Die Malachitfeste
Der Tempel von Azuth war eines der höchsten Gebäude der Stadt, und komplett aus Malachit erbaut. Der achteckige Grundriss verjüngte sich nach oben hin leicht, in etwa dreißig Metern Höhe gab es einen Absatz, von dem aus ein schlankerer Turm – ebenfalls achteckig – weiter in die Höhe wuchs. Der Turm war im Moment etwa vierzig Meter hoch, doch Baugerüste ließen darauf schließen, dass er noch weiter in den Himmel ragen würde. Von dem Absatz starrten Gargylen auf die Stadt herunter. Ein runder Turm stand direkt neben dem Tempel, so hoch wie der erste Absatz, und weitere Häuser boten Unterschlupf für die Priester.
Helion stand vor dem Tempel und musste unwillkürlich schlucken. Dies war ein Monument für Azuth, und ein wenig fühlte er sich schuldig, dass er dem Gott der Magier nicht früher einen Besuch abgestattet hatte. Und auch jetzt drängte die Zeit. Sobald sich Boras wieder erholt hatte, wollten die Vier wieder in die Katakomben hinab steigen.
Er hielt eine junge Priesterin an, die gerade an ihm vorbei die Stufen hoch stieg.
„Ich würde gerne Zauber tauschen“, sagte er ohne große Vorrede.
„Der Tempel handelt nicht mit magischen Gegenständen. Ihr dürft natürlich gerne etwas spenden; ansonsten bitte ich euch, entweder Meister Weer oder Skie Aldersun aufzusuchen.“
Helion bedankte sich und machte sich auf den Weg. Trotzdem fand er es etwas seltsam, dass die Kirche von Azuth, deren Ziel es war, die Verbreitung von Zaubern und magischen Gegenständen zu fördern, und die den Handel mit Magie ausdrücklich förderte, nicht selbst solche Geschäfte durchführte. Andererseits war bei zwei Zauberläden in Cauldron die Notwendigkeit auch nicht gegeben, und die Priester konnten sich anderen Dingen widmen.
Bald stand er vor einem niedrigen Turm aus Malachit, dessen Fenster aus Obsidianglas waren. Ein kleiner Schornstein blies Rauch in den Himmel, über dem Eingang prangte ein blubbernder Kessel.
Im Inneren fand er Regale mit Tinkturen, Zutaten und Laborwerkzeug, die quer von der Wand abstanden, und in der Mitte des Raums eine Wendeltreppe nach oben und unten, sowie eine Theke, die um die Treppe herum aufgebaut war. Ein hagerer Mann mit einem Gesicht wie ein Geier, dem das Alter schon alle Haare bis auf einen Kranz knapp über den Ohren genommen hatte, nickte ihm zu.
„Ich würde gerne Sprüche tauschen“, sagte Helion.
„Ich stehe euch zur Verfügung“, sagte der Mann. Er verschloss die Hände unterhalb des Kinns und lächelte. „Ich bin Vortimax Weer, Kollega. Leider,“ er wies auf den runden Verkaufsraum, „habe ich keine Zauber im Angebot. Ich stelle Schriftrollen nur nach Auftrag her. Allerdings tausche ich gerne aus meinem persönlichen Vorrat, wie es die Sitte gebietet.“
Helion signalisierte Zustimmung und legte das Zauberbuch auf den Tisch, das er in Jzadirune gefunden hatte.
„Ich habe das Buch untersucht. Feinste gnomische Arbeit.“
Vortimax Weer sprach einen Zauber, dann sah er sich das Buch sorgfältig durch.
„Nun ja. Es sind beinahe ausschließlich Illusionen niederer Grade. Ich habe viele dieser Zauber.“
„Aber das Buch stammt aus der alten Gnomenstadt unter Cauldron und ist sehr gut erhalten. Es hat einen Wert über die Sprüche hinaus.“
„Ihr habt recht. Also gut, was wollt ihr?“
Man einigte sich auf eine Handvoll Zauber, und Vortimax stellte Helion bis zum Morgengrauen entsprechende Kopien zur Verfügung. Dann ging Helion wieder zum Helmtempel zurück, wo seine Gefährten schon von den Priestern behandelt wurden.
„Hast du Weer von unseren Eltern erzählt?“, fragte Dirim, als Helion berichtet hatte.
„Nein. Das habe ich vergessen“, antwortete der Magier. „War vielleicht gut so. Und was habt ihr so gemacht?“
Anna rümpfte die Nase. „Ich habe den goldenen Kamm verkauft, den ich gefunden habe. Und stell dir vor – neben der Gebühr fürs Schätzen musste ich Steuern bezahlen!“
„Wieviel denn?“, fragte Dirim vorsichtig.
„Immerhin 3 Königinnen, von insgesamt etwa 150.“ Dann grinste sie wieder. „Dafür habe ich erfahren, dass mein Armband wertvoll ist! Die Wolfsmaske leider nicht – vielleicht kann ich sie ja Keygan verkaufen.“
Dirim hielt eine Phiole mit Flüssigkeit hoch. Helion hatte versucht, sie zu analysieren, es war aber kein magischer Trank.
„Hast du sie identifizieren lassen?“, fragte der Magier.
„Ich weiß nicht, ob es sich lohnt. 15 Kelche, und dann ist da Wasser drin? Ich weiß nicht.“
Die Gefährten begaben sich zur Ruhe. Anna suchte jedoch noch einmal ihren Bruder auf.
„Sag mal, Helion,“ sie hielt ihm ihren Arm hin, „fällt dir was auf?“
„Wieso fragst du?“
„Ach, nur so.“ Die Halbelfe nickte ihm zu und wandte sich zum Gehen. „Ich habe nur den Eindruck, meine Haut ist irgendwie durchsichtiger geworden...“
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Am nächsten Morgen saßen die Vier gestärkt und in sauberen Sachen um einen Tisch.
„Ich habe mir die Karten noch einmal angesehen“, sagte Helion. „Teile der Stadt liegen höher als der Rest. Und hier“, er wies mit dem Finger auf einen Raum, „müssen wir hin. Dieser Raum liegt nahe an der Stelle, an der ich die Falle ausgelöst habe. Und wenn ich das richtig sehe, liegt die Stelle auch genau so hoch wie der Raum.“
„Was willst du damit sagen?“, fragte Boras.
„Warum ist da eine Falle?“, fragte Helion zurück. „Das macht doch keinen Sinn. Außerdem haben wir alle Räume durchsucht, die wir durchsuchen konnten. Die Schleicher haben keine Schlüssel gehabt – wie sind sie also von unten nach Jzadirune gekommen? Ich glaube, dort befindet sich eine Geheimtür.“
Die anderen sahen sich für einen Moment an, dann lächelten sie.
„Fass lieber nichts an“, sagten sie im Chor.
„Ha ha“, sagte Helion, aber dann musste er auch lachen.
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In der Gnomenstadt sahen sie sich zunächst einmal die Türe an, die von den Schleichern mit einem Stein offen gehalten wurde. Dirim fand Kratzspuren, die von Öffnungsversuchen stammen könnten, auf der Seite der Türe, die zu Keygans Laden führte. Und zu besagtem Treppenabsatz.
Helion band sich ein Seil um die Hüfte und gab es Boras in die Hand.
„Halt das gut fest“, sagte er, und sah Anna an. „Ich fass das hier nur mal kurz an.“ Dann drehte er den Fackelhalter in die andere Richtung. Vor ihm schwang eine Geheimtür auf.
„Bei Tyrs linkem Auge“, sagte Dirim, „der Junge hatte recht!“
Boras trat in den schmalen Gang und ging auf das andere Ende zu, als sich unter ihm eine Fallgrube öffnete. Der Barbar sprang zurück und sah am Boden schwärzlich schimmernden Schleim. Ein Stein, von Boras losgetreten, landete zischend in der Flüssigkeit. Dann schwang die Grube wieder zu.
Vorsichtig kletterte man um die Grube herum. Dirim untersuchte die Wand, dann nickte er.
„Eine Geheimtür.“
Er legte sein Ohr an die Wand, und lauschte.
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„Wie lange noch?“, fragte Burtag.
„Das hast du gerade erst gefragt“, antwortete Hestor gereizt. Der Hobgoblin spie aus. „Reiß dich mal am Riemen.“
„Ist ja nur, weil hier nie was passiert“, gab Burtag zurück. Er hatte seinen Wurfspeer an die Wand gelehnt, und sich gleich daneben. „Unten ist wenigstens vielleicht was los.“
„Quängel nicht so rum, als ob du ein Mensch wärst,“ sagte Hestor. „Sonst tausche ich meine Schicht.“
„Du bist heute aber mies drauf.“
Rumpelnd schob sich die Geheimtür in der Wand zur Seite. Burtag stellte sich aufrecht hin, und Hestor drehte sich um. Die Skulks brachten wohl wieder mal ein Opfer.
Durch die Türe trat dann aber ein Zwerg, und kurz darauf ein wild aussehender Kerl mit einer großen Axt. Die Hobgoblins sahen verdutzt auf die beiden. Irgendetwas stimmte nicht.
„Hobgoblins!“, rief der Zwerg glücklich. „Jetzt gibt’s Haue!“
Hestor fluchte und ging auf den Zwerg los. Sein Langschwert fuhr hernieder, wurde aber abgewehrt. Burtag warf seinen Speer, aber auch der ging fehl. Hestor wurde von dem Zwerg und dem Axtkämpfer in die Zange genommen, als auch noch eine Halbelfe und ein in Leder gekleideter Kerl auftauchten. Die Festung wurde angegriffen!
Schon waren die beiden Neuen bei Burtag, und der Rapier der Elfe sank tief in seine Flanke.
„Ich werde mich an deiner Leiche vergehen, Langohr“, drohte Burtag, und schlug mit seinem Schwert nach ihr. Die Elfe wich aus und stieß ihre Klinge genau in die Öffnung, die Burtags Vorstoß gelassen hatte. Ächzend ging er zu Boden.
Halb gegen die Wand gelehnt sah er, dass Hestor von den Vieren in die Mangel genommen wurde. Hestor sah sich um, aus mehreren Wunden blutend, dann spie er aus.
„Ich werde in der Hölle auf euch warten!“, rief er, und sprang in Richtung des Hebels, der aus der Wand ragte. Der Zwerg ließ ihn gar nicht erst soweit kommen und stieß sein Schwert in Hestors Rücken.
Der Axtkämpfer stand jetzt über Burtag. Er hob seine mächtige Waffe, und Burtags letzter Gedanke galt seinem toten Kameraden. Er hatte Hestor nie gesagt, dass...
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„Der ist hin“, sagte Boras zufrieden.
„Was hat er denn zu mir gesagt?“, wandte sich Anna an Dirim.
„Och“, sagte der, „was man halt so sagt im Kampf.“ Seine Ohren wurden ein wenig rot.
Die Vier begutachteten den Raum, in dem sie standen. Zwei große Ketten kamen aus dem Boden und gingen in die Höhe, bevor sie wieder herunter kamen und mit dem Boden befestigt waren. Der Boden selbst bestand aus Holz und hatte einen handbreiten Spalt zu den Wänden hin.
„Das ist eine Plattform“, sagte Helion erstaunt.
„Nein, mein Junge“, sagte Dirim. „Zwerge bauen keine Plattformen. Das hier ist ein Aufzug.“
Er ging zu dem Hebel in der Wand. „Wollen wir?“
Helion nickte. Anna grinste. Boras nahm die Axt in beide Hände. Dirim zog am Hebel.
Rumpelnd setzte sich die Plattform in Bewegung und begann zu sinken. Trotz der zur Schau gestellten Zuversicht wurde den Gefährten etwas mulmig.
„Halt!“, rief plötzlich eine Stimme von oben. „Nicht so schnell!“