiten. Dann plötzlich… Undeutlich erkannte Winter, wie ein großer, schwerer Gegenstand auf sie zu polterte. Jemand keuchte auf, doch sie konnte nicht erkennen, wer getroffen war. Gleichzeitig ertönte das irre Kampfgebrüll der Pestberührten. Um besser sehen zu können, was vor sich ging, versuchte sie aus dem Gang in die Höhle zu teleportieren. Sie hatte Glück. Der magische Schutzschild der Insel ließ den Dimensionssprung zu.
Eine riesige Grotte.
In der Mitte klaffte ein Wasserloch, aus dem sich schwarz und ölig das Wrack des Korallenschiffs erhob. Und nun erkannte Winter auch, was da krachend auf ihre Freunde im Höhleneingang niedergefahren war: Es war ein Schiffsmast! Die Sturmhexe hatte den Kampf eröffnet. Knarrend und dröhnend neigte sich das Schiff zur Seite und versuchte Faust unter der schweren Last des Mastes zu zerquetschen, während die pestberührten Werhaizwillinge – die letzten Überlebenden der Mannschaft – von Bord gesprungen waren, um Grimwardt und Miu von Faust abzuschneiden. Winter zückte ihren Zauberstab. Ein nebliger Schleier streifte ihre Augen, als sie die Magie in ihren Fingerspitzen sammelte. Wie eine ausgehungerte Schlange schnellte das schwarze Zaubergezücht in die Höhe und fraß sich in die Bordwand der Sturmhexe, die innerhalb von Sekunden zu einem Klumpen morschen Holzes mutierte. Wie ein verwundetes Tier bäumte sich das Schiff auf: Schwerfällig schraubte sich der Bug in die Höhe, während sich das Heck wie bei einem sinkenden Schiff in die Tiefe bohrte. Dann plötzlich ein Rucken und Winter verschwand im drohenden Schatten des Achterkastells, das mit Fallgeschwindigkeit auf sie niederfuhr. Doch ehe das Ungetüm sie in den Tod reißen konnte, wurde sie zur Seite gestoßen und fiel auf die Knie. Plötzlich war Faust über ihr, um sie gegen den Splitterhagel abzuschirmen, der über sie hereinbrach, als der Rumpf des Piratenschiffs auf dem harten Steinboden aufschlug. Sofort war der Schwertkämpfer wieder auf den Beinen, um sich mit einem irrwitzigen Sprung aufs Deck des Schiffs zu katapultieren. Doch noch gab sich die zähe Galeere nicht geschlagen. Noch einmal bäumte sie sich auf wie ein buckelndes Pferd, während sich Faust immer tiefer ins Herz des Ungetüms vormetzelte.
Winter erkannte, dass sie hier nicht mehr gebraucht wurde: Über kurz oder lang würde das Schiff unter Fausts Hieben auseinanderbrechen und Grimwardt hatte die beiden Pestberührten fest im Griff.
Morloch, wo bist du?
Die Schatten der Grotte umgaben sie wie ein schützender Mantel, als sie an der Felswand entlanglief, unsichtbar und lautlos. Ein Flecken gähnender Schwärze, tiefer als die umgebende Dunkelheit, kündigte einen weiteren Höhleneingang an. Winter spürte die Anwesenheit des anderen Schattenmagiers wie eine Aura, die stärker wurde, je näher sie der Höhle kam.
Dann plötzlich eine Bewegung.
Es geschah so schnell, dass Winter nur einen vorbeihuschenden Schatten wahrnahm. Plötzlich wurde sie sichtbar. Nicht nur das! Etwas unterdrückte all ihre Schutzzauber und schnitt sie vom Schattengewebe ab. Eine antimagische Zone! Im nächsten Moment durchzuckte sie eine Welle irrsinniger Kopfschmerzen, doch sie widerstand dem beißenden Schmerz, der sie in die Knie zu zwingen drohte. Keuchend wirbelte sie herum… und blickte in ein bleiches Tentakelgesicht mit winzigen, feuchten Augen. Etwas Träges, Melancholisches lag in diesen tränenden Augen, das in seltsamem Kontrast zu Morlochs übernatürlicher Schnelligkeit lag.
Es gibt Ozeane, die jünger sind als Wir, zuckte es durch ihre Gedanken. Unter Unseresgleichen sind Wir ein Gott. Und du glaubst, dich an Uns anschleichen zu können?
Es klang fast mitleidig. Dann eine kalte Berührung an ihrer Stirn: Zwei Tentakel krochen über ihre Schläfen und zwangen sie in die Knie.
Wieder war es Faust, der sie rettete.
Die Klinge über dem Kopf erhoben, tauchte er plötzlich hinter dem Gedankenschinder auf. Im Sprung trat er der Kreatur in den Nacken und Morloch ließ von Winter ab. Mit wirbelnder Klinge drosch Faust auf den am Boden liegenden Gegner ein. Doch die magieunterdrückende Zone, die den Illithiden umgab, beraubte Zwiespalt seiner magischen Fähigkeiten, sodass Morloch schneller regenerierte als er auf ihn einschlagen konnte. Dann wurde Faust mit einem Mal von einer unsichtbaren Macht erfasst und gegen die Grottenwand geschleudert. Wankend rappelte Morloch sich auf. Ein telepathisches Zischen, erfüllt von Zorn und Ungläubigkeit, schnitt durch Winters Geist. Sie spürte lediglich einen Luftzug an der Wange, als der Schatten des Illithiden an ihr vorbeiraste und in der Dunkelheit der Grotte verschwand.
„Elender Feigling“, ächzte Faust, während er schwankend auf die Beine kam.
„Wieso kann er in einer antimagischen Zone zaubern?!“
„Das ist keine Magie“, knurrte er.
Der Ausdruck in seinen Augen gefiel ihr nicht.
„Faust?“ Plötzlich war ihr flau im Magen. Keine Magie... „Er ist zu stark für uns, oder?“
Faust antwortete nicht. Seine Augen flackerten unstet. Er schien fieberhaft nachzudenken.
„Bring den Mythallar her“, sagte er plötzlich.
„Was?! Faust, du hast doch gesehen – das übersteigt meine Kräfte!“
Faust war schon wieder auf dem Sprung, um Morloch nachzusetzen.
„Versuch es!“, rief er ihr über die Schulter zu. „Es ist unsere einzige Chance!“
Winter schloss die Augen und hüllte ihren Geist in Schatten, um die drohende Panik niederzukämpfen. Ein Dimensionssprung brachte sie zurück in den Mythallarraum.
Es ist das einzige, was du für deine Freunde tun kannst.
Sie holte noch einmal tief Luft und öffnete die Augen.

Faust
NEIN.
Für einen grässlichen Moment glaubte Faust den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Der Illithid hatte Grimwardt und Miu mit einem betäubenden Gedankenbann belegt. Miu harrte bleich und starr neben dem Höhleneingang. Grimwardt, die Axt getränkt vom Blut der Werhaizwillinge, war unter der Berührung der vier tödlichen Tentakel in die Knie gebrochen. Über ihm harrte der Gedankenschinder. Sein Schatten, wie der Geist einer mehrarmigen Gottheit, prangte überlebensgroß an der Grottenwand. Gefasst und schicksalsergeben ruhte der Blick des Kriegspriesters auf dem herannahenden Gefährten. Tu es nicht, schien dieser Blick zu sagen. Plötzlich ging ein jähes Schaudern durch seinen Körper – ein letztes Aufbäumen, ehe sich der neblige Schleier des Todes über seine Augen legte.
Mit erstarrtem Blick, wie ausgesaugt, kippte der Auserwählte des Tempus zur Seite.
Das Bild fraß sich in Fausts Seele und berührte dort jenen Punkt, der sein Bewusstsein im Blutrausch ertränkte. Wirre, rot getünchte Bilderfolgen drängten sich ihm auf. Blutfontänen, zerteilte Gliedmaßen, das Geräusch einer berstenden Lunge…
Tu es nicht.
Faust schloss die Augen. Er konnte diesen Gegner nicht besiegen. Nicht so. Er musste bei klarem Verstand bleiben.
Er rannte schneller.
Die Geräusche implodierten in seinem Kopf, als er zum Sprung ansetzte. Ein Tritt in die Magengrube katapultierte Morloch in den Gang, der in den Mythallarraum führte, und der Schatten der mehrarmigen Gottheit wurde in das schwarze Loch der Höhlenöffnung gesogen. Noch im Sprung fokussierte Faust all seine Konzentration auf den vergangenen Moment des Absprungs und drehte so die Zeit um den Bruchteil eines Augenzwinkerns zurück. Der geklaute Augenblick erlaubte es ihm, den zeitbetäubten Gedankenschinder um eine weitere Armlänge in die Finsternis des Ganges zu stoßen. Sofort wollte er mit einem Schwerthieb nachsetzen, doch diesmal kam Morloch ihm zuvor. Faust schickte seinen Geist an einen Ort der Zeitlosigkeit, um ihn unangreifbar zu machen für den wütenden Gedankenstoß des Illithiden.
Plötzlich streifte ihn ein Strahl violetten Lichts. Der Mythallar! Es war nicht mehr weit!
Die Aussicht verlieh Faust neue Kraft. Ein weiterer Sprung, ein weiterer Hieb. Nun begriff auch sein Gegner, was er vorhatte: Er mochte sich für einen Gott halten, doch seine Magie war die Magie eines Sterblichen. Gegen ein so mächtiges Artefakt wie den Mythallar war sein magieunterdrückender Schutzschild wirkungslos. Die Erkenntnis trieb Morloch die Angst in die Augen. Sein nächster Gedankenstoß brachte die Mauern der Festung ins Wanken, die Faust um seinen Geist errichtet hatte, und nur mit allergrößter Mühe gelang es dem Schwertkämpfer, den Angriff abzublocken. Er spürte, wie seine Kräfte ihn verließen.
Noch ein letzter Sturm.
Brüllend nahm Faust Anlauf und stieß seinen Gegner mit der Kraft der Verzweiflung in den Raum – mitten ins knisternde Energiefeld der Kugel. Morlochs gellender Schrei wurde vom Zischen der magischen Uressenz verschluckt, die ihn mit Ketten aus violetten Blitzen an die magisch aufgeladene Glaskugel fesselte. Jede Ader erstrahlte unter der gleißenden Helligkeit der Blitze, die seinen Körper krümmten und schüttelnden. Als die Kugel ihn aus ihrer Umklammerung entließ, roch es nach verkohltem Fleisch. Die Roben des Illithidenmagiers waren verbrannt und die Haut darunter schrumpelig und schwarz.
Aber er lebte.
Wankend stolperte er einen Schritt auf seinen Peiniger zu. Faust erstarrte, als ein gleißender Blitz  durch seine Gedanken schoss und die Verbindung zwischen Geist und Körper durchtrennte. Blind und gelähmt sank er vor seinem Gegner auf die Knie.
Das war’s, dachte Faust, als er die kühle Berührung einer Saugdrüse auf seiner Stirn spürte.
Doch etwas ließ Morloch innehalten.
Faust öffnete die Augen. Ein Déjà-vu: Der Illithid zuckte in der magischen Umklammerung des Mythallars. Aber wie…? Winter! Durch die Schlieren, die sich im Innern der Kugel einen wilden Tanz lieferten, erspähte er seine Gefährtin. Blindschleichen aus violettem Licht krochen über ihr schweißglänzendes Gesicht, das vor Entschlossenheit kantig und starr wirkte. Sie hatte es geschafft – sie hatte den Mythallar auf Morloch gelenkt! Und diesmal gab es kein Entrinnen. Als der Körper des Gedankenschinders zu Boden sank, waren seine Augen zu schwarzen Höhlen verbrannt und Schattenschlieren traten dampfend aus brandigen Löchern in seinem Körper.
Jetzt gab es keinen Grund mehr, dem Rausch Einhalt zu gebieten. Brüllend vor Zorn und Schmerz packte Faust den geschundenen Körper des Urwesens und schleuderte ihn gegen die Wand.  Wieder und wieder ließ er den Schädel des Toten gegen den Fels krachen, bis ihm der Blutschleier die Sicht versperrte.
„Faust.“
Keuchend hielt er inne, als er Winters eiskalte Hand auf seiner Schulter spürte. Er konnte ihr nicht in die Augen sehen, doch seine Verzweiflung und sein Zorn waren Auskunft genug. Wortlos wandte sie sich um. Ihre Schritte klangen dumpf von der Höhlenwand wieder. Wie in Trance folgte er ihr in die Höhle. Als sie die Leiche ihres Bruders in den Armen der weinenden Miu erblickte, blieb sie abrupt stehen. Kein ersticktes Schluchzen, kein entsetztes Aufkeuchen. Ihr erstarrtes Schweigen umgab sie wie ein Schutzwall, den Faust nicht zu durchbrechen wagte.  
Als er den Blick hob, erspähte er den Geist des toten Piratenkapitäns zwischen den Überresten seines zerstörten Schiffs. Joe nickte ihm zu, ernst und dankbar. Als Faust das nächste Mal hinsah, war der Geist verschwunden.
Nach einer halben Ewigkeit wandte Winter sich zu ihm um.
„Wir müssen zurück“, sagte sie betäubt. „Die Totenfeier… Es gibt noch so viel zu erledigen.“
 
Winter
Abtei des Schwertes, drei Tage später.
Grimwardt lag aufgebahrt in der Großen Gebetshalle. Die Strahlen der Morgensonne fielen wie Säulen aus Licht durch die hohen Deckenfenster. Er sollte in der zeremoniellen Rüstung des Abteivorstehers begraben werden. Seine magischen Gegenstände ruhten in Becken mit heiligem Feuer, das man in einem Ring um das Totenbett entzündet hatte. Drei Tage – so lange wie die Zeremonie andauerte - würden sie dort brennen, um seine Seele von allen weltlichen Bindungen zu reinigen. So war es Brauch.
Fast sechzig Trauergäste hatten sich zur Totenwache in der Gebetshalle versammelt – ihr Schweigen nur unterbrochen vom monotonen Klang der rituellen Trommeln. Vor den Toren der Abtei warteten weitere zehn Duzend und viele mehr wurden für die nächsten Tage erwartet. Pilger, die aus allen Ecken Faerûns von der Schwertküste bis zum Drachengriff angereist waren, um ihrem Helden die letzte Ehre zu erweisen.
Lady Lucia, Grimwardts gnomische Nachfolgerin, harrte im stummen Gebet auf der Schildempore, flankiert von seinem alten Freund Borgo und dem Ritter Silas. Dahinter die offiziellen Staatsgäste: Der Fürstengeneral vom Schlachtental sowie Gesandte aus den umliegenden Tälern. Abteipriester, Soldaten und Rekruten bevölkerten die Galerie. Winter kniete auf der Gebetsbank auf der gegenüberliegenden Seite zwischen ihren Eltern und Faust und Miu. Um sie herum ihre Freunde und Bekannte: Die Elfenfürsten Nimoroth und Kalith aus Myth Drannor, die Magierin Xara Tantlor und ihr Sohn Riven aus Silbrigmond, Erdmute Steinfaust von den Sundabarer Steinschilden, die Illusionistin Razeema und der Halbork-Barde Grax aus Heinos Wanderzirkus, Elijas von den Neun Schwertern, Fürst Marcus Wands aus Tiefwasser, Boltor der dauerbesoffene Zwerg… Sogar Drake war erschienen. Verborgen im Schatten harrte der Albino zwischen den Säulen im hinteren Teil der Halle, wo er sich unbeobachtet glaubte.
Sie alle waren auf Winters Bitten gekommen. Drei Tage lang war sie durchs Land gezogen, um die traurige Botschaft zu verkünden. Nur Scarlet hatte sie nicht auffinden können. Laguna hatte den magischen Kontakt zu seinem Vater Nimoroth abgebrochen. Als Winter zum Versteck der Sandfürsten teleportiert war, um der Sache auf den Grund zu gehen, hatte sie nur noch einige verstreute Hinweise auf ein verwüstetes Lager gefunden. Ein halb vom Sand verwehter Grabstein wies darauf hin, dass Sandfürst Zarif Abu Sayama dort begraben lag. Vermutlich hatten Scarlet und Laguna seine Leiche bei ihrer Rückkehr in die Anauroch gefunden und bestattet. Ob die Nether-Patrouillen, die das Rebellennest ausgehoben hatten, ihnen dort aufgelauert hatten? Ob sie sich einer anderen Guerillazelle angeschlossen hatten? Winter wusste nur, dass ihre Tochter noch am Leben sein musste, denn Nimoroth hatte aus einigen Bedinenstädten Botschaften von Mittelsmännern erhalten, die belegten, dass Laguna und Scarlet dort durchgereist sein mussten. Lundeth, Tel Badir… Die Spur der beiden verlor sich im Sand.
Vielleicht ist es besser so, dachte Winter.
Die Zeremonie. Die Trommeln. Die Gäste… Ihr Bruder hätte all den Pomp gehasst. Doch dies war nicht nur seine Totenfeier… Es war eine einfache Entscheidung gewesen. Eine eigenartige Ruhe hatte Besitz von ihr ergriffen. Die Spiegel des Desayeus hatten sich geirrt. Sie hatte umsonst ihre Seele verkauft. Sie spürte den Hunger wie einen Parasiten, der sie von innen auffraß. Und sie wusste, der nächste leergesaugte Schatten würde nichts mehr von ihr übrig lassen, denn es gab nichts mehr, wofür sie kämpfte. Es gab keine Monster mehr zu töten. Nur noch das eine.
Sie beschwor in ihrem Geist ein Bild ihrer Pirateninsel. Die schneeweißen Strände, das türkisfarbene Wasser, der azurne Himmel. In Gedanken lief sie wieder durch den Dschungel, bis sie auf die fliegende Erdscholle mit den blau phosphorzierenden Farngewächsen und den riesigen, außerirdischen Knollenbäumen stieß. Wenn man mitten drin stand, musste das Zauberleuchten wunderschön sein.
Ein guter Ort zum Sterben.
Ein Blinzeln holte sie in die Wirklichkeit zurück. Feierlich erhob sie sich, um ihren Bruder als erste der Anwesenden mit dem rituellen Totenkuss zu ehren. Sanft blickte sie in das blasse, ernste Gesicht… und erstarrte.

Grimwardt
Stadt der Seelen, Fugenebene.  
Bang harrte er im Hafen der Kristallstadt und wartete auf die Barke, die ihn ins Jenseits bringen sollte. Wage erinnerte er sich daran, dass er im Leben ein großer Mann gewesen war. Ein Held. Ein Diener seines Gottes. Doch hier an diesem Ort war er nur eine Seele, die auf ihre Erlösung wartete. Wie all die anderen Seelen. Am Anfang hatte er Furcht verspürt, doch er konnte sich nicht mehr entsinnen, weshalb. Es hatte etwas mit einem gebrochenen Versprechen zu tun.
Ich werde Euch nicht enttäuschen, Herr.
Wenn er seine Hand hob, konnte er durch sie hindurch blicken.
Viele Boote kamen und gingen. Er war schon fast zu einem Teil der Ewigen Stadt geworden, als die Barke aus dem Nebel tauchte, auf die er gewartet hatte. Ein Engel mit Feuerhaar und zwei Paar goldenen Schwingen war der Steuermann. Er sprach kein Wort zu der nebelhaften Gestalt, die zu ihm ins Boot stieg - schien sie kaum zu bemerken.
Noch einmal blickte er zurück zu der Kristallstadt auf der Insel im Styx, während sie lautlos durch die Nebelschleier glitten, die das jenseitige Ufer verhüllten. Es hieß, die Nebel seien Tore in die göttlichen Reiche, die an den Styx grenzten. Nachdem sie eine Weile durch das Nichts zwischen dem Jenseits und der Zwischenwelt geglitten waren, erhob sich der Engel plötzlich und breitete die Schwingen aus. Mit lauter, klarer Stimme gab er einen göttlichen Befehl und die Nebel lichteten sich.
Grimwardt wurde von einer Welle der Glückseligkeit überrollt und all seine Erinnerungen kehrten zurück.
Vor ihm lag ein Land der Felsschluchten und Schlachtfelder. Rauchsäulen stiegen aus Canyons, die terrassenförmig in die Tiefe führten, dunkle Wolkenschlieren zogen über einen blutroten Himmel und von weit her klang das rhythmische Stampfen von Truppen, die zum Klang der Kriegstrommeln in die Schlacht marschierten. Dies war das Schlachtfeld der Götter, wo die himmlischen Truppen aufeinander trafen und die Siegreichen am Ende eines kampfreichen Tages zu Speis und Trank in Tempus‘ Hallen einkehrten.
Und ich werde einer von ihnen sein!
„Willkommen in Kriegersruh“, sagte der Engel feierlich, als sie am Ufer anlegten. Nun erinnerte sich Grimwardt auch an den Namen des Schwertarchons: Er war Aschuriel, ein General in der Armee des Feindhammers. Wortlos ließ er sich zum Gebet auf Knie und Hände fallen, kaum dass er das gelobte Land betreten hatte.
Doch dann fiel ein Schatten über ihn.
Grimwardt hob den Blick und sah ins Angesicht seines Herrn. Tempus sprang von seinem Streitwagen, der von dem schwarzen Hengst Deiros und der Schimmelstute Veiros gezogen wurde. Es hieß, auf seinen beiden Streitrössern sei er schneller als jeder Magier teleportieren konnte. Die Rüstung des Gottes war staubig und eine frische Schramme zog sich über sein Kinn. Er schien geradewegs aus der Schlacht zu kommen. Sein Kratergesicht war düster umwölkt.
„Herr.“
Grimwardt verharrte auf den Knien und neigte ehrerbietig den Kopf. Unnötig, seine tief empfundene Zerknirschung kundzutun. Kampflos kapituliert – in die Knie gezwungen von einem hirnsaugenden Magier. Tempus kannte seinen Geist wie kein anderer. Das Band, das Er nach dem Kampf gegen Sir Silas geknüpft hatte, bestand auch hier noch. Und so wie Grimwardt wusste, dass Tempus seinen Tod als ebenso unwürdig erachtete wie er selbst, würde der Gott um seine Reue wissen. Er hatte ihn bestraft, indem er ihn in der Stadt der Seelen hatte schmoren lassen. Doch am Ende hatte Er ihm vergeben, sonst wäre er nicht hier.
Tempus neigte den Kopf und schien dem Schlachtenlärm in der Ferne zu lauschen.
„Hörst du das?“, murmelte Er. „Das ist nicht deine Schlacht, Grimwardt Fedaykin. Dein Schicksal ist noch nicht erfüllt.“ Er schwieg so lange, bis Grimwardt glaubte, den Rücken nicht länger beugen zu können, ehe Er fortfuhr: „Götter schlafen nicht. Aber manchmal träumen wir und in unseren Träumen sehen wir die Zukunft… Aber mein Blick war vernebelt in letzter Zeit und seit deinem Tod kann ich meine Zukunft überhaupt nicht mehr sehen. Eine große Finsternis zieht auf. Ein Krieg kommt auf uns zu... Ich weiß nicht, welche Rolle du in diesem Krieg spielen wirst. Aber du musst zurückkehren, um es herauszufinden.“
Grimwardts Herz sank. An diesem Ort hatte er vollkommene Glückseligkeit erfahren. In der Welt, aus der er kam, würde er diesen Seelenfrieden niemals finden. Nicht mehr. Ein Teil von ihm würde sich immer zurücksehnen. Und wer wusste, wie lange es dauern würde, bis sich die Nebel wieder vor ihm teilten… Aber er hatte kein Recht, etwas anderes zu wünschen als sein Gott.
Er schluckte.
„Wenn das Euer Wunsch ist, werde ich gehen.“
„Ja, das wirst du“, sagte Tempus bestimmt. „Doch du hast Kriegersruh betreten und nun kannst du es nicht mehr verlassen, ohne dass ein Teil dieses Ortes an dir haften bleibt. Wenn du zurückkehrst, wirst du deine Welt mit anderen Augen sehen. Wie ein Engel, der in der Welt der Sterblichen wandelt. Dies ist nun deine Heimat, Grimwardt Fedaykin.“  
Nie gekannter Schmerz durchzuckte ihn, als der Gott ihn an der Stirn berührte. Etwas schien ihm die Seele aus der Brust zu reißen und durch Raum und Zeit zu schleudern, ehe es sie wieder packte und in einen Körper zwang, der ihm nicht mehr gehörte.
Keuchend fuhr Grimwardt vom Totenbett auf.
« Letzte Änderung: 08. Juni 2011, 21:45:32 von Niobe »

Nightmoon

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    • Schicksalsstreiter
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #230 am: 09. Juni 2011, 02:10:55 »
Wieder ein absolut würdiges Finale! Ich glaube, das war so mit der spannendste und knappeste Kampf, den wir je hatten, da der Kerl so unglaublich im Vorteil war, und die Panik die wir dabei hatten kommt auch in der Geschichte so rüber. Tja, und natürlich der feierliche Tod von Grimwardt Feydarkin und die Geburt von St. Grimwardt ;)
Mir hats sehr gefallen! Und man merkt wie es immer epischer wird und will am liebsten sofort das erste Kapitel des neuen Buches lesen!

Winter

  • Mitglied
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #231 am: 09. Juni 2011, 21:27:38 »
Ein neues Kapitel, ich freu mich wie Bolle!!!
Habs mir grad ausgedruckt und werde es vorm Schlafengehen lesen.

Die Klappentexte sind übrigens fabelhaft ausgewählt, Herr Nachtmond! Alle sehr treffsicher.

Nightmoon

  • Mitglied
    • Schicksalsstreiter
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #232 am: 18. Juni 2011, 22:49:59 »
Kleine Vorschau auf das erste Kapitel des nächsten Buches:

Grimwardt
Eine kurze Ewigkeit lang schien alles in gleißendes Licht getaucht zu sein, doch dann schlug er die Augen auf.
Ohrenbetäubender Lärm ließ Grimwardt auffahren. Eine chaotische Melodie, schlimmer als das grauenvolle Geheul der Orks oder das Essen im schwankenden Adler dröhnte in seinem Schädel. Er schaute an sich hinab. Er war immer noch nackt, wie zuvor in der grauen Stadt. Um ihn herum waren seltsame, gewaltige Gebäude, die aus einzelnen großen Steinen gehauen worden zu sein schienen.
Der Kriegspriester ging auf jenes Gebäude zu, aus dem der Lärm drang. Es mochte eine Art Taverne sein, mit einem magischen leuchtenden Schild am Eingang, das in Form einer nackten Frau leuchtete.
Nebel, nein, Rauch kam ihm entgegen, als er eintrat, wie von Pfeifenkraut, aber noch unangenehmer im Geruch. Es waren Menschen, die in dieser Taverne ein seltsames Spiel mit einem Tisch und Stöcken spielten, ehe sie zu ihm aufsahen.
„Hey, was willst´n du hier? Deine Klamotten beim Pokern verloren?“
Die Kerle mit den eigenartigen Lederrüstungen und seltsamen Akzent wirkten aggressiv.
„Wo bin ich hier? Ich bin der oberste Priestergeneral der Abtei des Schwertes und ich benötige neue Kleidung. Das nötige Gold werde ich euch bald geben, ihr habt mein Wort.“
Wieder lachten diese Kerle, die nach billigem Alkohol stanken.
„Soso… Gold also. Und wo hast du das? Ziehst du es dir aus dem Arsch?“
Die Zornesfalte des Kriegspriesters begann wieder anzuschwellen.
„Ich frage das nun zum letzten Mal: In welchen verdreckten Orknest bin ich hier gelandet, und wo bekomme ich neue Kleider?“
Die Keule die der Mann hinter der Theke daraufhin zog, erinnerte ihn ein wenig an die von Faust und auch die anderen Kerle, die nun auf ihn zukamen, schienen ihre Spielstöcke als Waffen benutzen zu wollen.
„Was hast du gesagt? Verdreckt? Pass mal auf! Was sagst du hierzu?!“
Der Schlag war lachhaft vorhersehbar, und der Angreifer ein Schwächling. Grimwardt fing die Keule mit der Hand auf und zerbrach sie über dem Knie.
„Lauf!“
Der Befehlszauber tat seine Wirkung und der Tavernenbesitzer lief davon.
Nun schienen sich auch all die anderen zwielichtigen Gestalten auf den Priestergeneral zu  bewegen und sie griffen mit stumpfen Messern und Knüppeln an. Einer erwischte Grimwardt am Hinterkopf, doch dieses unmagische Gebilde konnte ihn kaum aus der Fassung bringen, während er die anderen mit bloßen Händen in ihre Schranken verwies.
„So du Wichser, jetzt reicht´s! Hände hoch!“
Hinter ihm stand wieder der Tavernenbesitzer, mit einer Art Muskete. Grimwardt hatte eine ähnliche Waffe mal bei einem gnomischen Erfinder gesehen. Sehr schnelle Geschosse, die tiefe, aber ansonsten eher kleine Wunden verursachten. Auch die Anderen zückten ähnliche Waffen und zielten auf ihn.
„Oh Tempus, wo hast du mich nur hingeschickt?“
sprach er und begann dann mit einem kurzen Gebet. Durch Tempus Segen wuchs er auf das doppelte seiner vorherigen Größe an. Die Kerle schossen, aber vermochten nicht die göttlich geschützte Haut des Priesters zu durchdringen. Die meisten waren bereits geflohen, als er dem Barkeeper, der sich nass gemacht hatte, seine Muskete aus der Hand nahm.
„Was…was bist du???“
„Bei Tempus, das sagte ich euch doch! Ich bin der oberste Priestergeneral der Abtei des…“
Auf einmal war da wieder das gleißende Licht. Als Grimwardt wieder aufsah, befand er sich nun auf Augenhöhe mit Tempus und senkte wieder ehrfürchtig sein Haupt.
„Es tut mir Leid, da muss eben etwas schief gelaufen sein… nun bringe ich dich in die richtige Zeit…“
Und dann schlug Grimwardt noch mal die Augen auf…

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Niobe

  • Mitglied
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #233 am: 18. Juni 2011, 23:18:42 »
*g* jaja, der Griminator, das war schon was  :D.

Niobe

  • Mitglied
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #234 am: 24. Juni 2011, 02:06:11 »
FÜNFTES BUCH: FLUSS DER VERDAMMTEN


Prolog

Drake
Abtei des Schwertes, Mirtul 1395 TZ.
Entgeistert sog die Menge die Luft ein, als sich die Leiche aufrichtete. Die Lichtstrahlen, die durch die Abteifenster in den Saal fielen, bündelten sich im Gesicht des Auferstandenen und enthüllten den Feuerglanz des Himmels über Kriegersruh, der noch in seinen weit aufgerissenen Augen funkelte. Lange herrschte Totenstille. Dann fielen die ersten Gläubigen auf die Knie, um Tempus für sein Wunder zu danken. Tempus oder Grimwardt. Für die meisten gab es da kaum noch einen Unterschied.  
Drake wandte sich verächtlich ab.
Ein religiöser Mummenschanz. Ein hübsch inszeniertes Theaterstück, nichts weiter war diese ganze Veranstaltung. Grimwardt verstand es wirklich sich in Szene zu setzen. Wo war der grummelige Abteileiter geblieben, der all den heiligen Pomp verabscheute? Jetzt verlierst du endgültig den Boden unter den Füßen, Grimwardt Fedaykin! Egal - was ging ihn das an? Er war wegen des Auftrags hier. Er hatte keinen Augenblick daran gezweifelt, dass Grimwardt von den Toten zurückkehren würde. Alles andere wäre auch zu einfach gewesen…
„Drake!“
Winter hatte ihn in einer der Alkoven entdeckt und bahnte sich einen Weg zu ihm durch. Sie hatte dunkle Ringe der Erschöpfung unter den Augen und unter den Glücksfältchen der Erleichterung las er schuldige Verunsicherung. Sie spürt es, dachte Drake. Irgendwann würde Grimwardts Licht ihre Finsternis entlarven. Und die wurde immer tiefer. Ihr Gesicht war blasser geworden seit ihrer letzten Begegnung und die Schatten größer – lebendiger. Die Veränderung war subtil – jemand, der jeden Tag mit ihr zu tun hatte, würde sie kaum bemerkt haben. Auch Drake hätte sie wohl nur für Übermüdung gehalten, wäre er nicht schon einmal Zeuge einer solchen Verwandlung gewesen. Damals, bei seinem Mentor. Die Ironie zu werden, was man bekämpft, hatte er es genannt.
Hm, interessant.
„Scheint ja noch mal gutgegangen zu sein“, bemerkte Drake mit einem Nicken in Richtung des Totenbetts.
„Ja.“ Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Jetzt haben wir wenigstens einen Grund zu feiern. Komm, es gibt reichlich zu essen.“
„Danke, ich verzichte.“
Winter zuckte - ein wenig pikiert wegen der rüden Ablehnung - mit den Schultern.
„Wie du meinst.“  
Stirnrunzelnd sah er ihr nach, als sie wieder in der Menge verschwand. Unter anderen Umständen wäre er vielleicht geblieben…
Um den Blicken der Anwesenden zu entgehen, zog er sich die Kapuze tiefer in die Stirn, ehe er in die Geisterwelt eintrat, wo sich alle Bewegungen verlangsamten, die Farben zerflossen und die Formen zeitverzerrt und verschwommen wirkten. Unsichtbar und gestaltlos glitt er durch das Mauerwerk, das hier die Konsistenz einer zähflüssigen Masse hatte, und schritt unbehelligt durch die Massen, die vor der Abtei warteten. Während die Realität um ihn herum an Geschwindigkeit verlor, bewegte er sich schneller, sodass er die Abtei schon nach wenigen Minuten meilenweit hinter sich gelassen hatte. Am Ufer eines Flusslaufs kehrte er auf die materielle Ebene zurück. Seine Gedanken suchten nach der telepathischen Verbindung, die sein Auftraggeber zwischen ihnen erstellt hatte. Er hasste diese Art der Kommunikation – aber zumindest war sie sicher.
Ich habe Neuigkeiten. Er wartete, bis er die fremde Präsenz in seinem Geist spürte, ehe er fortfuhr:  Grimwardt Fedaykin ist als Heiliger von den Toten zurückgekehrt. Und seine Schwester ist im Begriff sich in einen Umbranten zu verwandeln.


Kapitel I: Omegas Opfer  


Faust
Schwerterteich, zwei Tage später.  
Sein Magen zog sich zusammen, als er die Lichtung wiedererkannte. Eine Erinnerung malte klebrige Blutspuren ins Gras, wo der abgetrennte Kopf seines Lehrmeisters über den Waldboden gerollt war. Faust schüttelte den Kopf: Tyrail und sein Sinn für Dramatik! Für den Elfen schien die ganze Welt aus einem einzigen, ewigen Kampf zu bestehen: Das Licht der Elfen gegen das Zwielicht der Menschen. Aber Faust war es leid, von der Vergangenheit beherrscht zu werden.
„Sicher, dass du allein mit ihm fertig wirst?“, brummte Grimwardt.
Faust schnaubte grimmig.
Er kannte Tyrails Kampfstil. Er war auf Duelle spezialisiert; war darauf trainiert, alles auszublenden bis auf den einen Gegner… Faust würde einen Weg finden müssen, seinen Fokus zu brechen, wenn er diesen Kampf gewinnen wollte.
„Tyrail ist irgendwo in der Nähe“, sagte er. „Er wird erst rauskommen, wenn ihr weg seid. Das hier muss ich alleine machen.“
Nachdem Miu ihn noch einmal mit einem eindringlichen Blick gewarnt hatte, nicht mehr Blut zu vergießen als nötig, zogen sich seine Freunde ins Dickicht zurück.
„Du kannst rauskommen, Tyrail!“
Nichts. Es dauerte noch einige Minuten, ehe sich der Elf am Rande der Lichtung zeigte. Vermutlich war er den anderen gefolgt, um sicherzugehen, dass sie sich auch tatsächlich zurückzogen.
Stumm harrten die beiden Kontrahenten einander gegenüber.  
„Wusstest du, dass ich es war, der ihn fand?“ Tyrails Eisaugen wanderten über die Lichtung. „Sein Blut war noch warm…“
Faust wusste, es würde nichts ändern, wenn er sich entschuldigte. Es würde Tyrail nicht von seiner Besessenheit heilen. Fast wünschte er, den Elfen ebenso hassen zu können wie er ihn. Das würde vieles einfacher machen. Aber so sehr sich Tyrail auch in anderen Dingen irrte – in dieser Sache war er im Recht.
„Was passiert, wenn ich gewinne?“, murmelte er.  
„Dann solltest du mich töten“, sagte der Elf ohne zu zögern. „Ich werde niemals aufhören dich zu jagen.“
Faust seufzte resigniert. „Wie du meinst.“
Steif verneigten sich die beiden Kontrahenten voreinander, ehe sie die Schwerter zogen.
„Aber keine faulen Tricks!“
Faust hatte die Mahnung noch nicht ausgesprochen, da schlug der Elf bereits die Hacken zusammen. Typisch Tyrail! Kaum jemand legte so viel Wert auf Soldatenehre wie er, aber im Kampf war ihm jedes Mittel Recht, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Faust spürte, wie die magischen Stiefel des Elfen ein leichtes Vibrieren aussandten. Die Luftbewegung ließ den Schriftzug erstarren, den der alte Sarrukh in seinen Arm geritzt hatte, und die Lichtung um sie herum gefror in der Zeit. Es funktioniert, stellte Faust begeistert fest. Dank des neuen Zeittricks gelang es ihm, sich in Tyrails Zeitstarre „hineinzumogeln“. Faust nutzte die Verblüffung seines Gegners, um eilig die Schriftrolle zu zücken, die er am Morgen in Silbrigmond besorgt hatte, und die magische Formel vom Pergament abzulesen. Jäh katapultierte der Zauber die beiden Kontrahenten zurück in den Zeitstrom. Das Glühen ihrer Schwerter verlosch und das kleine Irrlicht, das stetig um Tyrails Klinge tanzte, verschwand von der Bildfläche.
Ulinu en‘lianter!“, fluchte der Elf gepresst. „Eine antimagische Zone?! Du verdammter Bastard!“
Spöttisch breitete Faust die Arme aus.
„Lass uns wie früher kämpfen!“ sagte er grinsend. „Ganz ohne Magie!“
Tyrails Verunsicherung beflügelte ihn. Er hatte ein wenig nachgeforscht und seinen Schwachpunkt gefunden: Das kleine Irrlicht war ein Klingengeist, ein manukeryth, der Geist eines verstorbenen elfischen Helden, aus dessen Beistand Tyrail während des Kampfes Kraft und Willensstärke schöpfte. Durch die Unterdrückung des magischen Gewebes verlor der Klingengeist seinen Kontakt zur materiellen Ebene. Natürlich beschnitt dies auch seine eigene Kampfkraft, doch Faust hoffte, dass der Nachteil auf Tyrails Seite überwiegen würde.
Der Elf nutzte den einzigen Vorteil, der ihm noch blieb: seine Gewandtheit. Pfeilschnell schoss er auf seinen Gegner zu, der ebenfalls losstürmte. Einen Herzschlag bevor Tyrail ihn erreichte, katapultierte sich Faust frontal in den Sprung. Der Elf reagierte mit einer Halbdrehung, um dem schmetternden Hieb auszuweichen. Die Bewegung lenkte seine Klinge ab, sodass sie nur einen blutigen Kratzer auf Fausts Oberkörper hinterließ. Doch Faust, der Tyrails Ausweichmanöver vorausgeahnt hatte, änderte im Sprung die Hiebrichtung und die niederfahrende Klinge brach schmetternd das Schlüsselbein seines Gegners. Während Tyrail, betäubt vor Schmerz, in die Knie brach, stieß sein Gegner ihm mit einem weiteren Hieb die Klinge in die Brust, sodass sie nur knapp sein Herz verfehlte. Brüllend vor Schmach und Enttäuschung riss Tyrail sein Schwert hoch, doch er war so geschwächt, dass ein einziger Fußtritt ausreichte, ihm die Waffe aus der Hand zu schlagen. Grob packte Faust den Besiegten bei der Schulter und setzte ihm die Klinge an die Kehle.
„Willst du immer noch, dass ich es zu Ende bringe?“, knurrte er.
Verächtlich hustete Tyrail ihm einen Schwall Blut vor die Füße. Dann verdrehten sich seine Pupillen nach oben und er sackte bewusstlos in sich zusammen. Für einige Atemzüge harrte Faust unschlüssig über dem Besiegten. Du kannst ihn nicht einfach verbluten lassen. Egal, wie lange Tyrail seine Nemesis-Nummer noch durchziehen wollte, er war einmal so etwas wie sein Kampfgefährte gewesen. Hastig riss er Tyrails Hosenbein in Streifen, um die blutende Brustwunde abzubinden.  
„Faust.“
Wie vom Blitz getroffen fuhr er herum.
Das kann nicht sein.
Tyrails Klingengeist war in eine schemenhafte Projektion seines sterblichen Körpers geschlüpft. Die hohe Stirn, die ernsten schwarzen Augen… Faust spürte einen eisigen Schmerz in der Brust. Und dann sank er, der ewige Rebell, der in seinem ganzen Leben vor niemandem freiwillig das Haupt gebeugt hatte, in Demut auf die Knie.
Thallastam“, flüsterte er erstickt.
„Ja, Faust, ich bin sein manukeryth.“
Langsam glitt der Geist näher und ein kummervoller Blick streifte den Bewusstlosen im Gras. „Nach meinem Tod bat ich die Götter, mich zurückzuschicken. Ich hatte bei dir versagt… Meine Seele fand keine Ruhe in dem Wissen, dass auch mein zweiter Schüler der Dunkelheit anheimfallen würde. Doch ich konnte ihn nicht retten. Seine Seele war zu sehr vom Hass zerfressen.“
Faust vermochte sich nicht zu rühren. Erst als eine kühle, substanzlose Berührung seine Schläfe streifte, sah er auf. Der Geist des alten Elfen hatte sich zu ihm ins Gras gekniet, sodass er gezwungen war ihm ins Gesicht zu sehen.
„Vielleicht habe ich mich damals geirrt“, gestand Thallastam leise. „In dir schwelt der Weltenzorn deines Vaters. Aber ich habe die Wandlungsfähigkeit der Menschen unterschätzt.“
Faust schluckte heftig, doch der Kloß in seiner Kehle wollte nicht weichen.
„Könnt Ihr mir vergeben?“
„Nicht ich muss dir vergeben. Sondern die Lebenden.“
„Ihr wollt, dass ich mich dem Orden stelle?“
„Die Frage ist, ob du bereit bist dich ihrem Urteil zu unterwerfen. Die Rolle des bußfertigen Sünders stand dir nie besonders gut. Du wolltest immer als Held hierher zurückkehren…“
„Als Held?“, widersprach Faust erstaunt. „Nein, ich…“
Dann biss er sich auf die Lippen und senkte den Blick. Das Schicksal hatte sie hier zusammengeführt – dreiundzwanzig Jahre, nachdem er Thallastam auf eben dieser Lichtung getötet hatte. Irgendetwas musste das zu bedeuten haben. Vielleicht war das die zweite Chance, auf die er gehofft hatte. Und anders als er gehofft hatte, lag sie womöglich nicht in seiner Hand…

Grimwardt

Kurz darauf im Gasthaus 'Zu den Neun Schwertern'.
Grimwardt packte seine Schwester, die gehetzt aufgesprungen war, als Faust auf der Türschwelle erschienen war, am Arm und schüttelte stumm den Kopf. Das musste irgendwann kommen, sagte seine Geste. Doch nur widerwillig ließ sich Winter zurück auf den Platz drücken. Der Schwertkämpfer bedachte seine Freunde mit einem angriffslustigen Macht-euch-auf-was-gefasst-Zwinkern, ehe er sich ihren beiden Tischgefährten zuwandte: Die Freunde hatten Grimwardts zwergische Bekannte und ihren gnomischen Begleiter bei ihrer Ankunft im Gasthaus angetroffen.
„Ihr habt mich noch nie gesehen“, sprang Faust kopfüber ins kalte Wasser. „Aber vermutlich habt Ihr bereits von mir gehört. Ich bin Faust.“
Der Gnom sah plötzlich aus, als sei ihm eine Fischgräte im Hals stecken geblieben. Das Bronzegesicht der Zwergin dagegen blieb unbewegt. Doch Grimwardt entging nicht der kurze Augenkontakt zwischen ihr und einer Rekrutin, die von einem anderen Tisch neugierig hinüber sah. Auf ein kurzes Nicken der Schwertmeisterin strahl sich das Mädchen unauffällig aus der Tür.
Der Faust?!“, prustete der Gnom indessen.  
„Nicht der mit dem Teufelspakt.“
„Teufelspakt? Das wird ja immer besser!“
„Hast du nicht zugehört?“, brummte Faust ungnädig. „Das war ich nicht!“
„Dann leugnest du wohl auch die anderen Dinge, die man dir zur Last legt, wie?“
„Falls du auf die Sache mit Thallastam anspielst - in dem Punkt ist an den Gerüchten wohl ausnahmsweise was Wahres dran.“
Der Gnom sprang auf.
„Tu nicht so empört“, knurrte  Faust. „Mal ehrlich: In dem Laden hier ist doch keiner so lammfromm wie ihr gerne tut!“
Mit einem unterdrückten Stöhnen fuhr sich Grimwardt über die Stirn. Sein Freund bewies wieder einmal, dass er über das diplomatische Geschick eines orkischen Preisboxers verfügte. Die Rechnung folgte auch prompt auf den Fuß: Die Hand des Gnoms fuhr an sein Schwert.
„Pass auf, wen du hier beleidigst!“  
Plötzlich waren alle Augen auf ihren Tisch gerichtet. Doch ehe sich die erhitzten Gemüter in einer handfesten Wirtshausprügelei entladen konnten, wurde es still und die Temperatur schien um einige Grade zu fallen.
„Faust!“, dröhnte Hades‘ Titanenstimme durch den Raum. Der Gnom kroch eilig zurück auf seinen Platz, um dem Todesrichter nicht im Weg zu stehen, als dieser wie der Schnitter persönlich heran rauschte.
Hades musterte den Zurückgekehrten von Kopf bis Fuß.
„Ihr habt Eure Erinnerung an Eure Ausbildung bei den Neun Schwertern wiedererlangt?“  
Faust deutete ein Nicken an.
„In diesem Fall nehme ich Euch, Desmond ‚Faust‘ MacLancastor, im Namen der Neun Schwerter in Gewahrsam“, erklärte Hades förmlich. „Ihr steht im Verdacht, am siebzehnten Tag der Flammleite im Jahre 1372 TZ den Elfen Lydanias ‚Thallastam‘ Feawyn auf unehrenhafte Weise getötet zu haben. Ich muss Euch bitten, mir Euer Schwert auszuhändigen.“
Mit zögernden Bewegungen löste Faust den Schwertgurt.
„Ich will ein Ordensgericht“, verlangte er.
„Das ist Euer Recht.“
Grimwardt glaubte Fausts Zähne knirschen zu hören, als er Zwiespalt mit blanker Klinge übergab. Die Chaosklinge durchlief eine wütende Farbtransformation, als Hades sie entgegennahm. Der Richter berührte die Waffe nur mit zwei Fingern und hielt sie weit von sich wie ein bissiges Tier, ehe er sie mit gerümpfter Nase seinem Schwertnovizen übergab, der ihm wie ein Hund auf den Fuß gefolgt war.  
„Und Eure magischen Gegenstände“, verlangte er. „Einschließlich Eures Zauberbuchs.“
„Dann bin ich nackt!“, knurrte Faust, der abgesehen von den magischen Schulterplatten, Armschienen und Lederstiefeln nur ein rotes Tuch um die Hüfte trug.
„Ich bestehe darauf“, sagte Hades unerbittlich.
War Fausts öffentliche Demütigung von ihm beabsichtigt? Oder befolgte der Todespriester einfach nur das Protokoll? Manchmal meinte Grimwardt, wenn auch nur für kurz, unter Hades‘ Panzer der Rechtschaffenheit eine sardonische Mutwilligkeit aufblitzen zu sehen. Faust nahm es augenscheinlich gelassen, als er sich mit flegelhafter Gemächlichkeit vor den Augen der Wirtshausgäste entblößte. Selbst als Hades ihn mit hinter dem Kopf verschränkten Armen aus dem Gasthaus manövrierte und wie eine Trophäe durch den Ort trieb, bewahrte er sich seine Unbekümmertheit. Erst als er sah, wohin die Reise ging, flackerte für einen Augenblick zorniger Widerstand in seinen Augen auf.
„Ist das wirklich nötig, Hades?“, murmelte er mit gepresster Stimme.
„Ja.“ Der Richter blieb niemals eine Antwort schuldig.
Stur sperrte er Faust in einen der beiden Käfige vor Omegas Haus. In dem anderen kauerte, mit borstig gesträubtem Nackenhaar, der Tiermensch, der Grimwardt schon bei seinem ersten Besuch in Schwerterteich Gänsehaut bereitet hatte. Hades sprach einen Teleportationsbann über den Käfig.
„Nachtmond wird Alarm schlagen, solltet Ihr versuchen zu fliehen“, erklärte er gleichmütig.  
Winter, die die Szene mit knirschenden Zähnen beobachtet hatte, ballte entschlossen die Fäuste.  
„Das reicht!“, zischte sie. „Wir müssen ihn da rausholen!“
„Nein.“ Grimwardt legte ihr beschwichtigend den Arm auf die Schulter. „Er tut das Richtige, Winter.“

Winter
Abends.
In der Einsamkeit seiner Zelle war Fausts Unbekümmertheit düsterer Resignation gewichen. Er wirkte blass und ungewohnt verletzlich in dem unförmigen Leinenhemd, das dem Schwiegersohn der Wirtsherrin gehörte. Der Anblick versetzte Winter einen Stich. Faust hatte immer eine gewisse Immunität gegen die Zeichen besessen, die sie und Grimwardt in böse Vorahnungen verstrickten. Doch nun hatte selbst ihn sein Glück verlassen.
„Faust!“
Heimlich kauerte sie sich in den Schatten des Käfigs.  
„Ich komme gerade von Hades.“ Sie sprach in raschem Flüsterton, um Nachtmond nicht auf sich aufmerksam zu machen. „Schlechte Neuigkeiten: Er wird dich wegen Totschlags anklagen. Die Strafe lautet auf Henkerstod durch das Schwert. Laut seines lächerlichen Ordenskodex‘ ist das ehrenhafter als der Tod durch den Strang.“ Sie schnaubte düster. „Als ob das einen Unterschied machen würde!“
„Naja“, murmelte Faust. „Besser eine saubere Enthauptung als die Schmach vor dem ganzen  Orden am Galgen zu zucken…“
„Oh.“ Winter hielt irritiert inne. „Du denkst genauso? Naja, wie auch immer, ich glaube, ich habe einen Weg gefunden, dich aus diesem Schlamassel rauszuholen. Hades hat uns gestattet der Verhandlung als Leumundszeugen beizuwohnen. Und ich habe den Verhandlungsraum gesehen, Faust! Er ist nicht einmal magisch gesichert! Wenn sie dich also verurteilen sollten…“
„Sie werden mich verurteilen“, fiel ihr Faust mit finsterer Miene ins Wort. „Ich habe alles gestanden.“
„Du hast was?!“ Winters Gesichtszüge erstarrten.
„Hades hat das Verhör geführt“, erklärte er ruhig. „Ich stand unter dem Einfluss seines Wahrheitszaubers, als ich meine Aussage machte.“
Seine Entschlossenheit erstickte Winters Tatendrang.
„Dann hat Grimwardt also recht“, murmelte sie beklommen. „Du.. willst das durchziehen, hm?“
„Wenn es das Schicksal so will…“
Winter stutzte und schüttelte jäh den Kopf.
„Nein!“ Mit einem Mal machte sein Fatalismus sie wütend. „Das bist nicht du, Faust! Außerdem ist es nicht das Schicksal, das dich verurteilen wird, sondern ein Pack unzurechnungsfähiger Irrer! Mal ehrlich! Was ist das für ein Orden, der einen halbnackten Wilden und einen tyrannischen Gefühlszombie zu Richtern macht?!“
„Schön gesagt.“ Ein fahles Grinsen huschte über sein Gesicht. „Nein, ehrlich, Winter, ich werde nicht schon wieder davonlaufen.“
 „Gibt es denn irgendetwas, das ich tun kann?“
„Du könntest mir irgendwo ein sauberes Hemd und eine vernünftige Hose besorgen“, brummte er. „In diesem Sack hier stinke ich wie ‘ne Pellkartoffel.“
„Du stinkst wie er!“, drang ein finsteres Knurren aus Nachtmonds Käfig.
Erstaunt spähten die beiden in die Richtung, aus welcher der Einwand gekommen war, doch die nachtschwarze Höhle des Tiermenschen gab ihren Bewohner nicht preis.
„Ich wusste nicht, dass er sprechen kann!“, wisperte Winter verblüfft. Und das war nicht der einzige Punkt, in dem sie Nachtmond unterschätzt hatte. „Hat er etwa verstanden, was wir gesagt haben… Faust?“
Er war aufgestanden und näherte sich vorsichtig dem Nachbarkäfig.
„Wer ist ‚er‘?“
Ein leises Knurren begleitete jede seiner Bewegungen, das sich plötzlich in einem zischenden Fauchen entlud. Faust hielt inne und hockte sich kauernd zu Boden.
„Du sprichst von meinem Vater, oder? Von dem, der vor mir Faust genannt wurde.“
„Faust der Verräter!“
„Wen hat er verraten?“
Nachtmond antwortete mit einem kehligen Laut - halb Grunzen, halb boshaftes Lachen. Mehr war ihm nicht zu entlocken. Enttäuscht gab Faust schließlich auf und kehrte zu Winter zurück.
Lange starrten die beiden schweigend in die Nacht.
„Ich kann dich nicht umstimmen, oder?“, murmelte Winter schließlich unglücklich.
Ein angedeutetes Kopfschütteln.
„Lass uns wenigstens ein Zeichen vereinbaren“, bat sie. „Falls du es dir während der Verhandlung anders überlegst.“
„Wenn ich schreie wie ein Mädchen“, brummte Faust düster.

Faust
Früh am nächsten Morgen.
Leise Stimmen weckten ihn aus einem unruhigen Schlaf. Als er sich fröstelnd aufrichtete, erspähte er im Zwielicht zwei Silhouetten: Omega, die in Nachtmonds geöffneter Käfigtür kniete und wie eine Schlangenbeschwörerin auf den vor ihr kauernden Tiermenschen einredete. Nachtmonds Kopf schnellte in die Höhe, als er Fausts Blick auf sich spürte, doch er beließ es bei einem ungnädigen Schnauben. Kurz darauf erhob er sich in jäher Unruhe und ein Schaudern durchzuckte seinen Körper, zerrte an seinen Gliedern und streckte sie in die Länge, während ihm Haare am ganzen Körper sprossen. Die Verwandlung war schrecklich mitanzusehen. Doch Nachtmond schien daran gewöhnt zu sein. Als es vorüber war, schüttelte der gewandelte Tiger nur kurz die Benommenheit ab und verschwand dann mit einem Satz im Gebüsch. Faust kniff die Augen zusammen - er war noch nicht lange genug wach, um der unwirklichen Szene zu trauen. Doch es wurde noch eigenartiger.  
„Willst du ein Stück mit uns kommen?“ Die Ordensführerin trat an seinen Käfig und entriegelte die Tür, als sei nichts Besonderes dabei, einen Strafgefangenen auf einen Spaziergang im Morgengrauen einzuladen.
Argwöhnisch folgte Faust ihr in den Tempelgarten. Unwirklich stach das satte Rosa der Kirchbäume aus der frühmorgendlichen Welt in Grau. Sie schlenderten schweigend durch die dunsttrübe Morgenidylle und beobachteten den Tiger dabei, wie er seinen Jähzorn an einem Baumstamm ausließ. Nachdem er den Kirschbaum nacktgeschüttelt hatte, ließ er sich schnaubend am Ufer des magischen Teiches nieder, der Schwerterteich seinen Namen gab. Hierhin würden die neun Schwerter der Ordensmitglieder nach dem Tod ihrer Träger zurückkehren und erst wieder aus dem Wasser tauchen, wenn ein Nachfolger gefunden war…
„Wie war mein Vater?“, fragte Faust plötzlich unvermittelt.
„Ares war ein ehrgeiziger Mann“, erwiderte Omega ohne den Blick von dem Tiger zu wenden. „Er huldigte niemandem, respektierte die Starken und ignorierte die Schwachen…“
„Nachtmond nannte ihn einen Verräter… Was ist damals geschehen?“
Sie schwieg so lange, dass Faust glaubte, sie habe seine Frage bereits vergessen.
„Es war noch nicht lange her, dass ich den Orden in Faerûn neu begründet hatte, hundert Jahre nachdem das letzte Schwert in Shu-Lung umgekommen war. Thallastam, Hades, Nachtmond und dein Vater waren die ersten Schwerter der neuen Generation. Ihr letzter gemeinsamer Auftrag als Abenteurer führte sie in die Tiefen des achten Höllenkreises. Es ging um die Befreiung eines Sohns des damarischen Königs aus den Folterkammern Canias. Dort verriet dein Vater seine Freunde und überließ sie Mephistos Folterknechten. Er hatte einen Pakt mit einem Teufel an dessen Hof geschlossen, der ihn zum Halbteufel machte. Der Verrat an seinen Freunden war Teil des Preises, den er zahlte.“
Faust hob verwundert den Kopf.
„Wie konnten die anderen aus der Hölle entkommen?“
Eine Erinnerung berührte Omegas Gesicht und stahl den Glanz aus ihren Augen.
„Sie flohen“, sagte sie leise. „Eine offene Tür, ein unachtsamer Wachtposten, eine glückliche Verkettung von Umständen… Natürlich gibt es keine solchen Zufälle in den Folterkammern von Cania. Ich hatte dafür gesorgt, dass es so kam, doch das erfuhren sie nie.“
„Ich kann schweigen, wenn Ihr die Sache lieber für Euch behalten wollt“, beeilte sich Faust ihr zu versichern.
Ein schmerzliches Lächeln ließ ihre Mundwinkel zucken.
„Es ist kein Zufall, dass du gerade jetzt zurückgekehrt bist, Faust“, sagte sie und ihr Blick entglitt in die Nebel der Zukunft.  

Winter
Am nächsten Tag in der Halle der Schwerter.
Laut klapperten Klingen und Rüstungen, als sich die neun Schwertmeister im Kreis um den Wappentisch versammelten. In zeremoniellem Einklang zogen sie ihre Schwerter und legten sie vor sich auf die Steinplatte, sodass die Spitzen zur Mitte des Schicksalsrads deuteten. Nur Fausts Klinge Zwiespalt fehlte. Wenigstens hatte Hades darauf verzichtet, ihm Handschellen oder Fußfesseln anzulegen. Nachdem Omega die rituellen Begrüßungsworte gesprochen hatte, nahmen die Versammelten Platz: Die Ordensführerin kam als erste, dann folgten Elijas, Hades, Nachtmond, die Zwergin, Tyrail, Faust, eine Dunkelelfe, die Winter hier zum ersten Mal sah, und der Gnom aus dem Gasthaus. Als sich Hades erhob, um die Anklageschrift zu verlesen, senkte sich andächtiges Schweigen über das Ordensgericht.
Winter, die neben Grimwardt und Miu auf der Zeugenbank saß, schenkte den Worten des Richters kaum Beachtung. Heimlich hatte sie begonnen den Raum nach Schutzmagie abzusuchen. Ein schwacher Teleportationsbann, erst kürzlich gewirkt, lag über dem Steintisch – mit einem Gegenbann wäre er leicht aufzuheben. Viel schwieriger würde es werden, Faust gegen seinen Willen aus dem Raum zu teleportieren. Und das alles, bevor irgendwer eingreifen konnte. Winter kniff mutlos die Augen zusammen. Ohne Hilfe war sie aufgeschmissen! Von ihren Gefährten war keine Unterstützung zu erwarten. Grimwardt war von der Richtigkeit von Fausts Handeln überzeugt, selbst wenn es ihn umbrächte, und Miu… wer wusste schon, was Miu dachte? Vielleicht glaubte sie so fest daran, dass die Ahnengeister, zu denen sie betete, ihre schützende Hand über ihren Schützling hielten, dass sie nicht einmal auf die Idee kam, dass diese Sache böse für ihn enden könnte.  
„Während des Verhörs zeigte sich der Angeklagte reumütig“, sprach Hades zum Abschluss seiner Anklageverlesung „Zeitweise waren seine Schilderungen konfus und repetitiv, was auf emotionale Anteilnahme schließen lässt.“
Winter konnte sich ein bitteres Lachen nicht verkneifen.  
Emotionale Anteilnahme, als ob du wüsstest, was das bedeutet!
„Möchten die Leumundszeugen dieser Darstellung etwas hinzufügen?“, wandte sich der Richter mit scharfem Unterton an den Störenfried.
Winter räusperte sich und senkte schuldbewusst den Blick.
„Wenn es mir gestattet ist, Euer Ehren“, sagte sie artig.
„Ich übergebe das Wort an Winter Fedaykin-Dantés.“
Sie erhob sich. „Verzeiht, aber wenn ich das richtig verstanden habe, fand …äh… das Delikt, dessen Faust bezichtigt wird, doch im Rahmen eines Duells statt, oder nicht?“
„Streng genommen handelte es sich um einen nicht näher definierten Zweikampf“, berichtigte Hades, „da dem Kampf keine formelle Duellforderung vorausgegangen war.“
„Zweikampf oder Duell – auf jeden Fall wussten beide, worauf sie sich einließen“, beharrte Winter. „Dass der Kampf tödlich enden konnte, nahmen sie in Kauf, als…“
„Hör mit dem Schöngerede auf, Winter!“, fiel ihr Faust ungeduldig ins Wort. Er hatte sich halb zu ihr umgedreht, doch seine Worte waren an alle gerichtet. „Ich tötete Thallastam, als er unbewaffnet am Boden kniete, um für meine Seele zu beten. Daran gibt es nichts schönzureden. Ich war jung – vielleicht viel zu jung, um mit dieser Macht umzugehen.“
Winter schloss ergeben die Augen. Faust, du verdammter Querkopf! Schön, wenn du hier den geläuterten Sünder mimen willst, geh – reite dich selbst ins Unglück! Ich habe alles versucht!
„Ich will überhaupt nichts bestreiten“, fuhr Faust fort. „Aber mich ärgert eure verdammte Heuchelei! Mal ehrlich, wer von euch hat denn keinen Dreck am Stecken! Tyrail, was ist zum Beispiel mit dir? Gegen die bösen Scherze, die du und deine Eldreth-Veluuthra-Freunde euch früher erlaubt habt, waren meine Vergehen ja wohl gar nichts!“
Der Elf stieß ein verächtliches Schnauben aus. „Deine Ablenkungsmanöver waren schon immer für jeden Ork zu durchschauen! Du bist so erbärmlich, Faust!“
„Tyrail! Faust!“, rief Hades die beiden Erzfeinde zur Ruhe. „Tyrail, niemand hat Euch das Wort erteilt! Faust, Ihr seid es, der hier vor Gericht steht, nicht Tyrail. Bleibt gefälligst bei den Fakten, die den Fall betreffen!“
„Um den Fall geht es doch überhaupt nicht! Diese ganze Verhandlung ist eine Farce! Ihr habt Euer Urteil doch schon längst gefällt und nun formuliert Ihr die Anklage auf eine Weise, die den anderen gar keine andere Möglichkeit lässt als mich zu verurteilen!“
Eine steile Falte hatte sich in die Stirn des Richters gegraben.
Faust spannte die Kiefermuskeln, um sich aus der Rage zu winden, in die er sich geredet hatte. „Ich habe es getan, ja“, gestand er ruhiger. „Ich habe Thallastam getötet. Aber ich habe mich geändert. Die Frage ist also nicht, ob ich schuldig bin, sondern ob ihr mich für eine Tat zu Tode verurteilen wollt, die ich beging, als ich noch fast ein Kind war.“  
Einige Herzschläge lang herrschte Schweigen. Dann ergriff Hades wieder das Wort.
„Gibt es noch weitere Zeugen, die zu diesem Fall aussagen wollen?“
„Was ist mit Thallastams Geist?“, fragte Faust.
Hades runzelte verständnislos die Stirn.
„Ich verstehe nicht, was die Frage bedeuten soll.“
Tyrail war in zorniger Erregung aufgesprungen, doch Faust ignorierte seinen stummen Einspruch. „Der Mann, den ich tötete, wandelt als Tyrails Klingengeist unter uns.“
 „Ruhe!“ Hades hatte Mühe, den Tumult zu übertönen, der sich auf diese Enthüllung in der Halle erhob. Selbst dem eisernen Richter war die Verblüffung anzusehen, als er sich an den Elfen wandte. „Könnt Ihr das bestätigen, Tyrail?“
Tyrails Blicke durchbohrten Faust wie vergiftete Dolche.
„Ja“, knirschte er ohne die Augen von seinem Hassobjekt zu wenden.
„Ist es Euch möglich, ihn herzurufen?“  
„Nein!“ Er spuckte dem Richter das Wort förmlich ins Gesicht. „Das kann ich nicht, selbst wenn ich wollte! Und es war niemals Thallastams Wunsch, dass Faust seine Identität vor dem versammelten Orden entlarvt!“  
Hades musterte den aufgebrachten Elf mit stechenden Blicken.
„Ihr sprecht die Wahrheit“, erkannte er. „Es wird festgehalten: Das Opfer verweigert jegliche Aussage gegen oder zugunsten des Täters.“
Faust senkte betroffen den Blick.
„Kommen wir nun zur Abstimmung durch das Ordensgericht. Die Anklage bezichtigt das Ordensmitglied Faust der unehrenhaften Tötung im Affekt. Im Falle einer Verurteilung droht dem Angeklagten der Tod durch Enthauptung. Die Ordensmitglieder sind aufgefordert Ihr Urteil nach bestem Wissen und Gewissen zu fällen. Der Angeklagte möge sich erheben.“
Nervös griff Winter nach Mius Hand. Das besänftigende Wesen der Ordensschwester durchströmte sie wie ein wohltuender Sirup und sie wünschte, Faust in diesem Moment etwas von dieser Ruhe abgeben zu können.
„Das Urteil des Ersten Schwertes!“, eröffnete Hades die Abstimmung.  
„Ich enthalte mich dem Urteil“, erklärte Omega mit unbestechlicher Gleichmut.
„Das Urteil des Zweiten Schwertes!“
„Unschuldig.“ Elijas hatte während der ganzen Verurteilung unkonzentriert und ein wenig kränklich gewirkt. Doch nun streifte er Faust mit einem mitfühlenden Blick.
„Das Urteil des Dritten Schwertes lautet auf schuldig“, gab Hades seine eigene Stimme ab. „Das Urteil des Vierten Schwertes!“
„Schuldig“, knurrte Nachtmond mit Inbrunst.
„Das Urteil des Fünften Schwertes!“
„Enthaltung“, sagte die Zwergin knapp.
„Das Urteil des Sechsten Schwertes!“
„Es war Mord“, erklärte Tyrail kalt. „Nicht Totschlag. Ich erkenne weder die Anklage noch dieses Gericht an.“
Faust lachte düster auf. „Du willst doch nur selbst derjenige sein, der mir das Schwert in die Brust rammt, Tyrail!“
„Das Gericht wertet diese Aussage als Enthaltung“, entschied Hades. „Das Urteil des Achten Schwertes!“
„Unschuldig.“ Der Freispruch der dunkelelfischen Schwertmeisterin kam unerwartet. Offenbar war Fausts Ehrlichkeit nicht überall auf taube Ohren gestoßen.
„Das Urteil des Neunten Schwertes!“
Der Gnom hob erstaunt den Kopf, als er erkannte, welche Macht ihm plötzlich zuteilwurde. Es stand 2:2. Und dann breitete sich – mit schleichender Langsamkeit – ein gehässiges Lächeln auf seinen Lippen aus.
„Schuldig“, sprach er.

Faust
Wie betäubt harrte sein Blick auf den Tuschezeichnungen, welche die Pergamentwände bedeckten. Während Hades das Urteil über ihn sprach, wanderte das hereinfallende Licht ein Stück nach Westen und ließ die Ordenskrieger vergessener Zeiten in verzerrter Gestalt durch den Raum wandern. Wie grinsende Totengeister, die ihn zu sich riefen. Bist du nun zufrieden, Thallastam? Zu Tode verurteilt wegen eines belanglosen Wirtshausstreits mit einem Fremden! Am liebsten hätte er laut losgelacht, aber er wollte nicht als lachender Irrer an dieser Wand dort enden.  
Das Singen einer Schwertscheide riss ihn aus seiner Starre.  
Omega hatte sich erhoben. Himmelssplitter, das mächtigste der Ordensschwerter, lag blank in ihrer Rechten. Das kristallene Licht der Glasstahlklinge vertrieb die Schatten der Ahnengeister. Wollte sie das Urteil etwa sofort vollstrecken? Sollte sein Blut hier über dem Schicksalsrad der Neun Schwerter vergossen werden?
„Liebe Freunde - Schwerter des Ordens“, sprach Omega. Ihre Wangen waren gerötet und ihre Augen riesig wie bei einem jungen Mädchen bei seinem ersten Kuss. Faust vermochte sich keinen Reim auf diese seltsame Erregtheit zu machen. „Ich erteile euch hiermit den einzigen Befehl, den ich Euch je geben werde: Unternehmt nichts, um meine Seele zu retten! Kommt mir nicht nach!“
Was zur Hölle…?
Mit feierlicher Würde trat sie einen Schritt zurück und verneigte sich mit dem Schwert auf der Brust. Die letzte Verbeugung. Ein Ritual der Samurai-Krieger von Wa, kurz bevor sie… in den Freitod gingen! In einer fließenden, harmonischen Bewegung packte Omega das Schwert mit beiden Händen und stieß sich die Klinge mit großer Präzision mitten ins Herz. Geistesgegenwärtig – erstaunlich geistesgegenwärtig – sprang Elijas vor, um sie aufzufangen: Sie war tot, ehe ihr Körper in den Armen des Avariel zu Boden sank.
Es war absurd. Völlig undenkbar.
Erst als Omegas Blut sich um den Fuß des Gnoms zu ihrer Rechten zu sammeln begann, schlich sich ihr Tod in das Bewusstsein der Versammelten: Der Gnom begann wie von Sinnen zu schreien und plötzlich war der Bann gebrochen. Einige sprangen wie von der Tarantel gestochen auf und stürzten zu der Toten, während der Schock andere mit kalten Klauen an ihre Plätze fesselte.
Faust spürte, wie ihn all die Anspannung der letzten Stunden jäh aus ihrem Griff entließ. Ihm schwindelte und er spürte eine grässliche Schwäche in den Beinen. Dann schnellte plötzlich etwas auf ihn zu und er schlug krachend gegen die Lehne seines Sitzes. Nachtmond! Mit blanken Händen, die sich im Sprung in Tigerklauen verwandelten, setzte der Tiermensch quer über den Tisch und stieß ihm die Klauen in die Kehle. Panisch schnappte Faust nach Luft, doch es trat nur roter Schaum aus dem Loch in seinem Hals.
Als er wieder zu sich kam, ruhte sein Kopf in Mius Schoß. Winter deckte ihn mit dem Rücken und hielt den Tiermenschen, der sich wimmernd am Boden wand, mit einem Beherrschungszauber im Bann.
Was soll der Mist?, wollte Faust seinen Angreifer anherrschen, doch seine Wut verrauchte, als er den Schmerz in Nachtmonds Augen sah.
Er kann nicht zwischen Zorn und Schmerz unterscheiden.
Die Erkenntnis versetzte ihm einen eisigen Stich. Omega war Nachtmonds Miu gewesen, der schützende Geist, der ihn vor sich selbst bewahrt hatte. Sie hatte den ganzen Orden zu dem gemacht, was er war. Ohne sie waren die Neun Schwerter nur… ein Tollhaus zerrütteter Seelen. Betroffen betrachtete er den Scherbenhaufen, den die Ordensführerin hinterlassen hatte. Ihre Leiche war fort und er konnte Hades nirgendwo sehen. Vermutlich hatte der Todespriester sie fortgetragen, um ihren Körper für die Beisetzung zu konservieren. Die anderen saßen in stummer Entgeisterung um den Tisch oder lagen sich schluchzend in den Armen. Faust suchte mit den Augen nach dem einzigen, den Omegas Tod nicht kalt erwischt hatte: Elijas harrte, die Hände auf den Tisch gestützt, in sich gekehrt in all dem Chaos, wie jemand, der dabei war, einen schweren Entschluss zu fassen.  
„Elijas!“, rief Faust. Der Avariel hob jäh den Kopf. „Was hat sie dir erzählt?“
Die erwartungsschwere Stille brachte den Elfen in Zugzwang.  
„Setzt euch“, befahl er leise. Doch er wartete, bis Hades zurückgekehrt war, ehe er zu einer Erklärung ansetzte: „Vor dreißig Jahren gerieten Hades, Nachtmond und mein Vorgänger in Gefangenschaft auf Cania, dem achten Kreis der Hölle. Omega brach auf, um ihre Freunde zu befreien. Sie kämpfte sich durch sieben Höllenkreise und drang bis in den Palast des Erzteufels Mephistopheles vor. Ihn jedoch konnte sie nicht bezwingen, ohne seine Geiseln zum Tode zu verurteilen. Darum bot sie ihm ihre Seele an, im Tausch gegen das Leben ihrer drei Freunde. Er nahm an und setzte ihr eine Frist vor dreißig Jahren. Diese Frist läuft mit der letzten Stunde dieses Tages ab. Omega wählte den Freitod, um nicht durch Mephistos Hand sterben zu müssen.“
Das schockstarre Schweigen, das auf diese Enthüllung folgte, fühlte sich an, als hätte trotzdem etwas von Canias eisiger Kälte Einzug in die Halle der Neun Schwerter gehalten. Hades erhob sich und verließ mit steifer Würde den Raum, bemüht den angekratzten Eispanzer um seine Seele zu versiegeln. Fausts Gedanken rasten. Es ist kein Zufall, dass du gerade jetzt zurückgekehrt bist. Langsam begann er den Schicksalsknoten zu sehen, den Omega schon seit langem gekannt haben musste…
„Seit wann weißt du davon?“, wandte er sich an Elijas.  
„Seit heute Morgen“, antwortete der Avariel. „Omega hat mir die Leitung des Ordens übertragen, solange kein neuer Träger für Himmelssplitter gefunden ist.“
Die Zwergin erhob sich.
„Wir müssen ihre Seele befreien“, sagte sie entschlossen. „Was können wir tun, um sie zu retten?“
„Nichts“, erwiderte Elijas betrübt. „Wir können gar nichts tun, ohne ihrem letzten Befehl zuwider zu handeln.“
„Aber…“
„Es war ihr Wunsch, dass der Orden der Neun Schwerter weiter besteht. Das ist alles, was wir tun können, um ihr Andenken zu ehren.“ Sein Blick glitt über die Anwesenden und blieb dann an Faust hängen. „Was mich zum Gegenstand dieser Versammlung bringt: Die Strafvollstreckung obliegt dem Ersten Schwert. Ich verschiebe darum das Enthauptungsurteil gegen Faust auf unbestimmte Zeit. Das Ordensgericht ist damit aufgelöst.“
Elijas bat die anderen Schwerter zu gehen. Als er mit Faust und seinen Gefährten alleine war, fiel die Maske des beherrschten Anführers von ihm ab und Faust erkannte, wie sehr ihm vor der Verantwortung graute, die Omega ihm aufgebürdet hatte. Er wusste, was jetzt kommen würde, und die Aussicht erfüllte ihn mit flammender Euphorie.
„Omegas Befehl war an die Neun Schwerter gerichtet“, begann Elijas zögernd. „Allerdings…“
„Allerdings bin ich kein Schwert mehr“, unterbrach ihn Faust ungestüm. „Wir werden es tun. Wir werden in die Hölle gehen!“ Mit einer entschuldigenden Geste wandte er sich an seine Freunde. „Tut mir leid, dass ich euch da mit reinziehe und ihr habt echt einen gut bei mir, aber ich fürchte, ich kann nicht allein…“
„Halt‘ die Klappe“, sagte Winter resolut. „Natürlich kommen wir mit!“
„Faust…“ Elijas schien weitaus weniger glücklich mit dieser Lösung. „Ich kann das Urteil gegen dich nicht aufheben. Ich kann dir nicht einmal versprechen, dass du dadurch deine Integrität im Orden zurückgewinnst.“
„Darum geht es mir gar nicht.“
„Ach nein? Du würdest durch die Hölle gehen und danach trotzdem deinen Kopf hinhalten?!“
„Du weißt genau, dass Omega dieses Schlupfloch nicht ohne Grund offen gelassen hat“, sagte Faust mit glänzenden Augen. „Ich kenne die ganze Geschichte, Elijas. Sie selbst hat sie mir gestern Abend anvertraut. Was Hades und den anderen widerfahren ist, war die Schuld meines Vaters. Mit mir schließt sich der Kreis. Es ist mein Schicksal, wiedergutzumachen, was er… verbockt hat – im wahrsten Sinne des Wortes. Alles andere wird sich schon finden. Außerdem kann es nicht Omegas Wunsch sein, dass Mephisto ihre Seele zum Abendessen futtert! Mit ihren letzten Worten wollte sie vermutlich nur diejenigen schützen, die so eine Höllenfahrt nicht überstehen würden. Nachtmond und Hades haben noch von ihrem letzten Urlaub da unten einen Knacks weg, Tyrail würde dem erstbesten Teufel seine Seele versprechen, der ihm hilft die Menschheit auszurotten, die anderen drei sind zu unerfahren…“
„… und du bist ein wenig zu versessen darauf, deinen Vater dort unten zu finden“, bemerkte Elijas. Er sagte es mit entwaffnender Ironie, doch Faust entging nicht die unterschwellige Warnung. „Ich will nur sagen: Sei vorsichtig, Faust. In Kara-Tur erschauern die Menschen, wenn sie seinen Namen hören.“
Faust runzelte die Stirn: „Was weißt du über meinen Vater?“
„Ares ist ein Schwarzer Phönix-Magier. In Shou-Lung lernte ich beim Oberhaupt des Jadephönix-Ordens – ein Zirkel von Schwertmagiern, deren Kampfstil sich am Feuertanz des karaturianischen Phönix orientiert. Ihre Philosophie gründet auf dem ewigen Kreislauf von Leben und Wiedergeburt. Abtrünnige Ordensmitglieder, die sich von diesen Idealen entfernt haben, werden schwarze Phönixe genannt. Diese Abtrünnigen haben einen Weg gefunden, Macht aus der Lebenskraft anderer zu schöpfen und so ihre regenerativen Fähigkeiten zu stärken… Schon bevor er sich der Hölle verschrieb, war dein Vater mächtig und gefährlich, Faust. Und nach allem, was man hört, ist er eine einnehmende Persönlichkeit.“
„Deshalb werde ich ihm nicht die Füße küssen, sobald ich ihn sehe“, knurrte Faust.
„Das wäre auch eine ziemlich verstörende Vorstellung“, bemerkte Grimwardt trocken.  
Elijas bedachte die vier Gefährten mit einem ungläubigen Kopfschütteln.  
„Ich weiß nicht, ob die Aussicht auf eine Höllenfahrt schon jemals auf solche Euphorie gestoßen ist“, sagte er. „Dabei ist nicht einmal gesagt, ob es überhaupt möglich ist, eine Seele aus der Hölle zu befreien. Sicher ist nur, dass Omegas Seele eine große Bedeutung für Mephistopheles hat. Er wird sie nicht ohne Weiteres freigeben…“
„Dann helfen wir eben ein wenig nach.“ Faust grinste tatendurstig. „Übrigens… äh… wäre Zwiespalt bei dieser Mission wirklich eine Hilfe. Teufelskehlen sind seine Spezialität.“
Elijas seufzte.
„Hades wird mir den Kopf abreißen, wenn ich dich aus der Gefangenschaft entlasse und dir auch noch dein Schwert zurückgebe“, murmelte er. „Aber wenn ich euch schon in die Hölle schicke, ist das wohl das Geringste, was ich tun kann.“  
« Letzte Änderung: 24. Juni 2011, 13:23:02 von Niobe »

Nightmoon

  • Mitglied
    • Schicksalsstreiter
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #235 am: 24. Juni 2011, 03:40:29 »
Boah! Sehr geiler Auftakt! Jetzt muss ich echt mal ins Bett, aber das musste ich jetzt noch unbedingt vorher lesen!  :thumbup:

Edit:
So, habs jetzt auch auf die Seite gesetzt, hab nur noch keine passendes Bild gefunden. Lustig sind die "Alkoven", da wir gestern Nacht noch "Brügge sehen ...und sterben?" gesehen haben.
Jetzt bin ich natürlich gespannt, was der Drake da für nen Deal abgeschlossen hat... ;)
« Letzte Änderung: 24. Juni 2011, 19:00:11 von Nightmoon »

Winter

  • Mitglied
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #236 am: 25. Juni 2011, 19:39:51 »
Habe mir das Kapitel gestern vorlesen lassen.
Es geht wirklich mit Pauken und Trompeten los, und ab jetzt quasi nur noch bergab! Bald haben wir uns eingeholt...mag gar nicht dran denken.

Wirklich interessant, dieses Drake-Intro. Für den ist halt jeder einzelne Schritt eine Geschäftsreise! Möcht nicht seine Spesenabrechnung bezahlen müssen...

Nightmoon

  • Mitglied
    • Schicksalsstreiter
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #237 am: 12. Juli 2011, 02:25:37 »
Hach, bald sind Semesterferien! Dann ist endlich wieder Zeit für die Geschichte und auch das Spielen!  :)
Ich denke die gute Autorin sieht dem auch mit Freudentränen entgegen ;)

Nightmoon

  • Mitglied
    • Schicksalsstreiter
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #238 am: 20. Juli 2011, 14:21:47 »
Wie weit ist denn das nächste Kapitel? ...Bin doch ab Sonntag weg...  :)

Niobe

  • Mitglied
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #239 am: 20. Juli 2011, 15:20:21 »
Hm, sieht eher schlecht aus... irgendwie fehlen mir im Moment sowohl Zeit als auch die liebe Muse...

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