Erste Nachforschungen
Wieder einmal standen sie im Regen und kopften an die Tür des Waisenhauses. Wieder einmal öffnete sich die Tür einen Spalt und die Halblingsfrau lugte hindurch.
„Bitte schließt die Türe nicht gleich wieder, Gretchyn“, sagte Anna.
„Woher kennt ihr meinen Namen?“
„Jenya Urikas aus dem Helmtempel hat ihn uns genannt. Wir kommen in ihrem Auftrag.“
Wieder verengten sich die Augen der Halblingsfrau, aber ein Blick auf die Tränke und das eingebrannte Zeichen, sowie die ehrlichen Gesichter der tropfenden Gestalten überzeugten sie schließlich. Sie öffnete die Türe ganz.
„Kommt rein.“
Gretchyn entschuldigte sich noch einmal für ihr Benehmen, das sie mit ihrer Anspannung seit der Entführung erklärte. Gleich am Tag nach dem Verschwinden hatte sie von Augenklappe, dem Hausmeister, Riegel an die beiden Türen anbringen lassen.
„Vorher gab es also nur Schlösser?“, fragte Thargad. Gretchyn bejahte.
„Kann ich mir die mal ansehen?“
Die Schlösser waren vor hervorragender Qualität. „Egal, wieviel Zeit ihr mir gebt“, sagte Thargad, „die kriege ich nicht auf.“
„Wo habt ihr die Schlösser her?“, fragte Helion die Halblingsfrau.
„Von Ghelve natürlich. Keygan Ghelve, dem besten Schlossschmied der Stadt. Und dem teuersten.“ Die Nachkommen warfen sich einen Blick zu.
„Aber das habe ich doch alles schon erklärt. Zuerst den Wachen, und dann diesen anderen Ermittlern.“
„Moment“, sagte Helion. „Was für andere Ermittler?“
„Die Sturmklingen?“, fragte Anna.
„Nein, zwei Halbelfen im Dienste des Stadtherren. Fario Ellegoth, ein bleicher Kerl, dem sein kleiner linker Finger fehlt, und Fellian Sharn. Der hatte eine Narbe über dem Auge und ein Lachen wie eine betrunkene Henne.“
Die Nachkommen bedankten sich bei Gretchyn und verließen das Waisenhaus wieder.
„Wir sollten mal bei diesem Schlossmacher vorbeischauen“, sagte Dirim.
„Und vielleicht auch mal mit den Halbelfen reden“, sagte Helion.
„Und mit den Wachen,“ fügte Thargad hinzu. Dann drehten sich alle drei zu Anna um.
„Was?“
-
Der Krumme Krug war ein niedriges Holzgebäude mit spitzem Dach in der Nähe des Sees. Über der schmalen und leicht verzogenen Türe konnte man mit zusammengekniffenen Augen das Bild eines seitwärts gekippten Kruges erkennen. Darunter stand ein Halbork mit einem feisten Knüppel und sah grimmig drein.
„Ich weiß nicht einmal mehr seinen Namen“, wandte Anna zum wiederholten Male ein.
„Du schaffst das schon“, entgegnete Helion, dann gab er seiner Schwester einen sanften Schubs in Richtung Tür und einen Klapps auf den Hintern. Anna sah sich noch einmal mit funkelnden Augen um.
Innen wartete das Chaos auf sie. Der große Schankraum konnte gar nicht genug Tische aufstellen, um allen Platz zu geben, und die beiden Schankfrauen hasteten von einer Seite zur anderen, ohne auch nur einen Moment innezuhalten. Ein Trupp betrunkener Männer sang in einer Ecke lauthals ein Trinklied, in das mehrere Stimmen einfielen.
Anna sah sich um. Bald hatte sie den Wachmann entdeckt; er saß mit zwei Kumpanen an einem Tisch an der Seite. Noch einmal holte sie tief Luft, dann marschierte, nein tänzelte sie auf den Tisch zu. Der Wachmann gab seinen Freunden gleich ein Zeichen, dass sie verschwinden sollten. Anna schwang sich direkt auf einen leeren Stuhl.
„Ich wusste nicht, ob du kommst“, sagte der Wachmann.
„Ich hatte Angst, dass du nicht kommst“, sagte sie, und lächelte. „Gibt es denn hier nichts zu trinken?“
Der Wachmann stockte. „He, Hella! Zweimal Wein! Ähh...“
„Weiß“, sagte Anna.
„Weiß!“, rief der Wachmann. Kurz darauf trennte er sich schweren Herzens von einer Goldmünze. „Eine Königin für eine Königin“, sagte er mit schmutzigem Grinsen.
Inzwischen hatten auch die drei Männer die Kneipe betreten und beobachteten das Geschehen aus der Entfernung. Dirim amüsierte sich zusätzlich über die Speisekarte, die vor Fehlern nur so strotzte.
Anna wiederum versuchte, den Wachmann in ein Gespräch über seine Arbeit zu verwickeln. Er war sehr stolz auf seinen Posten am Tor, wo er die erste Verteidigungslinie für bevorstehende Angriffe sei, und ansonsten einen eher geruhsamen Posten ergattert hatte. Auch erzählte er von seiner kranken Frau, die er nur noch nicht verlassen habe, weil sie sonst niemand pflegen würde - also kein Hindernis zwischen ihm und Anna und dem, was sich vielleicht zwischen ihnen entwickeln würde. Dann entschied sich die Halbelfe, vielleicht die Wachen gegen ihre Lieblingsfeinde einsetzen zu können.
„Weißt du“, sagte sie, während sie ihren Zeigefinger unter seinem Kinn entlang strich, „du bist mir auch viel lieber als Todd.“
„Todd?“ Der Wachmann kehrte langsam wieder in die Wirklichkeit zurück.
„Todd Vanderboren von den Sturmklingen. Er wollte mich für sich.“
Der Wachmann erhob sich abrupt, er sprang beinahe auf. „Was?“ Er machte einen Schritt zurück. Anna sah ihre Felle davon schwimmen. Sie räkelte sich genüßlich wie eine Katze beim Sonnenbad. Der Wachmann fuhr mit der Zungenspitze über seine Lippen, dann schloss er die Augen und schüttelte den Kopf. Er drehte sich um und verließ die Kneipe.
„Männer“, sagte Anna.
„Frauen“, sagte Helion auf der anderen Seite des Krugs.
„Elfen“, sagte Dirim.
Thargad sagte nichts.
-
Sie hatten sich noch nicht ganz wieder beruhigt, als sie die umgebaute Scheune betraten. Helion sah die gestreifte Katze vor dem brennenden Kamin sitzen.
„Nimbral“, sagte er, „da bist du ja.“ Die Katze lief auf den Magier zu, rieb sich an seinem Bein und begann zu schnurren. Helion beugte sich herab und nahm sie auf den Arm. Ihr Fell war noch ganz nass.
„Und sie hat uns etwas mitgebracht“, sagte Dirim trocken. Helion sah auf und bemerkte die Gestalt, die nun aus den Schatten trat. Er sah Muskeln, ein entschlossenes Gesicht, und eine große Axt. Eine sehr große Axt.
Er ließ die Katze wieder los.