Wir sehen uns um.
Wir stehen inmitten einer zerklüfteten Lavalandschaft, welche von hölzernen Stegen durchzogen ist. Die Stege ermöglichen dem Reisenden, sich hier verhältnismäßig ungehindert fortzubewegen. Die endlose Lavalandschaft erstreckt sich über den gesamten Süden. Im Norden hingegen scheint sich eine dunkle Schlucht zu befinden.
Sollte dies der von uns gesuchte „Schwarze Canyon“ sein?
„Ich frage mich, wo der Zwerg ist“, sinniert Garon, „Also nicht du...“, fügt er mit einem Blick auf Galmor hinzu, welcher empört erwidert: „Ich bin ja auch kein Zwerg!“ Und ich ergänze: „Er sieht nur so aus.“
Garon zieht verwirrt eine Augenbraue hoch „Natürlich bist du ein Zwerg, sieh dich an!“ Doch der Tempuskleriker schüttelt stur den Kopf und deutet auf mich: „Siehst du? Sie ist schlauer als du!“
Evendur und Garon tauschen wissende Blicke aus und Evendur ergreift das Wort: „Lasst uns erst mal in Ruhe rasten und uns wieder beruhigen. Alexanders Wunden sehen bedenklich aus. Und Lily wird uns erst mal ein bisschen was über einen gewissen Grafen und ihr Verhältnis zu ihm erzählen.“
Ich zucke zusammen.
Alexander setzt sich abseits von uns auf einen der zerklüfteten Lavasteine und weigert sich, die von Galmor angebotene Wundversorgung anzunehmen. „Haut einfach alle ab und lasst mich in Ruhe! Ich bin maßlos enttäuscht von fast allen hier. Nur Garon kapiert, was hier Sache ist.“
Diese Bemerkung versetzt mir einen tiefen Stich und ich wende mich von den anderen ab. Evendur kommt mir hinterher. „Ach komm, Lily, du weißt doch wie er sein kann. Der regt sich schon wieder ab. Und was seine plötzliche Zuneigung zu Garon betrifft, so fürchte ich, setzt er auf den falschen Gaul, da Garon sicherlich nicht aus Mitgefühl oder tiefem Verständnis heraus zu meinem Bruder gehalten hat.“
Zusammen bereiten wir ein karges Lager.
Ich mache mich daran Feuerholz zu beschaffen. Das einzige Holz, welches weit und breit zu sehen ist, ist das der Holzplanken, aus denen die Stege durch das zerklüftete, scharfkantige Lavagestein bestehen.
Einige der Bretter lassen sich recht leicht herauslösen und ich schleppe etwa ein Dutzend von ihnen zum Lagerplatz. Galmor zerkleinert sie mit seiner Axt und Evendur entzündet den Haufen mit seiner Zunderbüchse.
„So, Lily, nun lass mal hören“, fordert mich der Kundschafter unvermittelt auf. Ich zucke zusammen und schlucke schwer. „Hm?“, mache ich, doch mein Versuch unbeteiligt und nichtsahnend zu wirken scheitert kläglich.
„Rede schon! Was war das für ein Kerl, der meine Schwester verschleppt hat?“ Garon klingt mühsam beherrscht und die Erinnerung an Elenya schlägt schmerzhaft eine Saite in mir an, die mich reden lässt.
„Was soll ich erzählen?“, frage ich unglücklich.
„Am besten alles“, antwortet Evendur.
„Das ist nicht so einfach...“, beginne ich, als mich der Magier wütend unterbricht: „Hör auf dich herauszureden oder hier einen auf harmlos zu machen. Meine Schwester wurde entführt und du bist daran schuld! Also erzähl jetzt verflucht noch mal alles, was du darüber weißt!“
Ich schlage meinen Blick zu Boden und Tränen steigen mir in die Augen.
„Beruhige dich, Garon, es bringt uns nicht weiter, wenn du Lily so unter Druck setzt“, verteidigt mich Galmor.
„Dann soll sie endlich den Mund aufmachen! Am Ende steckt sie mit diesem Vampirfürsten unter einer Decke.“
Und zu mir gewandt ergänzt er mit einem Blick der Wasser gefrieren lässt „Ich schwöre dir, dass ich dich fertig mache, wenn dies der Fall sein sollte!“
Er explodiert gleich vor Wut, und ich habe Verständnis dafür, aber ich kann nicht reden. ER hört doch zu. Wie kann ich ihnen das begreiflich machen?
„Lily?“, höre ich Evendur durch meinen Gedankenschleier fragen. „Äh, ja...also...das ist nicht so leicht zu erklären. Ich bin da echt in einer schlimmen Position, da ich über diese Kette hier mit dem Grafen verbunden bin, versteht ihr?“
Ich blicke hilfesuchend zu Galmor, der mir ernst zunickt.
„Das ist mir scheißegal, Lily“, zischt Garon wütend.
Ich zucke zusammen, solche ätzende Kälte und Zorn habe ich noch nie bei ihm erlebt. „Mann, er kann hören, was ich euch erzähle...“ ich halte inne und greife mir mit beiden Händen an den Kopf. Da ist sie wieder: SEINE Stimme: “Wie niedlich! Sie schreit: bitte...bitte..., wimmert sie – wie überaus reizend. Ach, könntest du hier bei mir sein und das Zuckerschneckchen sehen! Beinahe wird mein kaltes Herz durch ihr Gnadenflehen erwärmt. Beinahe…” Und ER lacht.
Die anderen streiten sich über etwas – offensichtlich ereifert sich Garon gerade darüber, wie unnütz ich bin und Evendur greift ihn wegen seiner Hochnäsigkeit an.
Galmor versucht zu vermitteln.
Währenddessen schwappt eine Woge aus Emotionen Elenyas über mich herein, von IHM geschickt.
Dazwischen höre ich Galmor etwas sagen: „Jetzt hört auf euch zu zanken, ich denke jeder von uns hat sich gleichermaßen für die Gruppe eingesetzt.“
„Fakt ist dennoch, dass Lily eine Gefahr für uns darstellt, wie sie sich momentan aufführt. Solcherlei Hintergründe muss ein jeder von uns offen legen.“
„Viel interessanter ist meiner Ansicht nach die Frage, warum der Vampirfürst Elenya entführt hat“, unterbricht Evendur die Hasstiraden des Magiers.
Zitternd antworte ich: „Um sie zu quälen und dadurch Macht über mich und nun auch über Garon auszuüben. Er sprach eben zu mir und schickte mir Gefühlsbilder. Vielleicht stimmt es, vielleicht lügt er, denn als Elenya von uns fortgerissen wurde, war ihre Seele nicht in ihr und nun behauptet dieses Monster, dass sie um Gnade fleht. Ich glaube ihm irgendwie nicht ganz.“
Prompt höre ich ihn wieder in meinen Gedanken herumpoltern: „Das solltest du aber, kleine Lily, schließlich kannst du auch nicht das Gegenteil beweisen. Und du weißt, über welche Mächte ich gebiete!“
Ich schließe die Augen und konzentriere mich darauf, ihn abzuweisen.
„Wie hast du ihn getroffen? Wie kam es dazu, dass er nun Dank dieser schicken Kette da solche Macht über dich hat?“, will Evendur wissen.
„Das ist schon einige Jahre her, fünf oder bald sechs Jahre denke ich. Es war Winter, ich hatte kein Geld, ich hatte kein Heim, ich wusste nicht weiter. Ich saß in Arabel, an irgendeine Hausmauer gelehnt und fror. Den Leuten in den örtlichen Tavernen gefielen meine Lieder nicht. Gerade an diesem Tag hatte mich auch der letzte Wirt vor die Tür gejagt, weil ich ihm mit meiner Trauermusik die Gäste vergrault hatte. Ich war schrecklich hungrig. Meine Füße fühlte ich schon lange nicht mehr, meine Finger waren zu taub, um ein Instrument halten zu können. Und dann trat er vor mich hin und sprach mich an, mit samtener Stimme lullte er mich ein, legte seinen warmen Umhang um mich und führte mich fort. In seiner Wohnung war es warm, ich bekam Essen, ein Bett...na ja...“, ich seufze, „versteht ihr nun?“
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So, ob die Gruppe "versteht" oder nicht und wie über Lily gerichtet wird, erfahrt ihr beim nächsten update.
Mutmaßungen können gern gepostet werden