Reya
»Was in Cyrics Namen ist ein Malaugrym?«, fragte Boras. Helion antwortete nicht. Boras stieß Thamior an. »Weißt du, was ein Malaugrym ist?« Thamior zog verneinend die Augenbraue hoch. »Und du?«, wandte sich der Barbar an Thargad, der mit den Schultern zuckte. Boras sah zu Dirims körperloser Gestalt. Der Zwerg nickte mit Nachdruck. Boras machte eine wegwerfende Handbewegung. »Du kannst sowieso nicht sprechen.«
»Als Kinder habt ihr bestimmt schon einmal die Schauergeschichte von dem Mann gehört, der so böse war, dass er mit seinem Willen vermochte, seinen Schatten zu steuern.« Helion sprach mit leiser Stimme, beinahe tonlos. Die Kettenbrecher lauschten, sogar Flitz war für den Augenblick ruhig. »Ihr wisst schon: Tritt nicht in einen fremden Schatten, denn er könnte dir Übles wollen. ich erinnere mich noch genau, wie viel Angst ich davor hatte, dem Schatten zu begegnen, denn er konnte sich ja überall verstecken, in jeder beliebigen Gestalt.
Die Malaugrym sind dieser Schatten. Sie leben auf der Schattenebene, doch es heißt, sie kämen nicht von dort. Einige Gelehrte vermuten, dass sie von ihrer wahren Welt verbannt wurden, ja dass sie dort vernichtet wurden - doch ihr böser Geist war so voller Hass, dass er sich einen neuen Körper schuf; aus Schatten. Die Malaugrym sind machtgierig und herrschsüchtig; man sagt, sie hätten uns nur noch nicht überrannt, weil sie nicht fähig sind, auf längere Sicht zusammenzuarbeiten. Es sind Gestaltwandler, das weiß ich, sonst weiß ich nicht viel, was uns helfen könnte.«
Boras schluckte vernehmlich. »Also... ist Vlaathu ein Malaugrym?«
»Er konnte sich verwandeln«, stimmte Thargad zu.
»Und zaubern«, sagte Thamior.
»Ich weiß nicht«, sagte Helion. »Er hat alle Kräfte eines Betrachters, sogar das Zentralauge funktionierte. So funktioniert Gestaltwandlung normalerweise nicht.«
»Sollten wir zum Markt der Schatten gelangen, können wir ja mal diese Morena fragen, was sie über Malaugrym weiß.« Thamior zögerte, bevor er hinzufügte: »Ob man auf diesem Markt flüssigen Schatten bekommt?«
»Der Markt ist bekannt für seltene arkane Materialien«, überlegte Helion. »Wenn man flüssigen Schatten kaufen kann, dann dort.«
»Flüssiger Schatten, Schattenmarkt, Morena von den Schatten, Schattenebenenherkommer«, zählte Flitz auf. »Bemerkt jemand ein Muster?«
»Der Feenkobold hat Recht«, sagte Thargad, »mir gefällt das gar nicht.«
»Das Muster, oder dass der Kobold recht hat?«, wollte Thamior wissen.
»Beides.«
»He«, machte Helion, »Passt auf, wen ihr hier Kobold nennt!« Und damit war die bedrückende Atmosphäre, die sich kurzzeitig über das Lager gelegt hatte, wieder verflogen; die Kettenbrecher begaben sich zur Ruhe.
-
Am nächsten Morgen führte sie ihr Weg wieder durch den Dschungel zurück bis an den Fluss, wo ihr Floß immer noch auf sie wartete.
»Letzte Chance zur Umkehr«, sagte Helion mit einem Blick auf die Statue des Dämonen, aber keiner machte Anstalten, nach Redgorge zurückzukehren. Stattdessen marschierten sie direkt weiter, den schmalen Jagdpfad der Gnolle entlang, den Thamior nach kurzer Sucher aufgetan hatte. Die Zeit drängte schließlich: Niemand konnte wissen, was Cauldron wegen Maavu unternehmen würde.
Am späten Nachmittag erreichten sie die auf Aleks Karte mit ›Heim‹ bezeichnete Höhle, und tatsächlich war zumindest der Eingang groß genug, um einem Oger oder gar einem kleinen Riesen als Unterkunft zu dienen. Aus dem Inneren der Höhle drang fauliger Aasgestank.
»Puh!«, machte Boras. »Die Höhle ist bestimmt verlassen.« Allein, dass der Barbar den gestank unerträglich fand, war schon ein gutes Maß für dessen Ausmaß.
Trotzdem schüttelte Thamior den Kopf. »Da kennst du Hügelriesen nicht. Das Erste, was man über diese Bestien lernt: Sie riechen extrem schlecht, und zwar in jeder Hinsicht.«
»Ich sehe mal nach«, sagte Flitz aus dem Nichts, und schon war er losgeflattert. Die Höhle führte ein paar Schritt in den Berg hinein, aber dann verbreiterte sie sich schnell zu einer geräumigen Unterkunft. Flitz sah die Trümmer von Kisten, zerrissene Stoffe, altes Stroh, und einen großen Haufen Aas in einer Ecke. In einer anderen schnarchte, schlummerte und schlief ein gewaltiges Fellbündel mit langen Fingerklauen und Läusen im Pelz, die Flitz als Mahlzeit durch den Tag gebracht hätten. Noch während er unsichtbar die Lage prüfte, runzelte sich die lange Nase des Untiers, und seine lange Zunge schnellte prüfend hervor.
Oh, oh, dachte sich Flitz und flog schnell wieder ins Freie. »Ihr könnt da jetzt nicht rein«, verkündete er den Kettenbrechern. »Es ist besetzt.« Auf Nachfrage schilderte er, was er gesehen hatte.
»Ich könnte das Biest herauslocken«, überlegte Thamior. »Ich führe es weg, und ihr untersucht derweil die Höhle.«
»Ich glaube nicht, dass das etwas bringt«, meinte Helion. »Außerdem wissen wir nicht, ob du das Tier weglocken kannst, und ob es dich nicht erwischt. Zu riskant.«
»Machen wir es platt«, schlug Boras vor. »Ich habe unten bei den Kleinen nichts zu töten gehabt. Es wird mal wieder Zeit. Was?«, fragte er, als er Thargads Blick bemerkte.
»Nichts«, sagte der. »Du wirst mir nur sympatisch. Trotzdem bin ich nicht dafür, dieses Tier anzugreifen. Wir kriegen bestimmt noch genug zu tun.«
Schließlich entschieden sie sich, weiterzuziehen. Als sie am Abend ihr Lager aufschlugen, lagen ein fernes Grollen und ein rötlicher Schein am Horizont. Der Dämonenschlund war nicht mehr fern. Die Kettenbrecher legten sich zur Ruhe, und Thamior übernahm die erste Wache. Er nahm den Drachenknochen hervor und fuhr fort, daraus seinen - oder besser Annas - Seelenbogen zu schnitzen. Um ihn herum ging der Dschungel seinen nächtlichen Aktivitäten nach: er hörte Jagdgeheul, Warnlaute und selten das kurze Japsen der gestelllten Beute. Er fühlte sich zuhause.
Plötzlich wurde es still. Die Tiere des Waldes hielten in ihrem Treiben inne und lauschten. Nur der Wind strich noch über die Blätter und erzeugte ein leises Knistern nicht unähnlich dem Plätschern eines Baches im Frühling, bevor er zu einem reißenden Fluss heranwuchs. Thamior stand auf und stieß seine Gefährten an, um sie zu wecken. Einer nach dem anderen rieb sich den Schlaf aus den Augen und machte sich bereit, auf das zu reagieren, was da kommen möge, und doch wurden sie überrascht. Das Dickicht öffnete sich, Zweige und Blätter neigten sich zur Seite, und eine Frau trat an das Lager heran.
Sie war einsachtzig groß, vielleicht noch etwas größer. Ihre Haut war so glatt und weiß wie Marmor; ihre Augen von strengem, doch funkelndem Silber; ihr Haar so rot wie die Flammen, die an dem Schwert leckten, das sie an der Hüfte trug. Ein Brustpanzer aus blauem Stahl und ein kurzer Rock bedeckten ihre Blöße, außerdem trug sie geschnürte Sandalen. Und aus ihrem Rücken wuchsen zwei gewaltige Schwingen mit blendend weißen Federn.
»Ich grüße euch, Kettenbrecher. Mein Name ist Reya, und wenn ihr nichts dagegen habt, würde ich mich gerne an eurem Feuer wärmen.«
Sie sah nicht aus, als ob sie fror, und Thamior wollte gerade etwas in dieser Art erwähnen, als Helion ihm zuvorkam: »Natürlich, Herrin. Nehmt doch Platz und sagt uns, woher Ihr uns kennt.«
Der Engel lächelte ein freundliches, aber hartes Lächeln. Als sie sich setzte, sah man die Muskeln unter ihrer weißen Haut. Dies war eine Kriegerin, so viel war klar.
»Ich kenne Euch - und vor allem Euch, Helion -, noch aus früheren Zeiten, als ihr noch keinen Namen trugt, und Ihr ein anderes Antlitz.« Sie griff nach den Resten des gebratenen Pavians neben dem Feuer und riss sich ein Rippchen ab, um dann kauend fortzufahren: »Erinnert Euch an den Kampf gegen den Troll, als Ihr alleine standet.«
»Damals ging ein Leuchten, und wundersame Kraft durch unsere Heiltränke«, überlegte Helion. »Das wart Ihr?« Reya nickte. »Dann schulde ich Euch Dank, und womöglich sogar mein Leben und das meiner Freunde.«
»Ja, wirklich sehr freundlich«, sagte Thamior kalt. »Zu schade, dass Ihr meine Tochter nicht gerettet habt.«
»Ich bemerkte Euch zu spät«, entgegnete Reya. »Ich konnte nichts mehr für Eure Tochter tun.«
»Konntet oder wolltet?«
»Ihr Schicksal hat sie selbst erwählt, indem sie die Götter verleugnete.«
»Ach ja? Das ist wirklich sehr tröstlich. Wisst ihr-« Boras legte seine Hand auf Thamiors Schulter, und der Elf brach ab. »Vergesst es.«
»Bitte verzeiht«, sagte Helion. »Und trotzdem muss auch ich euch etwas fragen: Was führt Euch hierher?«
»Eure Reise«, sagte Reya nüchtern. »Ich will euch helfen.«
»Dann wären einige zusätzliche Informationen sehr nett«, sagte Thargad.
»Tut mir leid. Das Problem ist, dass Himmelsdiener, wie ich einer bin, einem strengen Kodex unterliegen. Ohne Auftrag dürfen wir keinem Sterblichen beistehen. Tun wir es doch, riskieren wir, ausgestoßen zu werden. Zu fallen.«
»Und dennoch wollt ihr uns helfen?«, wollte Helion wissen. »Wieso?«
»Wegen der Schätze. Ich kenne sie, und ich möchte, dass ihr erfahrt, was mit ihnen geschah.«
»Also werdet ihr es uns sagen?«, fragte Thargad in einem Tonfall, der die Antwort vorwegnahm.
»Nein«, sagte Reya denn auch. Thargad sah zu Helion: War ja klar. »Stattdessen werde ich versuchen, euch so viel zu erzählen, wie nötig ist, ohne mehr zu sagen, als möglich. Ich werde euch helfen, ohne euch direkt beizustehen, und wenn ich dafür verstoßen werden soll - nun, dann soll es so sein.«
»Wenn ihr fallt«, mischte sich Thamior ein, »kann ich dann ein paar Federn von Euch haben?«
»Wie bitte?« Reya sah ihn verständnislos an.
»Vergesst die Taube«, bat Helion. »Ihr sagtet, ihr kanntet unsere Eltern?«
»In der Tat. Ich kenne sie gut. Manche würden sagen, zu gut. Aber über dieses Thema kann ich nicht sprechen. Lasst mich stattdessen von Eurer bevorstehenden Reise reden. Ich habe drei Ratschläge für Euch: Nehmt sie, oder lasst es bleiben.«
»Wir hören«, sagte Helion.
»Erstens: Auf eurem Weg liegt eine mächtige Waffe gegen das Böse verborgen. Sie wird sich euch offenbaren, wenn ihr daran denkt, dass selbst im dunkelsten Schlangennest noch stets die Sonne aufgeht.« Sie warf den Pavianknochen fort und stand auf. »Zweitens: Wenn ihr euren ärgsten und strengsten Richtern gegenüber steht, dann wappnet und rüstet euch, bevor ihr den letzten Schritt tut, auch wenn ihr dabei Zeit verliert.«
Reya sah noch einmal jeden der Kettenbrecher an – selbst Flitz in seiner Unsichtbarkeit entging ihrem Blick nicht –, dann wandte sie sich ab und ging wieder auf den Wald zu. Der Dschungel schob sich auseinander, um sie willkommen zu heißen. Als sie das Dickicht erreicht hatte, drehte sie sich noch einmal um.
»Drittens: Wollt ihr Cauldron retten? Wollt ihr das Geheimnis um die Schätze aufklären? Wollt ihr überleben? Dann müsst ihr bereit sein.«
»Bereit wozu?«, fragte Helion.
»Euch aufzugeben«, sagte Reya und trat einen Schritt zurück, dass nur mehr ihr Umriss sichtbar war. »Euch selbst zu opfern.« Noch ein Schritt, und ihre Stimme kam aus dem Dunkel, aus dem Dschungel selbst. »Zu sterben.«
»Um zu überleben, müssen wir bereit sein, zu sterben?«, wiederholte Thamior. »Sehr hilfreich, wirklich. Gut, dass wir sie haben.«
»Vielleicht bedeutet das, dass wir alle Kobolde werden müssen?«, vermutete Boras mit einem Blick auf Helion. Dazu fiel nicht einmal Flitz etwas ein, und so hing jeder der Kettenbrecher seinen eigenen Gedanken nach. Bald legten sie sich wieder hin, und nicht viel später brach der Morgen an. Der Himmel war wolkenverhangen.
»Genau das rechte Wetter, um zum Dämonenschlund zu reisen«, murmelte Helion, als er reisefertig auf Boras Schultern saß. »Auf gehts!«