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Autor Thema: Stadt der gläsernen Gesänge  (Gelesen 76607 mal)

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Nightmoon

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Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #195 am: 28. Februar 2011, 12:23:12 »
So, war ja ein schönes Ende des Abenteuers! Werde in Zukunft bestimmt auch noch oft durch das Portal gehen und etwas über die dortigen "Götter" erfahren...
Und jetzt freu ich mich erstmal auf den nächsten Hafen ;)

Niobe

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Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #196 am: 28. Februar 2011, 13:13:44 »
Ich dachte, um was vom dortigen Chinesen zu holen... ;-)

Nightmoon

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    • Schicksalsstreiter
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #197 am: 28. Februar 2011, 13:43:34 »
Oh ja, das vor allem! ...Vielleicht treffe ich da ja auch den Todd der Goten...

Zophael

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Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #198 am: 28. Februar 2011, 18:49:36 »
*lol* Das ist mal ein Pscho-Five wert  :lol:

Niobe

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Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #199 am: 07. März 2011, 04:08:53 »
Es fehlt ein Abschnitt zwischen diesem Kapitel und dem letzten: Ich habe darum den letzten SH-Post editiert.


Kapitel III: Die Pestberührten  

Grimwardt
Narbental, Talländer.
Ein rotes Glühen lag über der Hafenstadt am Drachengriff. Rauchschwaden krochen schleichend durch die Gassen und überall erklangen die panischen Rufe der Fliehenden. Der Rauch wurde dichter, je näher die Gefährten dem Wasser kamen und das Atmen fiel zunehmend schwer. Grimwardt wies die Jüngeren an, die Stadtwache bei den Bergungs- und Löscharbeiten zu unterstützen. Den Rest belegte Winter mit einem Flugzauber.
Am Hafen erwartete sie ein Bild der Verwüstung. Die Handelsschiffe, die in der Hafenbucht vor Anker lagen, brannten ebenso lichterloh wie die Lagerhallen und Wirtshäuser, die sich um den Hafen drängten, und der flackernde Feuerschein erhellte den eigenartigen Kampf, der sich im Zentrum der Bucht abspielte: Flankiert von zwei schlanken Militärschiffen in Gefechtsstellung, harrte ein klobiges Gebilde im Wasser, das Grimwardt erst auf den zweiten Blick als das Wrack der Sturmhexe erkannte: Eine dicke Kruste aus Korallen und blau schimmernden Polypen zog sich über den Rumpf des Schiffes, die Masten und sogar die Überreste der Segel. Das Piratenschiff erweckte den Anschein, als sei es gesunken und habe jahrzehntelang auf dem Grund des Meeres gelegen, ehe es von einer übernatürlichen Kraft an die Oberfläche zurückgezerrt worden sei. Und es schien zu leben! Dort, wo die Geschosse der beiden Karacken die Bordwand durchdrangen, trat schwarzer Schleim wie Blut aus dem Rumpf des Schiffes, das sich mit Galionsstößen und Masthieben gegen die Angriffe der Hafenwache wehrte. Dabei ächzte und knurrte das Piratenschiff wie ein verwundetes Tier.
Winter zückte ihren Zauberstecken und schleuderte einen grünen Auflösungsstrahl auf das Ungetüm. Doch der zerstörerische Strahl zerbarst beim Auftreffen auf das blaue Leuchten des Korallenpanzers. Ein magischer Rückstoß traf eines der beiden anderen Schiffe und der Kampfeslärm wurde überlagert vom Getöse berstenden Holzes und den Schreien der Matrosen, die sich in Panik von dem sinkenden Schiff stürzten.
„Zauberleuchten“, murmelte Faust betroffen.
Offenbar waren Joe und seine Piraten der Zauberpest ein wenig zu nah gekommen. Unbändige Magie musste die Verwandlung bewirkt und Winters Strahl abgelenkt haben. Grimwardts Schwester kniff düster die Lippen zusammen und flog näher ans Geschehen heran, einen weiteren Zauberspruch bereits auf den Lippen. Grimwardt war für einen Augenblick zu fassungslos, um sie aufzuhalten. Was hatte sie vor? Hatte ihre Magie nicht gerade erst ein Schiff der Hafenwache versenkt? Winter kannte die Gefahren unbändiger Magie!
„Grim!“
Faust wies auf einen der Uferdämme, wo Grimwardt die Verursacher des Hafenbrandes entdeckte: Die Seehexe Sycorax,  ebenso pestverwandelt wie das Schiff, schwebte hoch über der Verwüstung und blies magischen Wind über die entflammten Hafengebäude in Richtung Stadtmitte. Ihre Augen waren hohle Löcher in einem entstellten Korallengesicht. Auf dem Kai unter ihr tobte ein wüster Kampf zwischen dem Rest der Piratenmannschaft und den Soldaten der Stadtwache. Die Piraten waren in der Unterzahl, doch dem Grauen, das die wahnwitzigen Gestalten in den Verteidigern entfachten, hatten die Soldaten nichts entgegen zu setzen.
Faust enthauptete die Seehexe mit einem einzigen Schlag seiner Henkersklinge, ehe er sich Joe vornahm, der wild und wirr mit zwei Scherenhänden um sich schlug. Grimwardt hielt derweil auf zwei Pestberührte mit unnatürlich vergrößerten Mäulern mit zwei Reihen messerscharfer Zähne zu: die Werhai-Zwillinge Ray und Roy. Sie kämpften wie im Wahn, ohne Koordination und Taktik, und nur die Korallenpanzer verhinderten, dass sie gleich beim ersten Schlag zu Boden gingen. Doch selbst als abzusehen war, dass er seinen Gegnern überlegen war, machten sie keine Anstalten sich zurückzuziehen. Plötzlich jedoch, wie auf ein geheimes Zeichen hin, hielten sie inne. Der Priester setzte den Werhaien nach, als sie über einen Anlegesteg zu fliehen drohten, doch sie retteten sich mit einem Sprung ins Wasser. Als er am Ende des Stegs innehielt, erkannte Grimwardt, woher der stumme Befehl gekommen war: Die Sturmhexe hatte begonnen sich in schwerfälligen Kreisen um die eigene Achse zu drehen. Die Bewegung ließ konzentrische Wellenringe durch die Hafenbucht zittern, die das Wasser zu den Dämmen abdrängten. Immer schneller grub sich das unförmige Schiff in die Tiefe, immer schräger ritt es auf den Wellen des Strudels, der nun auch die unversehrte Militärkaracke ergriffen hatte. Winter feuerte unablässig Zauber um Zauber auf den Schlund ab, der sich unter ihr auftat. Doch der Malstrom zog die beiden Schiffe in die Tiefe und die Wellen fluteten die Uferdämme und sogen alles und jeden ins Meer, der sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte. Grimwardt selbst blieb dank des Flugzaubers von den Wassermassen verschont.
„Magie?“, fragte er, als Winter schwebend neben ihm auftauchte. Sie nickte.
Der Priester brummte nachdenklich in seinen Bart hinein. Wenn ein mächtiger Meereszauber die Flucht der Sturmhexe ermöglicht hatte, wer hatte ihn gewirkt? Das Schiff selbst? Was hatte das zu bedeuten? War das Korallenschiff eine Art monströses Meerungeheuer mit eigenem Willen? Konnte die Zauberpest solch weitreichende Veränderungen bewirken?  
Sie kehrten fliegend zu Faust und Miu zurück. Der Kämpfer harrte im hüfttiefen Wasser der sich zurückziehenden Flut. Mit einer Hand umklammerte er einen Vertäuungsring, um nicht von der Strömung davon getrieben zu werden, mit der anderen hielt er den Haarschopf des bewusstlosen Piratenkapitäns über Wasser, den es wie einen nassen Sack zum Meer hinzog.
„Die Verwandlung ist unheilbar“, rief er ihnen entgegen. „Miu hat es versucht.“
„Erledige ihn“, sagte Winter. Ihre Stimme klang matt und erschöpft, doch ohne Bedauern.
Zwiespalt schnitt sirrend durch die Luft.
„Seht mal.“
Winter wies auf den abgetrennten Kopf in Fausts Griff: Mit dem Tod begannen sich die Pestbeulen zurückzubilden, die sein Gesicht in eine Korallenbank verwandelt hatten. Winter beeilte sich den davon treibenden Körper aus dem Wasser zu fischen und mit Fausts Hilfe auf einen der höher gelegenen Dämme zu hieven. Dann zückte sie Schreibfeder und einen Papierbogen und begann die drei eintätowierten Schatzkarten, die auf dem verstümmelten Leichnam sichtbar wurden, auf das Papier zu übertragen. Grimwardt wandte sich schaudernd ab.
„Grimwardt Fedaykin?“
Er hob den Kopf. Aus einer Traube von Wachsoldaten, die mit der Versorgung ihrer Verwundeten und der Bergung der Brand- und Flutopfer beschäftigt waren, hatte sich eine Axtkämpferin gelöst. Das göttliche Symbol auf ihrem Brustharnisch wies sie als Dienerin des Tempus aus.
„Ihr seid es wirklich! Der Erwählte des Tempus!“ Sie riss sich den Schutzhelm vom Kopf, unter dem ein Haarmopp wüster, meersalzverklebter Stoppeln hervorquoll, und sank in eine tiefe Reverenz. „Bitte, Herr, mein Name ist Ulara Axtheft Ich bin die Kaplanin von Narbental-Stadt. Wenn Ihr mir den Segen des Feindhammers erteilen würdet…“
„Gewiss...“ Grimwardt räusperte sich und sprach die rituellen Segensworte über das gebeugte Haupt der Kaplanin. Dem Segen ließ er eine Heilwelle folgen, die alle Überlebenden des Piratenangriffs ergriff, denn der Priester hatte die Erfahrung gemacht, dass die schlichte Erfahrung einer versiegenden Wunde inspirierender war als die Rede des eloquentesten Predigers.
Nachdem er seinen missionarischen Beitrag für diesen Tag geleistet hatte, ließ sich Grimwardt von der Kaplanin zum Fürsten der Stadt Narbental führen. Sie fanden Sir Myrian Buchenwald in einer der Seitengassen, die von der Hafenpromenade abzweigten. Die Flutwelle hatte die Brände in unmittelbarer Nähe zur Bucht gelöscht, doch noch immer standen zahlreiche höher gelegene Hafengebäude in Flammen. Der stämmige Ritter mit dem grausen weißen Haar koordinierte die Löscharbeiten und scheute sich nicht, selbst am Tatkräftigsten mit anzupacken. Der alte Fürst warf nur einen kurzen Blick auf Grimwardt, ehe er ihm mit einer schroffen Handbewegung einen Platz in der Löschlinie zuwies und einen Eimer zum Weiterreichen in die Hand drückte. Grimwardt schmunzelte: Der Mann gefiel ihm.
„Die verschollenen Helden“, rief ihm der alte Haudegen über den Lärm der Löscharbeiten hinweg zu. „Was verschafft uns die Ehre?“
„Der Zufall“, erwiderte Grimwardt. „Wir waren auf Mission in der Anauroch. Die Piraten wüten im Auftrag der Umbranten. Wir fanden einen Brief, der das belegt.“
„Die Umbranten!“, knurrte der Ritter. „Dachte ich es mir doch, dass Netheril dahinter steckt. Das war nicht der erste Angriff der Pestberührten, aber bei weitem der verheerendste. Zum ersten Mal wurde die Stadt selbst angegriffen. Bisher haben diese Halunken sich auf unsere Handelsschiffe beschränkt: eine Drohgebärde, wie mir scheinen will… Telamont zieht die Schlinge der Furcht enger.“
„Wieso Narbental?“, fragte der Kriegspriester. „Wenn Telamont es auf die Talländer abgesehen hat, wieso wählt er das Fürstentum aus, welches am weitesten von der Anauroch entfernt ist?“
Myrian Buchenwald lachte hart und bitter.
„Nun, was glaubt Ihr, Grimwardt Fedaykin vom Schlachtental? Weil wir das schwächste Glied der Kette sind – gebeutelt und von allen geächtet. Und noch dazu haben wir den größten Seehafen der Täler.“ Myrians Vorgänger Lashan hatte vor dreißig Jahren den gewaltsamen Versuch unternommen, die Talländer unter der Vorherrschaft Narbentals zu vereinen. Lashan hatte den Krieg verloren, doch in dessen Wirren war das Land von den Zhentarim besetzt worden, die der Fürst als Söldner angeheuert hatte. Es war Sir Myrian gewesen, der Narbental mit Hilfstruppen aus den übrigen Tälern von den Zhent-Besatzern zurückerobert hatte. Doch der Preis für die Unterstützung ihrer Nachbarn war hoch gewesen: Nach dem Befreiungskrieg hatten die Fürsten der übrigen Talländer das Fürstentum besetzt und aus Vergeltung für die erlittenen Verluste im Lashan-Krieg kaum weniger ausgebeutet als die Zhentarim vor ihnen. Seit einigen Jahren war Narbental wieder unabhängig, doch die langen Jahre der Fremdherrschaft hatten das Land an den Rand des Ruins gebracht.
„Telamont versucht, sich unsere wirtschaftliche Notlage zunutze zu machen“, erklärte Myrian. „Er lockt uns mit Handelsabkommen, um unseren Markt in Netherils Abhängigkeit zu zwingen. Das Imperium ist so verdammt reich, dass er uns den Himmel auf Erden versprechen kann. Schließlich hatte Netheril zehn Jahre lang das Monopol auf alle arkanen Produktionsgüter in Faerûn. Und ich weiß nicht, wie lange es mir noch gelingt, Telamonats Einflüsterungen zu widerstehen – erst recht nach diesen Angriff: Zwei ausländische Handelsfaktoreien sind vollständig abgebrannt, alle Güter futsch – das vertreibt uns unsere besten Investoren. Von unseren eigenen Verlusten ganz zu schweigen. Und ich habe meine Popularität beim Volk eingebüßt: Die Menschen sind die Zeit des Krieges und der Not überdrüssig und Netheril verspricht Frieden und Wohlstand.“
„Dann sind wir also zu spät gekommen“, brummte Grimwardt. „Wie können wir helfen?“
„Uns kann nur der Rat der Talländer helfen“, erwiderte der alte Fürst. „Ohne die Unterstützung der anderen Täler wird sich Narbental Netheril zuwenden. Ich kann nur hoffen, dass die Fürsten die Gefahr erkennen und das Kriegsbeil gegen uns begraben werden. Aber wenn ihr tatsächlich erpicht darauf sein solltet, einem Land zu helfen, dessen Geldspeicher so abgebrannt sind wie diese Spelunke hier, dann knöpft Euch dieses Piratenpack vor! Das letzte, was wir gebrauchen können, ist die Zauberpest in unserer Stadt!“
„Dann sind diese… Pestberührten also ansteckend?“
„Die Pestberührten nicht, nur das Zauberleuchten, wenn man in direkten Kontakt damit kommt.“
„Wer befehligt das Schiff?“, wunderte sich Grimwardt. „Die Pestberührten sind sosehr dem Wahn verfallen, dass ich mir kaum vorstellen kann, dass sie sich um Kaperbriefe und Loyalitäten scheren.“  
Sir Myrian zuckte mit den Achseln. „So wie sie heute gewütet haben, könnte man meinen, Umberlee selbst gebe die Befehle.“

Faust
Am nächsten Morgen in der Vorstadt von Narbental.
Nirgendwo war Narbentals Not so offenkundig wie in den Armenvierteln vor den Toren der Stadt. Dicht an dicht drängten sich hier heruntergekommene Lehmhütten neben kümmerlichen Viehställen und vom Ufer des Flusses drang beißender Fäkaliengestank.
„Hier wohnt Eure Schwester…?“ Befremdet stakste Laguna durch den Unrat. „Erwähnte Winter nicht, dass Eure Familie wohlhabend sei?“
„Meine Familie ist… kompliziert“, murmelte Faust, während er nach dem Wirtshaus Zum Springenden Fisch Ausschau hielt. Ulara Axtheft hatte ihm geraten, in der Söldnerabsteige nach seiner Schwester zu suchen. „Wenn Ihr Claire findet, dann richtet Ihr aus, dass sie gefeuert ist“, hatte die Kaplanin grantig hinzugefügt. „Das ist schon das dritte Mal, dass sie zu einer Wachschicht nicht erschienen ist!“
Nun, da er sah, wie Claire lebte, wurde ihm flau Magen, und er bereute es, Laguna mitgenommen zu haben. Er mochte den tatendurstigen, jungen Sandkämpfer, doch wer wusste schon, in welchem Zustand er seine Schwester hier vorfinden würde. Er warf Laguna einen Seitenblick zu, um festzustellen, ob seine Bemerkung vorwurfsvoll gemeint war, doch der Junge schien seinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Faust ahnte, was der melancholische Zug um seine Augen zu bedeuten hatte.  
„Was läuft da eigentlich zwischen dir und Scarlet?“, fragte er beiläufig.
„Hm?“ Laguna hob irritiert den Kopf und wandte ihn dann eilig wieder auf seine Stiefel, als er Fausts forschen Blick auffing. „Scarlet war nicht immer so… distanziert“, erklärte er dem Schlamm zu seinen Füßen. „Es ist diese Sache mit den Sandfürsten. Sie nimmt das alles so unglaublich ernst, dass sie darüber vergisst, wer ihre wahren Freunde sind… Für den Kampf gegen die Umbranten hat sie sich völlig den Wertvorstellungen der Sandleute verschrieben. Sie hat sogar aufgehört, ihre magischen Fähigkeiten anzuwenden, weil die Bedinen sie für Teufelswerk halten.“
„Was für magische Fähigkeiten?“
„Warum kann ich nicht einfach die Klappe halten!“, Laguna biss sich auf die Unterlippe. „Sagt ihr bloß nicht, dass ich euch davon erzählt habe!… Sie hat Zauberkräfte, doch sie muss keine Formeln oder Gesten dafür anwenden. Es sind auch keine eigentlichen Zauber, sie nannte es einmal… rohe magische Energie. Die Sandleute jedenfalls behaupten, dass das ein Zeichen für eine teuflische oder dämonische Blutlinie sei.“
Faust runzelte die Stirn. „Das ist blanker Schwachsinn! Vermutlich hat sie diese Kräfte, weil sie von zwei herausragenden Hexenmeistern abstammt. Da wäre es fast verwunderlich, wenn sie keinerlei magisches Talent zeigte.“
„Ich weiß“, seufzte Laguna.
Faust klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter.
„Die bekommen wir schon wieder hin!“
Sie waren im Söldnerviertel angelangt. Vor dem Springenden Fisch musste Faust dem Inhalt eines Nachttopfs ausweichen, den eine alte Frau mit griesgrämiger Miene über das Gelände einer Seitentreppe kippte.
„Hey, pass doch auf!“, rief er zu ihr hoch. „Weißt du, wo wir eine gewisse Claire MacLancastor finden?“
„Ich hab‘ ihr doch gesagt, dass Männerbesuche tabu sind!“, geiferte die Alte. „Na was soll’s, wo ihr schon mal hier seid, könnt ihr dem Luder auch sagen, dass sie mir noch zwei Monatsmieten schuldet!“
Seufzend bezahlte Faust die ausstehende Miete und ließ sich von der Gastwirtin das Zimmer zeigen. Er musste dreimal klopfen, ehe er hinter der Tür schlurfende Schritte vernahm. Die Tür wurde einen Fingerbreit geöffnet.
„Na sag schon, wie viel schulde ich dir?“, klang eine schlaftrunkene Stimme von der anderen Seite.  
„Öhm… vielleicht eine Umarmung?“, schlug er vor.
Quietschend vergrößerte sich der Spalt. Einen Augenblick musterte Claire ihn misstrauisch aus zusammen gekniffenen, rotgeränderten Augen. Dann schien ihr Morgenkater mit einem Schlag geheilt.
„Scheiße…. Desmond?!“
„Ich fasse das mal als Ausdruck deiner Freude auf.“
Nachdem sich die Geschwister in die Arme geschlossen hatten, trat Faust zurück, um seine Schwester genauer zu betrachten. Zuletzt hatte er Claire gesehen, als sie ein kleiner Wildfang von zehn Jahren gewesen war, doch die Frau, die ihm nun gegenüber stand, war so alt wie er selbst. Sie hatte Helenas hochgewachsene Figur, doch mit den kantigen Gesichtszügen und den sehnigen, braungebrannten Oberarmen haftete ihr mehr von der derben Raubeinigkeit eines Seemanns an. Sie hielt einen Dolch gezückt, der vermuten ließ, dass sie wenig gute Erfahrung mit frühmorgendlichen Besuchern gemacht hatte. Lagunas höfische Verbeugung quittierte sie mit einem argwöhnischen Stirnrunzeln.
„Wofür hältst du mich, Kleiner?“ Dann wies sie mit einer fahrigen Geste auf das heillose Durcheinander ihres kleinen Mietzimmers. „Setzt euch.“
Faust und Laguna wechselten ein vielsagendes Stirnrunzeln: Zwischen all dem Schrott – den zerbeulten Töpfen, fadenscheinigen Kleidungsstücken, rostigen Waffen und zerfledderten Büchern – hätte nicht einmal ein ausgehungerter Halbling Platz gefunden, ohne sich einen rostigen Nagel in den Hintern zu rammen. Dennoch war Faust erleichtert: Claire schien weniger in Armut als im Chaos zu versinken – ein Familienleiden. Außerdem sah sie aus, als könne sie ein kräftigendes Frühstück vertragen.
„Lass uns ein Gasthaus suchen… Ich lad‘ dich ein.“
„Wie könnte ich da nein sagen?“
Claire füllte eine Waschschüssel, um sich prustend das kühle Nass ins übernächtigte Gesicht zu spritzen. Dann zog sie sich ungeniert vor den Augen der beiden Männer um, was Laguna die Schamröte ins Gesicht trieb.
„Wir sind auf dem Weg hierher der Gastwirtin begegnet“, erklärte Faust, der sich lässig gegen den Türrahmen lehnte. „Ich hab‘ deine Mietzahlungen übernommen.“
„Ich brauche keine Almosen, Desmond“, brummte Claire, während sie sich das nasse Haar trocken rieb.
„Sicher?“ erwiderte Faust mit einem Schmunzeln. „Die Kaplanin lässt ausrichten, dass du gefeuert bist. Du warst heute Nacht nicht da, als die Stadt angegriffen wurde.“
„Die Stadt wurde angegriffen?“ Seine Schwester hielt in der Bewegung inne. Doch dann zuckte sie flapsig mit den Schultern und fuhr mit dem Rubbeln fort. „Muss ich verschlafen haben.“
„Du hast verpennt, wie die halbe Stadt abgebrannt ist? Respekt! Das Zeug muss ich mir auch besorgen.“
„Was soll‘s! Ich bin noch immer über die Runden gekommen. Dann heuere ich eben auf einem der Handelsschiffe an oder versuche mich als Magiergehilfin. Hab‘ das Söldnerdasein ohnehin satt.“
Vielseitigkeit lag offenbar in der Familie.
„Es ist also wahr.“ Claire wandte sich zu Faust um und musterte ihn mit einem schiefen Lächeln. „Der große Held, der in Myth Drannor den Teufelsfürsten besiegte, ist nach zwölf Jahren aus der Versenkung getaucht. Weiß Mutter, dass… naja, dass sie den Grabstein wieder ausbuddeln kann?“
„Ich war bei ihr. Aber ich bezweifle, dass sie mir einen Grabstein gewidmet hat. Sie ist nicht gerade in Jubelstürme ausgebrochen.“
„Sie ist Amok gelaufen, nachdem ihr heißgeliebter Erstgeborener damals aus Rabenklippe verschwand…. Du bist wirklich ein Ork, Desmond!“ Claires derbes Lachen klang aufgesetzt, so als wolle sie damit ihre Unsicherheit kaschieren. Die Rückkehr ihres berühmten Bruders schien die flatterhafte Söldnerin in Verlegenheit zu bringen. „Du hättest sehen sollen, wie sie zum Orden lief und diesen Kelemvor-Priester zur Sau gemacht hat: Stell dir die Kollision zweier Eisberge vor, dann hast du eine ungefähre Vorstellung. Aber sie würde sich eher die Zunge rausreißen, als dir das auf die Nase zu binden, nachdem sie aus Heldengesängen erfahren durfte, dass du noch lebst! Naja, nicht dass ich es nicht nachvollziehen könnte… Scheiße, war ich froh, als ich alt genug war, diesem Tollhaus den Rücken zu kehren.“ Sie spuckte zur Bekräftigung in die Waschschüssel und blickte in die Runde. „Können wir gehen?“

Grimwardt
Kurz darauf im „Roten Reiher“.
Da der Rote Reiher eines der wenigen Gasthäuser war, die vom Feuer und der Flut verschont geblieben waren, war es hier an diesem Morgen proppenvoll. Zum Ärgernis des Wirtes, der sich bei diesem Ansturm bereits die Hände gerieben haben musste, hatte Grimwardt ein Heldenmahl erbetet, das die halbe Stadt verköstigt hätte. Mit Winter und Miu hatte er einen kleinen Fenstertisch ergattert, den sie Faust und seinen beiden Begleitern überließen, als diese im Gasthaus eintrafen. Scarlet und der junge Bedine waren noch nicht zu ihnen gestoßen. Während Fausts Schwester Claire kräftig zulangte, stand Grimwardt am Fenster und betrachtete skeptisch die drei Schatzkarten, die seine Schwester von der Leiche des toten Piratenkapitäns abgezeichnet hatte.
Die erste Karte zeigte einen Ausschnitt der Südküste Tays. Ein paar Seemeilen südlich der Hafenstadt Escalant war eine Insel markiert. Neben die Zeichnung hatte Winter zwei Verse gekritzelt:  „In der Nacht, da Nhalloth im Meer versank/ Küsste Himmelsmund das Meergesicht.“ Die zweite Zeichnung war eine Nahansicht der Insel aus der ersten: Demnach wurde der größte Teil des Eilands von den Ruinen einer alten Stadt eingenommen. Auch auf dieser Karte war ein Kreuz: Es markierte eine Stelle im Hof einer Gebäuderuine im Stadtkern. Um den Rand jener zweiten Karte wanden sich die Worte: „Nur wer falsch herum sieht, dem erschließt sich das Geheimnis von Nhalloth“ und eine Anmerkung Winters wies darauf hin, dass diese Verse im Original in Spiegelschrift verfasst waren. Die dritte Karte schließlich beschrieb den Weg durch ein unterirdisches Labyrinth zu einer Schatzkammer.
Grimwardt begriff nicht, was sich seine Schwester von diesen Karten versprach. Welches Ogerhirn ließ sich das Geheimnis um einen versunkenen Schatz auf den eigenen Leib tätowieren? Die einzige Erklärung, die Grimwardt dafür einfiel, war die, welche Joe selbst ihnen geliefert hatte: Die Karten waren ein schlechter Scherz, ein morbides Augenzwinkern, das an denjenigen adressiert war, dem die Leiche des Piraten in die Hände fiel. Allenfalls würde an dem Ort, der dort beschrieben war, eine Falle auf sie warten, aber gewiss kein Schatz! Und selbst wenn doch, war das ihrer Mission im Dienste Narbentals wenig dienlich, denn bei allem Irrsinn war die Mannschaft der Sturmhexe sicher nicht so hirnrissig, sich an einen Ort zurückzuziehen, zu dem der tote Leib ihres Kapitäns die Wegbeschreibung lieferte! Oder vielleicht doch? Spekulierten sie darauf, dass ein offensichtliches Geheimnis ihre Gegner zu genau dieser Schlussfolgerung führen würde? Andererseits war eines nicht von der Hand zu weisen: Die Tätowierungen waren im Moment ihr einziger Hinweis auf die Sturmhexe, denn die magische Ortung sowohl des Schiffes als auch der verbliebenen Mannschaft war erfolglos geblieben: Das Zauberleuchten lenkte jeden Zauber ab, der auf die Pestberührten traf.
„Nhalloth“, murmelte Grimwardt. „Was soll das sein? Ein Ort? Ein versunkenes Schiff? Wenn es sich dabei um die Stadt auf der Karte handelt, sollte sich leicht feststellen lassen, ob sie auf der markierten Insel liegt.“
„Wenn sich die Insel so einfach finden ließe“, wandte Winter ein. „Ich habe gestern Abend versucht, zu dem Ort auf der Karte zu teleportieren, doch der Zauber ist fehlgeschlagen.“
„Ein magischer Schutzschild?“
„Ich bin mir nicht sicher. Ich stieß beim Zaubern auf keine Barriere. Es war mehr so, als existiere der Ort gar nicht. Und als ich ein paar Matrosen nach einer Insel bei Escalant fragte, behaupteten sie, es gäbe an der tayanischen Südküste keine Inseln.“  
„Vielleicht ist es keine Insel mehr“, klinkte sich Fausts Schwester beiläufig in das Gespräch ein. Als sie die Blicke der anderen auf sich spürte, schluckte sie hastig einen Fleischklops herunter und fügte erklärend hinzu: „Sagtet ihr nicht, die Karte wurde vor der Zauberpest gezeichnet? Der Meeresspiegel ist gesunken, als das Zauberleuchten wütete. Escalant liegt heute meilenweit landeinwärts. Wenn der Ort vorher Teil einer Inselkette vor dem Festland war, kann es doch sein, dass er heute mit der Küste verbunden ist.“
Grimwardt warf Winter einen Blick zu und zog fragend die Brauen hoch.
„Auf die Idee bin ich noch nicht gekommen“, gab sie zu. Dann nahm sie ihrem Bruder die Zeichnung aus der Hand und reichte sie an Claire weiter. „Fällt dir sonst noch etwas dazu ein?“
Claire warf nur einen kurzen Blick auf die Karte, ehe sie den Kopf schüttelte.
„Meine Vermutung kann nicht stimmen. Die Insel ist zu weit vom Festland entfernt und das Meer ist dort zu tief. Deine Matrosen hatten recht, Winter: In dieser Gegend gibt es keine Inseln. Ich kenne die Gewässer; das müsste in der Nähe der Haifischbannmauer sein. Hab‘ vor ein paar Jahren als Gouvernante für einen aglarondesischen Handelsfahrer gearbeitet.“
„Gibt es irgendeinen Beruf, den du noch nicht ausgeübt hast?“, warf Faust scherzend ein.  
„Was ist die Haibannmauer?“, hakte Grimwardt nach. Die Welt der Seefahrer war ihm fremd und ein wenig suspekt. Er gehörte zu den Leuten, die überzeugt waren, dass die Götter den Menschen Flossen gegeben hätten, wenn sie gewollt hätten, dass sie sich die Meere Untertan machten.
„Oh, richtig, ihr ward ja die letzten zwölf Jahre…“ Claire blickte hilfesuchend zu Faust.
„…im Zeitstrom gefangen.“
„Richtig… wie auch immer. Die Haibannmauer existiert schon seit langem: Die Seeelfen von Myth Nantor errichteten sie, um ihr Reich gegen die Gewässer ihrer Feinde, der Sahuagin, abzugrenzen. Die Sahuagin brauchen den Druck der Tiefe und können in der Nähe der Wasseroberfläche nicht überleben, darum reichte die Mauer früher nicht über die Oberfläche hinaus. Kaum ein Mensch wusste überhaupt, dass sie existiert. Erst durch das Absinken des Meeresspiegels wurde die Mauer sichtbar und seither trennt sie die Alambersee von der See des Sternregens.“
„Seeelfen, Sahuagin, Myth Nantor…“, murmelte Faust. „Seit wann gehen die Völker der Meere so freizügig mit ihren Geheimnissen um?“
Claire grinste breit und schien im Stillen über ihren Bruder zu triumphieren. „Narbental ist ‘ne Hafenstadt, Desmond! Diese Dinge gehören hier nicht gerade zur Sorte ‚obskures Wissen‘. Jedenfalls nicht, seitdem die Seeelfen die Oberstadt von Myth Nantor zur freien Handelsstadt erklärt haben.“
Verblüffte Blicke. Grimwardt kannte sie sagenumwobene Unterwasserstadt der Seeelfen nur aus Mythen und Albenmärchen. Bis vor einigen Augenblicken hätte er bezweifelt, dass sie tatsächlich existierte… Die Zauberpest hatte tatsächlich die Welt verändert!
„Myth Nantor wurde an die Oberfläche gespült? Dann ist es möglich, dorthin zu gelangen?“
„Ja, viele Händler, Schmuggler und Piraten haben sich dort niedergelassen, weil die Seeelfen keine Zölle erheben und weil der Elfenschutzwall vor feindlicher Ausspähung schützt… Verdammt raues Pflaster, nach allem, was man hört.“
Die Gefährten wechselten einstimmige Blicke. Wenn es die geheimnisvolle Insel tatsächlich gab und wenn sie in der Nähe der Haibannmauer lag, dann mussten die Elfen von Myth Nantor mehr darüber wissen.
„Sieht so aus, als hätten wir ein neues Ziel!“
In diesem Moment erspähte Grimwardt Scarlets roten Lockenkopf. Mit Sayid im Schlepptau bahnte sie sich suchend einen Weg durch das überfüllte Gasthaus. Der Priester hob die Hand, um sie zu sich zu winken. Die beiden Sandkämpfer hatten ihre Ausrüstung angelegt und waren vollständig gerüstet als wollten sie noch in dieser Stunde in den Krieg oder zumindest auf Abenteuer ausziehen.
„Onkel“, begann Scarlet steif, als sie an ihrem Tisch angelangt war. „Wir brechen auf. Für deine Hilfe und die deiner Freunde möchten wir dir danken, auch im Namen Zarifs.“
Winter konnte nicht entgangen sein, dass ihre Tochter sie aus ihren Dankesworten ausschloss. Doch sie ließ sich nichts anmerken, als sie sich erhob: „Ich kann euch ins Lager teleportieren. Lasst mich nur eben…“
„Nein“, sagte Scarlet scharf. „Auf deine schwarze Magie können wir verzichten!“
„Auf meine…?“
Winter blieb die Spucke weg. Selbst Grimwardt erschreckte die kalte Verachtung, mit der Scarlet gesprochen hatte.
„Ziemlich heuchlerisch, deine Haltung, meinst du nicht?“ Faust hielt die Hände provokativ vor der Brust verschränkt und wippte leicht mit dem Stuhl nach hinten.
„Was soll das heißen?“
Faust kniff die Augen zusammen. „Bist du nicht diejenige, die vor ihren Freunden mit ihren Fähigkeiten hinter dem Berg hält, weil die sie für dunkle Magie halten könnten?“
„Was…?“ Vor Schreck wich Scarlet alle Farbe aus den Wangen und sie warf Laguna einen Blick zu, der ein Feuerelementar in Eis verwandelt hätte. „Laguna, wir gehen!“, sagte sie mit eisiger Stimme. Der junge Halbelf schluckte heftig und schien zu erwägen was schwerer wog: die Schmach, wie ein gescholtener Hund vor seiner Herrin den Schwanz einzuziehen, oder das Donnerwetter, das ihn später erwartete.
„Ihr geht nirgendwohin“, sagte Grimwardt bedächtig. „Ich habe Zarif Abu Sayama mein Wort gegeben und werde Sayid nicht aus den Augen lassen, ehe er sicher und wohlbehalten bei seinem Bruder angekommen ist.“
„Ist das ein Befehl?“, fragte Scarlet rebellisch. „Unterstützt Tempus plötzlich die Schergen Shars?“
Für einen Augenblick herrschte Stille.
Dann donnerte Grimwardt, sodass die Fenster zu erzittern schienen: „JA, DAS IST EIN VERDAMMTER BEFEHL!“
Stille.
Eingeschüchtert wandte seine Nichte den Blick zu Boden. Winter fasste ihren Bruder behutsam am Arm.
„Lass sie gehen“, sagte sie resigniert. „Ein Ritt durch die Talländer… was kann da schon passieren?“
Der Kriegspriester sah Scarlet eine Weile düster an, dann grummelte er einen Fluch und entließ sie wie einen Soldaten mit einer wegwerfenden Handbewegung. Unter den sensationslustigen Blicken der Wirtshausgäste verließen die jungen Leute den Schankraum wie drei Geächtete mit hängenden Köpfen und zittrigen Knien. Als die Tür hinter ihnen zugefallen war, schüttelte Grimwardt den Arm seiner Schwester ab und wandte den Blick zu Boden.  
„Und ist es wahr?“, brummte er mit verhaltener Stimme. „Bist du mit den Sharianern im Bund?“
„Was? Nein!“, rief Winter mit gestelzter Empörung.
Abrupt hob er den Kopf, um ihr in die Augen zu sehen.
„Dann sag mir, warum du in der Wüste deine Magie anwenden konntest!“
„Weil… keine Ahnung, ich…“ Winter schluckte. „Shar hat nichts mit meiner Magie zu tun.“
Er sah keine Lüge in ihren Augen. Oder wollte er sie nicht sehen? Plötzlich tat ihm sein Wutausbruch gegen Scarlet leid. Nicht sie hatte er…
„Wie auch immer“, brummte er. „Wir haben wirklich nicht die Zeit, uns mit diesem Kinderkram aufzuhalten!“
Damit ließ er Winter stehen und stapfte die Treppe zu ihren Quartieren hinauf.
„Scheiße nochmal“, hörte er Claire noch murmeln. „Und ich dachte, unsere Familie wäre verkorkst!“

Winter
Nachts.
Eine kalte Berührung riss Winter aus dem Schlaf. Über ihr schwebte ein Gesicht, das sie aus dunklen Augenhöhlen anglotzte. Joe! Blaue Blitze zuckten über die substanzlose Fratze des Piratenkapitäns, die sich laufend zu verändern schien, bis sie völlig von Pestnarben übersät war. Sie wollte schreien, doch sie brachte keinen Ton hervor. Sie spürte, wie der anklagende Blick der Geisteraugen bis in ihre Haarwurzeln fraß, wie er sie lähmte und dann… Eine körperlose Klaue griff nach ihrem Herzen. Wie aus weiter Ferne hörte sie Grimwardt, der einen Zauber wob. Die Magie stieß den Geist zurück und die lähmende Kälte zog sich aus der Gegend ihres Herzens zurück. Der Piratengeist stieß ein klagendes Kreischen aus, doch er widerstand dem mächtigen Priesterzauber. Eine übernatürliche Kraft presste Winter tiefer in die Kissen und sie spürte wie etwas ihren Kiefer auseinanderbog. Nun schrie sie aus Leibeskräften, doch sie konnte es nicht aufhalten: Der Geist schnellte in die Höhe und zerfloss zu weißem Nebel, der sich in ihren aufgerissenen Mund ergoss und ihr die Kontrolle über Körper und Geist entriss.

„Das ist Wahnsinn“, knurrt Ray unbehaglich und seine Stimme hallt gespenstig von den Wänden der Tropfsteinhöhle wider. Leise gleitet das schmale Beiboot mit dem Kapitän und den beiden Werhaizwillingen durch das Höhlenlabyrinth. Nur das rhythmische Plätschern der Ruder ist zu hören. Der Kapitän lässt sich seine Beunruhigung nicht anmerken, doch auch ihm steht der Angstschweiß auf der Stirn. An jeder Wegbiegung muss er sich zusammenreißen, um der Aura des Unheimlichen zu folgen, die ihn tiefer und tiefer ins Herz des Unterreiches führt. Was sie tun, IST Wahnsinn. Niemand, der bei klarem Verstand ist, wagt sich freiwillig ins Reich des Gedankenschinders. Aber Joe ist nicht bei klarem Verstand – er spürt, wie die Krankheit ihn auffrisst. Es reicht ihr nicht, dass sie seinen Körper in Besitz genommen hat: Nun greift sie nach seinem Geist – und er weiß nicht, wie lange er noch er selbst sein wird. Er hat nichts mehr zu verlieren. Doch er muss wenigstens versuchen, seine Mannschaft zu retten.
Schließlich läuft das Boot auf Grund und sie gehen an Land. Vor einer Höhle sind zwei Grimlock-Wachen postiert, die ihnen die Waffen abnehmen. Joe lässt es geschehen. Er hat nicht einmal einen Dolch im Stiefel versteckt. Er könnte ihn nicht schnell genug ziehen; die Kruste, die sich über seinen Körper zieht, hat seine Hände in  Krebsscheren verwandelt.
Die Wachen führen ihn und seine beiden Gefährten in ein unterirdisches Zauberlabor. Phosphoreszierende Flüssigkeiten, die zwischen eingelegten Körperteilen und dampfenden Tränken vor sich hin dümpeln, spenden dämmriges Licht. Im hinteren Teil der Höhle, ihnen den Rücken zugekehrt, beugt sich die große, schlanke Gestalt des Illithiden, von Schatten umflossen, über einen aufgeschlagenen Folianten. Die düstere Aura ist hier so stark, dass sie Joe die Kehle zuzuschnüren droht.
Joe. Die telepathische Stimme der Kreatur wird von einem sirrenden Fiepen begleitet, das ihm irrsinnige Kopfschmerzen bereitet. Was verschafft Uns die Ehre?
 „Morloch.“ Der Pirat räuspert sich. Trotzdem klingt seine Stimme heiser vor Angst, als er fortfährt. „Meine Mannschaft wurde von der Zauberpest überrascht. Sie hat sogar das Schiff betroffen. Und nun… Ich fürchte, dass das Zauberleuchten langsam den Weg in unsere Gedanken findet. Wenn es stimmt, was man über Euch sagt…. Wenn Ihr über Magie verfügt, die ohne das Gewebe auskommt, dann seid Ihr vielleicht der einzige, der ein Heilmittel kennt.“ Er macht eine Pause. Als die Kreatur noch immer keine Anstalten macht, sich zu ihm umzuwenden, fährt er unsicher fort. „Ich… Ich kann Euch das Geheimnis um die Karten von Nhalloth verraten. Heilt mich und ich gebe Euch den Schlüssel zu den Tätowierungen auf meinem Körper.“
Ohne Hast blättert Moloch mit den drei Tentakeln, die aus seinem Kiefer wachsen, in dem dicken Folianten. Erst als Joe glaubt, es in seiner Gegenwart nicht länger auszuhalten, wendet er sich langsam zu ihm um, doch die obere Hälfte seines Körpers bleibt weiter vom Schatten verdeckt. Kein magisches Wort dringt über seine Lippen, kein Luftflackern kündigt den Zauber an: Plötzlich gehen die Wehaizwillinge zu Boden. Lautlos sacken sie in sich zusammen.
„Bei Umberlee, was…!“
Joe schnellt vor, um dem niederträchtigen Verräter seine Scheren in den Leib zu stoßen, doch ehe er auch nur seine Anschuldigung vorbringen kann, spürt er die Berührung von zwei schleimigen Saugdrüsen an seiner Stirn. Die Augen des Piratenkapitäns erstarren in den Höhlen und seine Glieder erschlaffen. Er wütet gegen die Dunkelheit, die seinen Geist einzunehmen droht, doch er ist zu geschwächt – sein Geist zu zerfressen von der Zauberpest, um den übermächtigen Sog abzuschütteln.
Umberlee ist schon lange nicht mehr Unsere Göttin. Und den Schlüssel zu Nhalloth wirst du Uns so oder so geben, surrt die Stimme, ehe sie ihn verschlingt.

Keuchend sprang Winter aus dem Bett, die Hände bereits zu einer magischen Geste geformt. Doch da waren nur Grimwardt, der das heilige Symbol noch umklammert hielt, mit dem er den Geist vertrieben hatte, und Faust, der mit gezogenem Schwert in ihr Zimmer gestürmt kam.
„Alles in Ordnung?“, brummte Grimwardt.
Sie nickte stumm und ließ sich auf die Bettkante sinken.
„Scheint, als hätten wir ein Problem.“
Sie hob den Kopf. „Warum? Hast du Joes Geist nicht vertrieben?“
„Ich habe nur seine Verbindung zur materiellen Ebene durchtrennt“, sagte der Priester. „Geister können nicht zerstört werden. Meist sind sie gepeinigte Seelen, die eines gewaltsamen Todes gestorben sind. Sie können die Zwischenwelt, die astrale Ebene, nicht verlassen, um in die Stadt der Seelen einzugehen, solange ihre Erinnerung vom Schock ihres Dahinscheidens vereinnahmt wird. Der einzige Weg, einen Geist zu zerstören, besteht darin, das Unrecht wiedergutzumachen, das ihm widerfahren ist… oder von dem er glaubt, dass es ihm widerfahren ist.“
Klang da ein versteckter Vorwurf aus Grimwardts Stimme, weil sie keinen Versuch unternommen hatte, ihren Ehemann vor seinem Schicksal zu bewahren?
„Aber nicht wir haben Joes Schicksal zu verschulden“, sagte sie und berichtete von der Vision, die der Geist ihr eingegeben hatte.
„Hm“, brummte Grimwardt. „Offenbar will Joe dich zum Werkzeug seiner Rache an diesem Morloch machen.“
„Wieso setzt er dann alles daran, mich zu Tode zu erschrecken?“
„Geister denken nicht rational.“
„Jedenfalls erklärt das, wer die Sturmhexe und Joes dem Wahnsinn anheimgefallene Crew befehligt“, klinkte sich Faust in die Unterhaltung ein. „Vermutlich meinte Fürst Xantes den Illithiden, als er schrieb, dass er sich mit dem Kapitän der Sturmhexe getroffen habe. Aber welches Interesse könnte dieser Morloch an den Schatzkarten haben? Joe wäre ein schlechter Pirat, wenn er den Schatz nicht längst selbst eingesackt hätte.“
„Wir müssen herausfinden, was es mit diesem Nhalloth auf sich hat“, erklärte Grimwardt.
Er und Faust waren bald in eine Diskussion vertieft, die Winter nur halbherzig verfolgte. Ihr Blick hing an ihrem Bruder. Den Bruch mit Scarlet hatte sie erwartet. Vielleicht war es so das Beste: Wenn der einzige Weg ihre Tochter zu beschützen, darin bestand, sie auf Abstand zu halten, dann war der eisige Stich, den sie bei Scarlets unversöhnlichen Worten empfunden hatte, ein geringer Preis. Aber Grimwardt… Es waren nicht seine Worte, die ihr Angst einjagten, sondern die Dinge, die er unausgesprochen ließ. Er wich ihr aus – instinktiv schien er zu spüren, dass sie sich verändert hatte und dass diese Veränderung sie entzweien könnte. Als sie ihre erste Seele getrunken hatte, hatte sie an Desayeus‘ Vision gedacht, die sie verhindern musste. Sie musste ihre kleine Familie zusammenhalten, koste es was es wolle. Aber was, wenn Grimwardt herausfände, was sie war? Würde er sie verstoßen? Würde es… konnte es seinen Glauben zerstören? Würde er für sie seinen Gott verleugnen...?
… und einen neuen wählen, der ihn mit einem schwarzen Schwert durch die Wüste reiten lässt?
Plötzlich zog sich Winters Herz zusammen. Sie musste hier raus! Unter dem Vorwand, dass sie müde sei und sich in Fausts Zimmer schlafen legen wollte, verließ sie den Schlafsaal. Sie sprach einen Teleportationszauber, ohne wirklich zu wissen, wohin er sie führen würde…
Sie stand am Strand. Wellen leckten sanft nach ihren Füßen, schwollen an und wieder ab und eine sanfte Brise strich durch ihr Haar.
Meine Insel!
Der Zauber hatte sie auf die Insel im südlichen Sternregenmeer geführt, die Joe ihr zur Hochzeit geschenkt hatte. Winter schloss die Augen und atmete die warme Tropenluft ein. Es beruhigte sie, dass die Insel noch existierte… dass die Zauberpest wenigstens diesen kleinen Teil ihres Lebens unversehrt gelassen hatte…
Ziellos lief sie ein Stück am Strand entlang. Schon von weitem sah sie die beiden Holzstatuen. Aber was war mit ihnen geschehen? Sie zeigten nicht länger die Konterfeis Winters und Joes. Jemand hatte ihre Augen weiß und ihre Haut blau angemalt und ihnen spitze Ohren geschnitzt. Winter seufzte: Offenbar hatten die Eingeborenen neue Götter gefunden – nicht alles war hier beim Alten geblieben. Und was war…? Winter stutzte. Als sie das Monument erreichte, gewahrte sie landeinwärts ein eigenartiges, blaugrünes Licht. Sie teleportierte tiefer hinein ins Dickicht des Inseldschungels, näher an jenes eigenartige Leuchten…
Keuchend ging Winter zu Boden. Es war ihr Zauber – er drohte sich gegen sie zu wenden! In ihrer Vorstellung wuchs er zu etwas Monströsem an, eine Bestie, die sich brüllend ihrer Kontrolle entriss. Vor ihr, zwischen den Bäumen, schwebte eine riesige Erdscholle. Auch dort wuchsen Bäume, doch keine, die sie jemals zuvor gesehen hatte. Sie waren monströs und feindselig wie die Zauberbestie und wie sie schienen sie ganz und gar von jenem blauen Leuchten durchwoben zu sein.
Zauberleuchten!
Bevor die Bestie ihren Verstand vernebeln konnte, floh Winter zurück zum Strand. Sie hielt nicht an ehe sie den Sand unter ihren Füßen spürte und wob noch im Rennen einen Zauber, der sie zurück nach Narbental bringen sollte. Keuchend tauchte sie in der Nähe des Gasthauses wieder auf.
Vorsichtig tastete sie ihren Körper ab, doch ihr schien nichts zu fehlen… Dann gewahrte sie das kleine, sternförmige Mal auf ihrem Handballen.
Ein Pestmal.
« Letzte Änderung: 07. März 2011, 14:49:23 von Niobe »

Winter

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Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #200 am: 07. März 2011, 12:18:10 »
Es gibt nichts besseres, als an einem freien Tag zum Frühstückskaffee ein neues Kapitel vorzufinden. Vielen Dank :-) Morgen besorgen wir übrigens einen Rahmen für unser Kampagnenposter, und dann kommt es ins Treppenhaus...

Nightmoon

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Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #201 am: 07. März 2011, 16:47:18 »
Seeeeeeeeeelfen...
Gefällt mir...wie immer ;)
Oh, und da freue ich mich auch schon wieder auf die kommenden Episoden... Grimwardts kulinarische Reise durch Rabenklippe... :D

Nightmoon

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Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #202 am: 23. März 2011, 19:26:07 »
Na, wat macht denn das nächste Kapitel so?  ::)

Niobe

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Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #203 am: 24. März 2011, 08:21:51 »
Ist gerade im Hafen von Myth Nantor angekommen ;-)

Nightmoon

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Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #204 am: 24. März 2011, 10:54:30 »
ah, dann geht sie da gleich n bisschen spazieren und finanzieren ;)

Nightmoon

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Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #205 am: 05. April 2011, 19:07:32 »
Der Elminster-Roman den ich bei Norma gekauft habe ist leider gar nicht mal so gut. Jedes Kapitel neue Charaktere ist irgendwie blöd... dabei gibt es doch schon so eine kleine Indi-Roman-Reihe die total gut geschrieben ist und so, mit total tollen Helden und trotz höherer Machtverhältnisse als bei Elminster bleibt es die ganze Zeit spannend und gefährlich... frage mich wann diese Reihe endlich fortgesetzt wird... schmacht... :D

Niobe

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Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #206 am: 11. April 2011, 01:57:18 »
Kapitel IV: Krabbensalat

Faust
Eine Woche später auf der Eggenstolz, südwestliche See des Sternregens.
Hüstelnd stolperte Faust aus der Kapitänskajüte. Harte Nacht. Das Blitzen der Morgensonne, das im Osten auf den Wellen tanzte, brannte ihm in den Augen. Außerdem erinnerte sein pochender Schädel ihn unsanft an das halbe Fass Dunkelbier, mit dem er den bitteren Geschmack des Pfeifenkrauts zu betäuben versucht hatte. Dumpf zuckten wirre Bilderfolgen hinter seinen halbgeschlossenen Lidern vorüber: Die roten Gesichter der Matrosen beim Würfelspiel. Kapitän Guinges, der dicke Rauchringe in die Luft paffte. Seine Schwester, die mit jeder verlorenen Runde weniger am Leibe trug… Faust stöhnte auf und hielt sich an der Reling fest, ehe sich das Würgen, das ihn bei dieser Erinnerung packte, mit dem Grummeln in seinem Magen verbünden konnte.
„Auch endlich raus aus der Koje?“, dröhnte es aus Richtung des Bugs. Faust hob den Blick, senkte ihn jedoch schnell wieder, als der Schwindel ihn packte. Doch er musste nur dem stechenden Geruch des Pfeifenkrauts folgen, um Kapitän Guinges zu entdecken, der am Vordersteven stand und aufs Meer hinausblickte. Der alte Seebär paffte ihm einen Zug stinkende Luft ins Gesicht und klopfte ihm gönnerhaft auf die Schulter. „Hehe, hab‘ ich’s dir nich gesacht, Junge? S-tattlicher Bursche biste, aber an‘n alten Guinges kommste nich ran!“
„Ich verbeuge mich vorm Meister.“ Gerade noch rechtzeitig entsann sich Faust des osttalisischen Seemannsdialekts, den er sich von den Narbentaler Matrosen abgekupfert hatte, um dem Kapitän einen „Mann vom Fach“ vorzugaukeln. „Des Lantaner war da wohl doch was s-tärker als wie ich‘s gewohnt bin, nä?“
Die linguistische Maskerade war ein spontaner Einfall gewesen, den er allmählich zu bereuten begann. Da Myth Nantor gegen Teleportationen geschützt war, waren die Gefährten in die Stadt Sopra in Turmish gereist, um von dort aus die Überfahrt in die Elfenstadt anzutreten. Doch seit Turmish von einer Flüchtlingswelle aus den pestverseuchten Gebieten des Vilhongriffs heimgesucht worden war, herrschte im einst so gastfreundlichen Sopra eine fremdenfeindliche Stimmung. Winters fehlgeschlagener Versuch eine unfreundliche Torwache zu bezaubern, hatte sie in Konflikt mit der Stadtwache gebracht. Da kein Schiffsherr sich bereit erklärt hätte, vier stadtbekannte Unruhestifter auf seinem Schiff zu verstecken, hatten sie improvisieren und sich eine neue Identität zulegen müssen. So war es zu jener denkwürdigen Begegnung mit Kapitän Guinges gekommen. Seit Faust dem alten Haudegen aus Eggental auf dem Markt von Sopra getroffen und ihm weisgemacht hatte, etwas von Halblings-Pfeifenkraut zu verstehen, waren die beiden „dicke“ – nun ja, Faust war vor allem dicke zugedröhnt, seitdem er jede Nacht auf See in der verqualmten Kajüte des Kapitäns verbrachte. Der unerschöpfliche Vorrat an Dunkelbier aus der Familienbrauerei des Kapitäns machte die Sache nicht besser. Doch die preiswerte Reise und der Umstand, dass Faust seiner Schwester eine Stelle als Bootsmaat auf der Eggenstolz hatte ergattern können, machten den allmorgendlichen Kater wett.
„S-pürste, wie windstill es geworden is, Junge?“, paffte der alte Seebär. „Das isse Magie vonnie Elfen. Nu simma bald am Ziel.“
Faust stützte sich am Vorsteven ab und blickte aufs Meer hinaus. Kein Luftzug ging und der Himmel war so wolkenklar wie an einem Hochsommertag. Vermutlich ein Effekt des Mythals, der die Seeelfenstadt umgab.
„Puh, du muffelst ja wie ‘ne alte Halblingssocke.“
Mit gewohnt miesepetriger Laune erschien Grimwardt an Fausts Seite. Hinter ihm tauchten Winter und Miu auf. Winter hatte dunkle Ringe unter den Augen und zog sich fröstelnd ihren Umhang um die Schultern. Faust glaubte nicht daran, dass Joes Geist der Grund für ihre mysteriöse Krankheit war, wie sie behauptete. Der allnächtliche Geisterspuk hatte für allerlei neues Seemannsgarn an Bord der Eggenstolz gesorgt, doch für die Helden stellte der Geist keine wirkliche Gefahr dar und die Schrecken der ersten Nacht wichen langsam lästiger Routine. War Winters Unpässlichkeit vielleicht ein erstes Anzeichen der Zauberpest? Zwar hatte die Kaplanin von Narbental ihnen versichert, dass ein so kleines Zaubermal wie jenes, das Winter von ihrem nächtlichen Alleingang davon getragen hatte, keine große Gefahr darstellte, doch was mochte sonst hinter ihrem Leiden stecken?
Es dauerte nicht lange, ehe sich in der Ferne eine Luftspiegelung abzeichnete. Ein prismatisches Gebilde aus Lichtbögen und Farbfontänen. Erst als sie näher an das Schimmern herankamen, erspähte Faust die Stadt unter dem Schleier aus Licht. Doch es war keine Stadt wie Faust sie je unter Menschen oder Elfen gesehen hatte. Elfische Hochmagie hatte Myth Nantor aus einem einzigen riesigen Korallenriff erwachsen lassen: Farbenprächtige Polypen und permuttfarbene Muschelkolonien überwucherten Hausfassaden aus Korallenskeletten. Wunderliche Meeresgezüchte überspannten Straßenschluchten aus Kalkstein. Und über allem lag ein Dunstschleier aus feinem, magischen Sprühregen, der das Korallengezücht am Leben hielt und jenen Schleier aus Regenbögen wob, der die Stadt wie ein Schutzschild umspann. Faust erspähte weder Wachpatrouillen noch Verteidigungsringe, doch Kapitän Guinges erklärte, dass nur etwa ein Drittel der Seeelfenstadt aus dem Meer ragte. Jener Teil wurde von den Handelskompanien der menschlichen Seefahrernationen verwaltet, die in der Stadt Faktoreien und Lagerhallen unterhielten. Die elfische Unterstadt war für die meisten Menschen unzugänglich und verfügte über ihre eigenen Verteidigungssysteme.
Der Kapitän gesellte sich zu seinem Steuermann und umsegelte die Stadt in weitem Bogen, um nicht auf den verborgenen Teil des Korallenriffs aufzulaufen. Das Schiff hielt auf den Hafen von Myth Nantor zu. Der Hafengestank und die fiebrige Geschäftigkeit holten die Mannschaft der Eggenstolz mit entzaubernder Nüchternheit in die Wirklichkeit zurück. Die schwer bewaffneten Söldnertrupps, die über die Handelsflotten und ihre Ladungen wachten, ließen vermuten, dass es hier nicht immer so friedlich zuging wie die paradiesische Umgebung vermuten ließ.
„Ich sehe was, was du nicht siehst“, brummte Grimwardt an seine Schwester gewandt.
Winter folgte seinem Blick und machte große Augen.  
„Das ist… mein Boot!“
Verblüfft beobachtete Faust wie der Anblick eines kleinen Einmasters, dessen Segel ein schwarzes Blumenemblem zierte, Winters mysteriöse Krankheit mit einem Schlag heilte. Ihre Augen begannen zu leuchten, ihre Wangen röteten sich vor Freude und aller Trübsinn wisch aus ihren Zügen. Seit sie aus der Bastion der ungeborenen Seelen zurückgekehrt waren, war die Frage, was mit Winters Diebesgilde in Hlondeth geschehen war, unausgesprochen geblieben. Da Hlondeth von der Zauberpest von der Landkarte getilgt worden war, hatten sie angenommen, dass die Schwarze Dahlie mit der Stadt untergegangen sei. Doch weder Faust noch Grimwardt hatten diesen Verdacht auszusprechen gewagt. Irgendetwas stimmte nicht mit Winter – warum also in neuen Wunden stochern, wenn die alten noch nicht verheilt waren?
Offenbar hatten sie sich gründlich getäuscht!
Zu ungeduldig, um zu warten, bis die schwerfältige alte Eggenstolz vor Anker ging, ergriff sie ihre Gefährten bei den Händen, teleportierte auf den Anlegesteg und bahnte sich, ihre überrumpelten Freunde im Schlepptau, einen Weg durch das Gewusel von Söldnern und Hafenarbeitern. Grimwardt brummte eine Verwünschung, da Winters ungestüme Teleportation ihn beinahe Hafenwasser hätte schlucken lassen. Doch Faust entging nicht, dass Winters Verwandlung auch ein wenig auf ihren Bruder abgefärbt hatte.
 „Bregan!“
Der nachlässige Bootswächter fuhr mit einem erschrockenen Schnarcher von seiner Hängematte auf und riss die Armbrust in die Höhe, die ihm während seines Mittagsschläfchens in den Schoß gesunken war.
„Herrin… Winter?!“ Er ließ von der Waffe ab und rieb sich ungläubig die Augen. „Zwick mich der Krebs, Ihr seid es wirklich!“
„Zuverlässig wie eh und je!“, spottete sie, während sie leichtfüßig an Deck kletterte, um den alten Halunken in die Arme zu schließen.
Verlegen kratzte sich Bregan am Kopf.  
„Ihr seid noch am Leben! Und schöner denn je!“
„Du bist auch… noch am Leben. Erzähl, wie es dir ergangen ist!“ Winters Stimme überschlug sich vor Freude. „Wie bist du der Zauberpest entkommen? Und was ist mit den anderen geschehen?“
Bregan begann zu erzählen: „Als uns in Hlondeth die ersten Berichte aus Halrua erreichten, rief Tigil den Kriegsrat zusammen… äh, so nannte er den inneren Gildenzirkel. Eigentlich traf Tigil nach Eurem Verschwinden immer alle Entscheidungen allein, aber Ihr kennt ihn ja: Im Zweifelsfall tragen immer die anderen die Verantwortung! Er entschied sich dafür, den Vilhongriff zu verlassen. Eigentlich wollten wir nach Damara segeln. Tigil hatte dort ein paar Kontakte geknüpft. Aber Kapitän Folocer - ich bezweifle, dass er zuvor wirklich schon mal am Steuerrad eines Schiffes gestanden hatte - kam völlig vom Kurs ab. Irgendwo in der Nähe der Pirateninseln gerieten wir in einen Sturm, der vier Tage andauerte. Wir waren halb verdurstet und völlig am Ende, als wir von Seeelfen gerettet wurden. Wir waren nicht die einzigen, die sie nach der Zauberpest aus dem Wasser fischten und hierher brachten….“
Bregan hielt inne, als sich die Bodenluke öffnete. Aus einem kinnlosen Gesicht, so zerknittert wie eine alte Morchel, blinzelten zwei kleine tränende Augen ins Licht.  
„Brutus!“ Ein Hauch von Beklommenheit streifte Winters Blick, als sie den altersschwachen Ork erkannte, doch ein heiteres Lächeln wusch ihre Bestürzung sogleich hinfort.
„Dachte, ich hätte was gehört“, tatterte der altersschwache Ork fahrig. Er schien Winter nicht zu erkennen.
„Er ist fast blind und ohne seine Hörmuschel kann er nicht mal zwischen einem Möwenschrei und einem Steinschlag unterscheiden“, erklärte Bregan. „Er ist jetzt über Dreißig, ein stattliches Alter für einen Ork. Tigil hat das Boot restaurieren lassen und lässt ihn hier seinen Lebensabend verbringen.“
„Tigil ist auch in der Stadt?“
Bregan lachte und deute auf die Handelsflotte, die gleich neben Winters Hausboot vor Anker lag. Auch die Segel der vier dreimastigen Galeeren zierte das Emblem der schwarzen Dahlie.
„Tigil gehört die Stadt!“

Winter
Kurz darauf in der Faktorei der Handels- und Aktiengesellschaft „Schwarze Dahlie“.  
 „Winter! Welch freudige Überraschung! Dein Anblick versüßt meinen Tag!“
Mit etwas nervös anmutender Euphorie kletterte Tigil hinter dem aufwendig verzierten Monstrum von Alabastertisch hervor, der die Hälfte seines Arbeitszimmers einnahm. Immerhin schien seine Wiedersehensfreude nur so weit geheuchelt, wie er fürchten musste, dass Winter gekommen war, um ihr Boot zurückzufordern. Sie unterdrückte ein Niesen, als sie von der betörenden Duftwolke erfasst wurde, die den Halbling umwaberte. Passend zu einem himmelblauen Sakko trug er blaue Laschenschuhe, die in hautengen Strümpfen steckten (was die frappierende Ähnlichkeit zwischen seinen dürren O-Beinchen und den gedrechselten Beinen des Arbeitstisches unterstrich). Sein karottenrotes Haar türmte sich über seinem Kopf zu einem Gebilde auf, das einem explodierenden Kürbis glich. Und auch die pompöse Einrichtung des Arbeitszimmers ließ vermuten, dass Tigil nicht viel auf vornehme Zurückhaltung gab.
„Tigil!“ Winter war nicht nur metaphorisch geblendet von all dem Schnickschnack. „Meinen aufrichtigen Respekt, du bist… ganz offenbar ein großer Mann in dieser Stadt!“
Dem Halbling schwoll die Brust.
„Hehe, nicht nur in dieser Stadt!“ Tigil klatschte zweimal kurz in die Hände, woraufhin Diener mit Getränken und exotischen Appetithäppchen anrückten, um die Gäste zu bewirten. „Was gibt es Besseres als einen zollfreien Warenumschlagsplatz! Schätze, die Spitzohren werden irgendwann spitzkriegen, was sie sich hier durch die Lappen gehen lassen, aber bis dahin ist diese Stadt das reinste Steuerparadies! Und meine Investoren gewähren großzügige Kredite, solange ich einmal im Jahr eine saftige Dividende ausschütte. Ich handele mit allem, was sich zu Geld machen lässt! Magie, Rohstoffe, Textilien, Skl… äh Schlachtrösser. Außer in Myth Nantor habe ich noch Niederlassungen in Damara und Tay und gerade lasse ich eine neue Flotte bauen, um nach Süden zu expandieren!“
Winter verstand nur die Hälfte von all dem kaufmännischen Kauderwelsch, doch sie vermutete, dass der neumodische Hokuspokus in erster Linie dazu diente, von Tigils brisanteren Geschäften abzulenken. Der findige Schurke hatte schon immer ein Talent dafür gehabt, sich aus der Affäre zu reden.
„Wie ich sehe, bist du ein rechtschaffener Mann geworden!“
Sein aalglattes Geschäftsführer-Lächeln bestätigte Winters Vermutung. Mit schlecht geheuchelter Diskretion stieß er sie an und raunte mit einem Kopfrucken in Fausts Richtung: „Und deine… Abenteuersache läuft gerade nicht so gut?“
„Oh, Faust riecht für gewöhnlich nicht wie ein Yeti“, beeilte sich Winter das ungepflegte Auftreten ihres Gefährten zu entschuldigen. „Ihm ist nur das Pfeifenkraut ein wenig zu  Kopf gestiegen.“
„Nun, da lässt sich Abhilfe schaffen!“ Tigil zog einen goldenen Schlüssel aus seiner Westentasche und warf ihn Faust zu. „Ich habe ein Badehaus, nicht weit von hier“, prahlte er beiläufig. „Brutus!“ Der Halbork-Wächter, der vor der Tür Wache gestanden hatte, sah zu ihnen herein. „Das ist Brutus Junior. Er wird Euch begleiten. Nur keine Scheu, die Einrichtung wird von zwei reizenden jungen Halblingsdamen betreut, die sich gerne um Euch bemühen werden.“
„Hm, ich bin jedenfalls überzeugt, dass sie sich gerne um Euch… bemühen“, bemerkte Faust . Doch er beschwerte sich nicht, als der Halbork ihn mit einer einladenden Geste aus dem Zimmer komplementierte.
Als die Tür hinter ihnen zuschwang, stieß Winter den Halbling aufgeregt an. „Brutus Junior? Ist das etwa…“
„Sein Sohn, ja“. Tigil seufzte rührselig. „Guter Mann, Brutus, guter Mann…“ Dann räusperte er sich und sein verklärter Blick wich wieder dem geschäftstüchtigen Saubermannlächeln. „Dann läuft es also gut? Hättet ihr Interesse, in mich zu investieren? Wirklich, es lohnt sich! Und Eure Namen würden sich auf meinem Banner wirklich gut machen. Da wir gerade dabei sind - ein Rat vom Profi: Ihr solltet euch unbedingt einen Heldennamen zulegen! So etwas wie die Ritter des Lichts oder die Schrecken der Meere, wirklich, bei eurem Grad an Berühmtheit…“
„Ähm, Tigil“, unterbrach Winter den Redefluss des Halblings. „Eigentlich sind wir hier wegen eines Auftrags. Wir…“ Sie überlegte, wie viel sie dem findigen kleinen Betrüger anvertrauen konnte und entschied sich für: „Wir sind hier, um Informationen über die Haibannmauer zu sammeln.“
„Oh.“ Es klang enttäuscht. „Nun… Die Seeelfen bleiben für gewöhnlich unter sich. Aber ihr könnt es mal in Zephyrs Rast am Südkanal versuchen. Ein Teil des Schankraumes reicht hinunter in die Unterstadt und ist bei Ebbe wasserleer. Dort trifft man an und wann auf Mitglieder der Aluendár.“
Tigil lud sie ein, ihn in die Stadt zu begleiten, solange sie auf Faust warteten. Ein Angebot, das Winter dankend annahm. Mit einem länglichen Elfenboot, das der Halbling „Gondel“ nannte, glitten sie durch die schattigen Wasserschluchten der Korallenstadt. Winter lauschte nur halbherzig Tigils ausschweifenden Prahlereien, während sie sich von der Schönheit der Elfenstadt bezaubern ließ. Der Wasserschleier formte immer neue Bilder aus Licht und dann und wann enthüllten magische Lichter in der Tiefe einen Teil der verborgenen Unterstadt. Doch Winter wurde jäh aus ihren Träumereien gerissen, als die Gondel am Marktplatz anlegte. Wie schon am Hafen herrschte auch hier ein äußerst raues Klima, das einen scharfen Kontrast zu der friedlichen Umgebung bildete. Söldnertrupps lagerten im Schatten der Marktstände und die Pulte der Geldverleiher wurden von wahren Armeen von Leibwächtern bewacht. Sogar einige Kunden waren mit Begleitschutz erschienen und bewaffnete Streitigkeiten waren an der Tagesordnung. Das Angebot reichte von kulinarischen Spezialitäten über magische Güter und Waffen bis hin zu Rauschmitteln und Giften. Interessiert betrachtete Winter gerade die Auslagen eines Magiestandes, als die Verkäuferin sie ansprach.
„Verzeiht?“
Winter sah auf. Rote Robe. Kahlrasierter Schädel mit arkanen Tätowierungen. Eine Rote Magierin von Tay. Verdammte Halsabschneider! Gerade noch erhaschte sie einen Blick auf ein blaues Leuchten, das sich aus den Augen der Magierin verflüchtigte. Offenbar teilte sie ihre Kundschaft anhand ihrer Besitztümer in Gehaltsstufen ein und ihr einladendes Lächeln verriet, dass sie gerade einen besonders dicken Fisch am Haken glaubte. Eilfertig wob sie einen kleinen Zauber, der über der sichtbaren Marktauslage eine Auswahl an mächtigeren Gegenständen erscheinen ließ.
„Euer Geschmack scheint mir ein wenig exquisiter als der des gelegentlichen Magieanwenders“, flüsterte die Magierin mit einem verschwörerischen Augenzwinkern.
Winter wollte gerade zu einer ablehnenden Erwiderung ansetzen, als ihr Blick auf ein magisches Buch in einem violetten Samteinband fiel. Als sie die Hand danach ausstreckte, schlug ihr ein verheißungsvolles Knistern mächtiger Magie entgegen.
„Ah, eine gute Wahl! Wenn mich meine Intuition nicht täuscht, dann seid Ihr eine wilde Magierin, eine Hexenmeisterin, wie man allgemeinhin sagt, nicht wahr? In diesem Fall wird dieser Leitfaden Euch zu ungeahnten Einsichten in das Wesen der Magie verhelfen!“
Winter leckte sich über den Gaumen. Plötzlich war ihr Mund ganz trocken. Sie hatte von solchen Büchern gehört! Sie waren sehr selten, weil es nur eine Hand voll Magiern gab, die fähig waren, sie herzustellen. Sie räusperte sich.
„Wie viel?“, fragte sie so desinteressiert wie möglich.
Dennoch blieb ihr bei dem Preis, den die Tayanerin ihr nannte, die Spucke weg.
„Lasst mich darüber nachdenken.“
Nicht, dass sie einen solchen Betrag in letzter Zeit auch nur zu Gesicht bekommen hätte! Doch sie kannte da jemanden, der sich ein kleines Vermögen erschlichen hatte… Sie fand Tigil bei den Anlegestellen, wo Faust und Brutus soeben eingetroffen waren. Mit viel rührseligem Gejammer über die Zeiten, da man hochrangige Helden noch mit barem Geld entlohnt hatte, und zahlreichen Verweisen auf ihre gemeinsame Zeit in Hlondeth trug sie dem Halbling ihr Anliegen vor. Tigil ließ seine ehemalige Gildenherrin ein wenig zappeln, indem er sie mit dezenter Süffisanz darauf hinwies, dass sie ihn bei ihrem letzten Treffen noch als Galionsfigur am Bug ihres Schiffes hatte aufknüpfen wollen. Doch schließlich hakte er sich versöhnlich bei ihr ein und tätschelte gönnerhaft ihren Arm.
„Meister Tigil macht alles möglich!“, sagte er großspurig. „Für zehn Prozent Zinsen, zahlbar innerhalb eines Jahres, plus der Überschreibung deines Hausbootes an mich, bekommst du die Moneten sofort bar auf die Hand… äh, das heißt, sobald Brutus bei meinem Schatzmeister war. Ein wahres Freundschaftsangebot! Darf man fragen, was du mit der Kohle zu erwerben gedenkst?“
„Och, nur so ein Buch…“
„Ein Buch?!?“ Tigil fiel aus allen Wolken. „150.000 Kröten für ein Buch? Ich glaube, mir wird schlecht.“
Der Halbling war tatsächlich ein wenig grün um die Nase geworden. Vergnügt zog Winter ihn weiter und bot an, ihm auf den Schrecken in Zephyrs Rast einen Zwergenschnaps auszugeben. Gemeinsam steuerten sie das Gasthaus an. Tigil hatte nicht zu viel versprochen: Die elfische Taverne wartete mit dem ungewöhnlichsten Schankraum auf, den Winter je zu Gesicht bekommen hatte. Der fensterlose Saal mutete wie eine Tropfsteinhöhle an. In den feuchten, glitzernden Wänden spiegelte sich das magische Lichtermeer, das sich über die Tische auf der Galerie ergoss, an denen menschliche Händler und anderes Landvolk speiste. Noch bemerkenswerter jedoch war der Großraum: Pfützen auf dem Boden erinnerten daran, dass dieser Teil der Taverne bei Flut überspült war. In kreisrunden Becken, die randvoll mit Wasser gefüllt waren, das brodelnde Blasen warf, saßen Seeelfen bei Speis und Trank beisammen. Die ersten Seeelfen, die Winter hier in Myth Nantor zu Gesicht bekam!  
„Warum lassen die sich bei lebendigem Leib kochen?“, fragte Faust verständnislos.
„Das Wasser in den Sprudelbecken ist nicht so heiß wie es aussieht“, dozierte Tigil weltmännisch. „Die magischen Blasen verursachen ein angenehmes Kribbeln. Bei den Spitzohren haben diese Dinger Tradition.“
„Ich glaube, ich mag diese Seeelfen“, grinste Faust und schlenderte neugierig auf eine der sprudelnden Sitzecken zu.
„Ohne mich“, brumme Grimwardt. „Ich schwör‘ meinem Gott ab, ehe ich mich in eine Wasserschüssel setze, die mich am Hintern kitzelt!“
Tigil pflichtete dem Kriegspriester bei und Miu weigerte sich wie meistens etwas zu tun, das ihr womöglich Spaß bereiten konnte. So war Winter die einzige, die Faust in den elfischen Teil der Taverne folgte. Als sie ihn in dem Gedrängel fand, das zu dieser Mittagsstunde in Zephyrs Rast herrschte, lehnte er bereit mit geschlossenen Augen und seligem Gesichtsausdruck in einem der Becken und ließ sich von den sprudelnden Bläschen berauschen. Weniger berauscht waren die drei Seeelfen, die seinetwegen gezwungen waren enger zusammenzurücken. Die beiden Krieger packten nach einem raschen Augenwechsel ihre Speere und verließen empört die Sitzecke. Die Druidin dagegen betrachtete ihr Gegenüber mit einer Mischung aus Befremdung und Neugier. Ihre Haut war blass und durchscheinend, jedoch so reich an feingestochenen Tätowierungen, dass sie blau wirkte. Beim Sprechen vibrierten die beiden breiten Schlitze, die sich schräg über ihre Kehle zogen – ihre Kiemen. Die großen Augen der Seeelfe waren von einem tiefen, glanzlosen Blauschwarz, ebenso wie ihr dichtes Haar, das ihr in schmal geflochtenen Zöpfen über die unbekleidete Brust fiel. Und zwischen ihren langen, schmalen Fingern spannten sich Schwimmhäute.  
„Dann ist es also wahr, was man sich über die Menschen erzählt?“ Ihre Stimme war dunkel und rau und sie sprach akzentfrei, doch mit einer ungewöhnlichen Melodie. „Ihr besitzt weder Anstand noch Manieren.“
Ihre Augen waren voller Ernsthaftigkeit auf Faust gerichtet und nur ein feiner Zug um die Mundwinkel wies auf den Hauch von Ironie hin, der in ihren Worten mitklang.
„Nö, ich wollte nur die Spreu vom Weizen trennen“, erwiderte Faust augenzwinkernd und wohlwissend, dass sie die landwirtschaftliche Metapher nicht verstehen würde. Sie runzelte leicht die Stirn, ergriff jedoch zögernd seine Hand, als er sie ihr zur Begrüßung reichte. Nun wagte auch Winter, sich zu den beiden in die Sitznische zu gesellen. Ein wenig verlegen tauchte sie in voller Abenteurermontur in das Sprudelbecken. Das massierende Rütteln der warmen Strömungen, die das Wasser zum Sprudeln brachten, war ein wenig gewöhnungsbedürftig und nicht eben appetitanregend, fand Winter. Aber fraglos war es in anderer Hinsicht anregend…  
Faust begann mit einigen unverfänglichen Themen zur seeelfischen Kultur und ließ sich von der Elfe in kulinarischen Fragen beraten. Sie hieß Yluné und war in Begleitung eines Trupps von Aluendár-Kriegern in der Stadt, die gegen einen feindlichen Sahuagin-Stamm ins Feld zogen. Schließlich wagte Winter, sie nach der geheimnisvollen Insel in der Nähe der Haibannmauer zu fragen.
„Es gibt dort keine Inseln“, erklärte Yluné. „Der östliche Ozean ist sehr tief. Aber ich habe Aluendár-Krieger, die an der Haibannmauer stationiert waren, von einem geheimnisvollen Flecken Land sprechen hören. Eine Insel, die nur bei Vollmond erscheint. Wir nennen sie darum tol-silvéin, die Vollmondinsel.“
Das klang nach dem perfekten Versteck für einen Piratenschatz! Und es erklärte, warum Winters Zauber die Insel nicht gefunden hatte.
„Gibt es auf der Insel eine Stadt namens Nhalloth?“
„Das weiß ich nicht. Davon erzählen die Sagen der Aluendár nichts. Eine elfische Stadt kann es nicht sein. Das Wort klingt eigenartig auf meiner Zunge.“
„Wie lange ist es hin bis zum nächsten Vollmond?“
Die Druidin rechnete stumm nach und erwiderte dann: „Einundzwanzig Tage, den heutigen nicht mitgerechnet.“
Genug Zeit, um dem Geheimnis der Schatzkarten auf die Schliche zu kommen…  

Faust
Sieben Tage später, nördliches Grenzgebiet der Alu‘Tel’Quessir.
Geduldig wartete Faust, bis Yluné die rituelle Zeichnung, die seine rechte Gesichtshälfte bedeckte, mit einem Schutzzauber überzogen hatte, der verhindern sollte, dass der Ozean die elfischen Symbole sogleich wieder hinfort wusch. Ein letztes Mal betrachtete die Druidin kritisch ihr Werk, dann erklärte sie feierlich: „Nun bist du ein Sha’Quessir, ein Freund meines Volkes.“
Anerkennend klopften die Aluendár-Krieger, die für das Initiationsritual mit ihnen an Land gekommen waren, dem frischgebackenen Elfenfreund auf die Schulter. Faust hatte geglaubt, dass es eine Erleichterung sein würde, nach vier Tagen unter dem Meer endlich wieder die Sonne zu Gesicht bekommen, doch das Gegenteil war der Fall. Seine Augen brannten und tränten ohne Unterlass nach der langen Zeit im Dunkeln und seine aufgequollene Haut begann trotz Ylunés Schutzzaubern an einigen Stellen zu nässen. Doch das war es wert gewesen!
Sie hatten es nicht besonders eilig gehabt, mehr über Nhalloth und den Illithidenkapitän herauszufinden. Schließlich blieb ihnen bis zum nächsten Vollmond noch genug Zeit. Die Gefährten waren also fürs erste in Myth Nantor geblieben. Winter hatte sich in das Buch vertieft, das sie auf Pump gekauft hatte. Indessen hatte Tigil Grimwardt unter seine Fittische genommen, um ihn mit etwas vertraut zu machen, das er Kontoführung nannte, und mit dem es dem Priester angeblich möglich sei, „die Effizienz der Abtei zu steigern“, wie es Meister Kürbiskopf zu nennen pflegte. Was auch immer das bedeuten mochte, Grimwardt schien tatsächlich einen Narren an Tigils Kaufmannssülze gefunden zu haben. Und Miu war ganz verzaubert von der mysteriösen Schönheit der Korallenstadt. Faust dagegen drohte vor Langeweile zugrunde zu gehen. Am Tag nach ihrem Treffen in Zephyrs Rast hatte er Yluné wiedergetroffen und sie hatte ihn in die geheimnisvolle Unterstadt entführt. Als sie mit ihrem Kriegertrupp nach drei Tagen abreisen musste, hatte er sich kurzentschlossen Winters magisches Amulett des Wasseratmens geborgt und war ihnen in die Tiefen des Seeelfenreiches gefolgt.
Die Aluendár waren ausgesandt worden, einen Trupp Sahuagin-Räuber zur Strecke zu bringen, die im Grenzgebiet einige Seeelfen-Dörfer überfallen hatten. Der Krieg zwischen Seeelfen und Sahuagin währte seit Jahrtausenden. Frieden, hatte Yluné Faust erklärt, konnte es zwischen ihren Völkern nicht geben, dazu reichten die Wurzeln ihrer Fehde zu tief. Sie hatte ihm von den grausamen Opferriten des Fischvolks erzählt. Für ihre blutdürstenden Götter opferten ihre Priester nicht nur elfische Sklaven, sondern sogar Mitglieder ihrer eigenen Gemeinschaft. Doch Faust hatte die Aluendár Rache für die verwüsteten Dörfer nehmen sehen und in Sachen Grausamkeit standen sie ihren Erzfeinden in nichts nach. Im Lager der Räuber hatte der Trupp befruchtete Eier gefunden. Die Elfen hatten die ungeborenen Kinder der Sahuagin ohne Vorbehalte zertrümmert. Ein einziges Frischgeschlüpftes hatten sie verschont und in ein nahgelegenes Elfendorf gebracht. Yluné hatte erklärt, dass ein Fluch auf den Sahuagin lastete, der ihre Kinder nicht nur die Kultur sondern auch die Gestalt des Feindes annehmen ließe, wenn sie unter seinesgleichen aufwuchsen. Im Geheimen hatte Faust gedacht, dass die Sahuagin somit allen Grund hatten, die Elfen zu verteufeln. Doch es lag ihm fern, irgendeine Seite zu verurteilen. Er hatte gerade erst begonnen, die fremde Welt der Meere zu entdecken. Die Moral der Oberwelt schien auf diese Welt mit ihrer erstaunlichen Schönheit und ihrer unbarmherzigen Grausamkeit einfach nicht zu passen… Außerdem hatte er das Gemetzel, das ihm den Respekt der Elfenkrieger eingebracht hatte, viel zu sehr genossen!
„Sie sagen, für einen N’Tel’Quessir hast du dich ganz gut geschlagen“, übersetzte ihm Yluné die scherzhaften Sticheleien ihrer Aluendár-Begleiter. Ihr Elfisch hatte sich durch das Leben in der Tiefe so sehr von der Sprache der Landelfen entfernt, dass Faust sie nur verstand, wenn sie langsam sprachen.
„Für einen Menschen? Pah!“, ging Faust auf ihr Spiel ein. „Also hört mal, ich habe einen Jahrtausende alten Vampir-Drachen besiegt! Ich war gegen Hadhrune von Umbra siegreich und habe einen dämonischen Halbgott bezwungen und Drizzt Do’Urden hätte ich beinahe das Handwerk gelegt! Eine Handvoll Fischmenschen ist nun wirklich keine Herausforderung für mich!“
Yluné gab seine Antwort an die anderen weiter und es erhob sich ein kleiner Disput. Die Augen des Anführers blitzten herausfordernd.  
„Sie finden, du hast kein Recht, so zu reden“, erklärte Yluné schmunzelnd. „Deine Erfolge in der ravan-Welt zählen hier nicht. Efendiel meint, dort oben magst du ein Held sein, aber hier unten könntest du mit deiner Kampfkunst nicht bestehen. Er sagt, ein richtiger Krieger braucht keine Magie, um zu kämpfen.“
Faust erhob sich und breitete kampflustig die Arme aus.
„Herausforderung angenommen. Gegen wen soll ich kämpfen?“
 Aufgeregtes Gemurmel.
Schließlich erklärte die Druidin: „Es gibt eine Tiefsee-Grotte nicht weit von hier. Dort lebt alta’even, die Riesenkrabbe. Jungkrieger müssen mindestens solange im Kampf mit ihr bestehen, wie ihr Trupp braucht, um die Grotte einmal im Tauchgang zu umrunden, bevor sie in die Reihen der Aluendár aufgenommen werden. Wenn du sie besiegst, sagt Efrendiel, sollst du auch in unserer Welt ein Held sein.“
Efrendiel zwinkerte ihm schelmisch zu.
„Na dann, lasst uns Krabbensalat machen!“
Die Krieger packten ihr Hab und Gut und liefen in die Wellen. Wenig später waren sie wieder von der Düsternis und Stille des Ozeans umgeben. Faust hatte Mühe, den wendigen Elfen durch das kühle Nass zu folgen, und er wurde das Gefühl nicht los, dass sie ihre Tauchgeschwindigkeit seinetwegen drosselten. Doch wenn es um die Kampfkunst ging, war er ohne Zweifel, dass er es mühelos mit jedem von ihnen aufnehmen konnte – selbst in den Tiefen des Meeres. Sie mochten hervorragende Speerkämpfer und kluge Netzstrategen sein, doch Faust wusste, dass er inzwischen jedes Maß übertraf. Er würde ihnen eine Schau liefern, von denen sie noch ihren Enkeln erzählen würden!
Die Elfen begleiteten ihn bis zum Eingang der Grotte. Mit einem Handzeichen gab Yluné ihm zu verstehen, dass sie in seiner Nähe bleiben würden. Dann tauchte er allein in die Grotte. Die lichtlose Umgebung schluckte seinen Lichtzauber und schränkte sein Blickfeld auf eine halbe Armlänge ein. Lautlos glitt er durch die Finsternis. Nach einer Weile spürte er felsigen Untergrund unter seinen Füßen. Vorsichtig kletterte er den Fels entlang, höher und höher, bis er gegen eine glatte Wand stieß. Hier ging es nicht mehr weiter. Hatte er bereits das Ende der Grotte erreicht? Wenn er nur mehr sehen könnte. Ratlos tastete er sich an der Wand entlang… als diese sich plötzlich bewegte. Etwas entriss die Felsspalte, an der er sich gerade noch entlang gehangelt hatte, seinem Griff. Hastig stieß er sich ab und trieb im aufgewühlten Wasser. Plötzlich drang ein helles gelbes Licht aus der Spalte. Der Riss wurde immer größer und das Licht drängte die Felswand in die Höhe, bis… eine Pupille! Mitten im Fels öffnete sich ein türgroßes, glühend gelbes Auge! Er hatte die Riesenkrabbe gefunden und der Name war maßlos untertrieben! Das Vieh war nicht in der Grotte, es war die Grotte! Plötzlich nahm diese Mutprobe völlig neue Maßstäbe an! Die Aufregung pochte wild in seinen Adern.
Faust bildete eine Linie mit seinem Schwert, als er tauchend auf das Monstrum zu stob. Das Ungeheuer hatte nicht einmal Zeit sein zweites Auge zu öffnen, da sprengte Fausts wirbelndes Schwertgewitter bereits die gelbe Regenbogenhaut. Durch schwabblige Gewebeschichten metzelte er sich einen Weg zum winzigen Gehirn der monströsen Krabbe und der Krabbensalat war serviert, ehe das Ungeheuer auch nur eine seiner tonnenschweren Scheren erhoben hatte.
Verdammt, das ging schneller als erwartet!
Triumphierend, mit einem Hauch von Enttäuschung, ließ er sich zu Boden gleiten. Von diesem Kampf hatte er sich mehr erhofft. Er spürte die Elfen, ohne sie zu sehen. Als sein Lichtzauber sie erfasste, erkannte er, dass sie sich im Halbkreis um ihn geschart hatten. Völlig lautlos waren sie ihm nachgetaucht, um dem Schauspiel beizuwohnen.
Mehr habt ihr nicht zu bieten?, sagte sein Blick, als er sich grinsend an Efrendiel wandte. Doch das Grinsen verging ihm schnell. Die Miene des Aluendar-Anführers war wie versteinert, seine Augen geweitet, sein Kiefer angespannt und seine Kiemen bebten. Ohne ein Wort hob er die Hand und gab seinen Kriegern den Befehl zum Aufbruch. Als Faust Anstalten machte ihnen zu folgen, wies er ihn mit einer schneidenden Geste zurück. Fassungslos sah Faust zu, wie sie flink wie Aale davon glitten. Nur die Druidin Yluné blieb zurück. Ihre blauschwarzen Elfenaugen waren traurig und ernst.
Ich bringe dich zurück an die Oberfläche, sagte sie mit einer Handbewegung. Schweigend folgte Faust ihrer Führung.
„Scheiße, Yluné, was war da unten denn los?!“, platzte es aus ihm heraus, kaum dass er wieder Luft atmete. „Ich habe die Krabbe besiegt und die Wette gewonnen! Seid ihr so schlechte Verlierer?“
„Du solltest sie besiegen, nicht töten“, sagte die Druidin leise. „Sie ist ein Kind des Ozeans, wie wir.“
„Ach, und was ist mit den Sahuagin? Sind das keine Kinder des Ozeans!“ Verfluchte Elfen! Kaum glaubte man sie zu verstehen, stießen sie einen vor den Kopf!
„Und da war die… die Art, wie du sie getötet hast.“
„Was soll das denn heißen?“
„Das war nicht normal. Kein Mensch kämpft so.“
„Sondern?“
Yluné zögerte.
„Na los, sprich es aus!“
„Teufel und Dämonen kämpfen so.“
Faust lachte bitter auf.

Grimwardt
Vier Tage später, Rabenklippe.
Dezentes Schlürfen und Löffelklappern waren die einzigen Geräusche bei Tisch. Unter seiner Rüstung spürte Grimwardt wie ihm Schweißperlen den Rücken hinab rannen, während er versuchte sich beim Essen so wenig wie möglich zu bewegen, um nicht durch lautes Klappern und Scheppern unangenehm aufzufallen. So angespannt hatte er sich zum letzten Mal als Knabe kurz vor der Weihprüfung gefühlt! Und sie waren noch nicht mal beim zweiten Gang angelangt! Beim Feuerschild, wie hatte er sich nur zu einem Abendessen bei Familie MacLancastor überreden lassen können? Lady Helena hatte die Vorspeise damit verbracht, mit forschem Blick zwischen Faust und seiner „Gattin“ hin und her zu blicken. Da sie auf keine ihrer Fragen mehr als ein verlegen Lächeln von Mius Seite und ein unflätiges Schnauben von Fausts Seite geerntet hatte, war sie schließlich zu unverfänglicheren Themen übergegangen. Auf ihre liebenswürdig-süffisante Frage, weshalb Faust aussehe wie ein angemalter Sune-Tempel, hatte ihr Sohn ihr in allen blutigen Einzelheiten von seinen Erlebnissen bei den Seeelfen berichtet. „Krabbensalat“ war dabei das einzige Wort gewesen, das auch nur halbwegs tischtauglich war. Auch die Nachricht, dass Claire es sehr „bedauere“, (Faust hätte sich wenigstens das schadenfrohe Grinsen sparen können!) dass ihre Arbeit auf der Eggenstolz sie von einem Besuch abhielt, hatte die Stimmung bei Tisch nicht eben gehoben.
„Und was gibt’s bei dir so Neues?“, leitete Faust gerade den zweiten Akt des Trauerspiels ein.
„Die übliche Misere“, erwiderte Lady Helena mit einem Seufzen. „Lady Bartens Prahlereien über ihre Brieftaubenzucht echauffieren die gesamte Nachbarschaft. Und dabei taugen die dummen Dinger zu nichts weiter, als den Vorgarten zu verunstalten!“
„Sag’s, wenn ich behilflich sein soll“, murmelte Faust gelangweilt. „Ich könnte ja im Gegenzug Lady Bartens Garten zukacken… oder so.“
Winter spie prustend einen Mundvoll Pastete auf ihren Teller. Lady Helena dagegen hatte eine dicke Haut, wenn es um die Provokationen ihres Sohnes ging.
„Was habe ich doch deinen Fäkalhumor an diesem Tisch vermisst!“, sagte sie mit einem eisigen Lächeln, nur um dann nahtlos das Thema zu wechseln: „Habe ich übrigens erwähnt, dass dieser Elf aus dem Orden hier war? Eigenartiger Bursche, ich denke du kennst ihn von früher…“
„Tyrael?“ Alarmiert sah Faust auf. „Was wollte er?“
„Wissen, wo du steckst. Offenbar erliegt er der phantastischen Vorstellung, dass du deiner Mutter mehr erzählen würdest, als dass du wieder einmal die Welt retten musst. Ich soll dir übrigens ausrichten, dass er dich finden wird, egal wo du steckst. Äußerst charmantes Kerlchen, hat beim Sprechen ständig die Nase krausgezogen.“
„Damit versucht er, den Ekel zu überwinden, den es ihm bereitet, mit dir zu sprechen“, ließ Faust sie wissen. Er wartete, bis sich ihr überhebliches Lächeln zu einem pikierten Lippenstrich verzogen hatte, ehe er hinzufügte. „So reagiert er auf alle Menschen.“
Doch die Drohung des Elfen schien ihn in größerem Maße aufzukratzen, als er zugeben wollte. Grübelnd starrte er auf seinen Teller. Grimwardt kannte diesen konzentrierten Blick. Winter nannte ihn den „Neun-Schwerter-Blick“. Was auch immer es war, das Faust verfolgte, es führte ihn immer wieder zurück nach Rabenklippe, in die Nähe jenes ominösen Ordens der Neun Schwerter. Grimwardt war kein neugieriger Mann. Genau genommen fühlte er sich sogar sicherer dabei, nicht zu wissen, welche Dämonen seinen Mitstreiter plagten. Wissen brachte Konflikte und Konflikte trübten das Urteilsvermögen. Aber er fühlte sich verantwortlich für ihre kleine Gruppe und wenn Fausts Probleme anfingen, die Gruppe zu infizieren, dann würde er sich ihrer annehmen müssen.
„Vielleicht sollte ich mich stellen“, sagte Faust plötzlich.  
Seine Mutter runzelte die Stirn.
„Desmond, wenn es stimmt, was du mir erzählt hast, dann solltest du darüber keine Scherze machen.“
„Ich scherze nicht“, erwiderte Faust. „Ich kann nicht ewig davonlaufen… Außerdem könnte der Orden uns bei unserer Mission helfen. Wir suchen nach einem Piratenkapitän, einem uralten Illithiden mit außergewöhnlichen Kräften. Omega, die Anführerin des Ordens, ist… Ich weiß nicht genau, was sie ist. Aber man munkelt, sie sei unsterblich. Ihr Wissen übersteigt selbst das der meisten Elfengelehrten. Vielleicht weiß sie etwas über diesen Kapitän Morloch.“
„Ich könnte doch hingehen“, hörte Grimwardt sich selbst sagen.
„Grim“, sagte Winter überrascht. „Willst du das wirklich?“
Eigentlich nicht. Bei Veiros und Deiros, was tue ich hier?
„Warum nicht? Erzähltest du nicht, dass Hades Mitglied dieses Ordens ist, Faust? Wir haben Seite an Seite gekämpft und Hades schien mir immer ein vernünftiger Mann zu sein. Warum sollte ich ihn nicht um einen Gefallen bitten und ihn um eine Audienz bei dieser Omega bitten?“
Faust und seine Mutter starrten ihn ungläubig an. Dann lachten sie gleichzeitig auf und zum ersten Mal sahen sie sich so verblüffend ähnlich, dass niemand an ihrer Verwandtschaft gezweifelt hätte.
„Du willst Hades um etwas bitten?“  
 
« Letzte Änderung: 11. April 2011, 12:02:20 von Niobe »

Nightmoon

  • Mitglied
    • Schicksalsstreiter
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #207 am: 11. April 2011, 11:15:23 »
Schön! Sehr schön gelöst, dieses schwierige Kapitel! Tja, diese verdammten Seeeeeelfen... Jetzt freu ich mich schon um so mehr auf das nächste Kapitel! Grimmwardt in Rabenklippe war auch beim Spielen schon zu geil. Das schlechte Essen und die Dialoge mit Hades jetzt noch als Geschichte verpackt verspricht viel Gutes.
Zwei Sachen noch:
1. Konnte man innerhalb des Mythals teleportieren? Das weiß ich nicht mehr.
2. Ich als Kind vom Lande weiß natürlich das es heißt "Die Spreu vom Weizen trennen". Die Spreu ist das Gestrüpp von der Weizenpflanze, das man nicht mitisst.  :D

Niobe

  • Mitglied
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #208 am: 11. April 2011, 12:05:42 »
Alles klar, jetzt bin ich schlauer... da erfüllt diese ganze SH-Sache ja sogar noch didaktische Zwecke  :D. INNERHALB des Mythals kann man schon teleportieren (jedenfalls in der Oberstadt), nur halt nicht hinein oder heraus. Das Kapitel war für mich übrigens echt eines der schwierigsten... Es ist nicht wirklich viel passiert, aber viel rauslassen ging auch nicht. Hatte Angst, dass es ziemlich langweilig wird...
« Letzte Änderung: 11. April 2011, 12:11:21 von Niobe »

Abracadaver

  • Mitglied
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #209 am: 11. April 2011, 12:51:34 »
Trotzdem wieder ansprechend und schön zu lesen; nicht langweilig;)

Faust hätte sich aber denken können, dass er die olle Krabbe nicht komplett zerlegen soll. Sie war ja immerhin Teil eines Rituals der Seeelfen.:-P

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